Ein Mann nach Gottes Herzen
Predigt am 29. August 2004 zu Ruth 2,1-3,18 (Predigtreihe zum Buch Ruth II)
2,1 Noomi hatte von ihrem Mann her einen Verwandten namens Boas. Er gehörte zur Sippe Elimelechs und war ein tüchtiger Mann und wohlhabender Grundbesitzer. 2 Eines Tages sagte die Moabiterin Rut zu ihrer Schwiegermutter: »Ich will hinausgehen und Ähren sammeln, die auf dem Feld liegengeblieben sind. Ich finde schon jemand, der freundlich zu mir ist und es mir erlaubt.« »Geh nur, meine Tochter!« sagte Noomi.
3 Rut kam zu einem Feld und sammelte Ähren hinter den Männern und Frauen her, die dort das Getreide schnitten und die Garben banden und wegtrugen. Es traf sich, dass das Feld zum Besitz von Boas gehörte. 4 Im Lauf des Tages kam Boas selbst aus der Stadt zu seinen Leuten heraus. »Gott sei mit euch!« begrüßte er sie, und sie erwiderten: »Der HERR segne dich!«
5 Boas fragte den Mann, der die Aufsicht über die anderen führte: »Wohin gehört diese junge Frau?« 6 Er antwortete: »Es ist eine Moabiterin, die mit Noomi gekommen ist. 7 Sie hat gefragt, ob sie die Ähren auflesen darf, die unsere Leute liegen lassen. Seit dem frühen Morgen ist sie auf den Beinen, jetzt hat sie zum erstenmal eine Pause gemacht und sich in den Schatten gesetzt.« 8 Da wandte sich Boas an Rut und sagte: »Hör auf meinen Rat! Geh nicht auf ein anderes Feld, um dort Ähren zu sammeln. Bleib hier und halte dich zu meinen Knechten und Mägden. 9 Geh hier auf dem Feld hinter ihnen her. Ich habe meinen Leuten befohlen, dich nicht zu hindern. Und wenn du Durst hast, geh zu den Krügen und trink von dem Wasser, das meine Leute sich dort schöpfen.«
10 Rut warf sich vor ihm zu Boden und fragte: »Wie kommt es, dass du so freundlich zu mir bist? Ich bin doch eine Fremde.« 11 Boas antwortete: »Ich weiß, was du seit dem Tod deines Mannes für deine Schwiegermutter getan hast; es wurde mir alles erzählt. Du hast deinen Vater und deine Mutter und deine Heimat verlassen und bist mit ihr zu einem Volk gegangen, das du vorher nicht kanntest. 12 Der HERR vergelte dir, was du getan hast, und belohne dich reich dafür – der Gott Israels, zu dem du gekommen bist, um Schutz zu finden unter seinen Flügeln!«
13 »Du bist so freundlich zu mir!« erwiderte Rut. »Du hast mich getröstet und mir Mut gemacht, obwohl ich noch viel geringer bin als eine deiner Mägde.«
14 Zur Essenszeit sagte Boas zu Rut: »Komm zu uns, iss von dem Brot und tunke es in den Most!« So setzte sie sich zu den Knechten und Mägden, und Boas gab ihr so reichlich geröstete Getreidekörner, dass sie sogar noch davon übrigbehielt. 15 Als sie aufstand, um wieder Ähren zu sammeln, wies er seine Leute an: »Lasst sie auch zwischen den Garben sammeln und treibt sie nicht weg! 16 Lasst absichtlich Ähren aus den Garben fallen, damit sie sie auflesen kann, und sagt ihr kein unfreundliches Wort!«
17 So sammelte Rut bis zum Abend und klopfte dann ihre Ähren aus. Sie hatte etwa 17 Kilo Gerste zusammengebracht. 18 Sie trug alles in die Stadt und brachte es ihrer Schwiegermutter, und sie gab ihr auch, was von den gerösteten Körnern übriggeblieben war. 19 Noomi fragte sie: »Wo hast du heute Ähren gesammelt? Auf wessen Feld bist du gewesen? Gott segne den, der dir das erlaubt hat!« »Der Mann, auf dessen Feld ich heute war«, antwortete Rut, »hieß Boas.«
20 Da sagte Noomi zu ihr: »Der HERR segne ihn! Jetzt sehe ich, dass der HERR uns nicht im Stich gelassen hat, uns Lebende nicht und nicht unsere Toten. Du musst wissen«, fuhr sie fort, »Boas ist mit uns verwandt. Er ist einer von den Lösern, die uns nach dem Gesetz beistehen müssen.« 21 Rut, die Moabiterin, erzählte: »Er hat zu mir gesagt, ich soll mich zu seinen Leuten halten, bis sie die ganze Ernte eingebracht haben.« 22 Noomi sagte: »Es ist gut, meine Tochter, wenn du mit den Leuten von Boas gehst. Auf einem anderen Feld werden sie vielleicht nicht so freundlich zu dir sein.« 23 Während der ganzen Gerstenernte und auch noch der Weizenernte hielt sich Rut zu den Leuten von Boas und las Ähren auf. Als die Ernte vorbei war, blieb sie auch tagsüber bei ihrer Schwiegermutter.
3,1 Eines Tages sagte Noomi zu Rut: »Meine Tochter, ich möchte, dass du wieder einen Mann und eine Heimat bekommst. 2 Du weißt, dass Boas, mit dessen Leuten du auf dem Feld warst, mit uns verwandt ist. Er arbeitet heute abend mit der Worfschaufel auf der Tenne, um die Spreu von der Gerste zu trennen. 3 Bade und salbe dich, zieh deine besten Kleider an und geh zur Tenne. Sieh zu, dass er dich nicht bemerkt, bevor er mit Essen und Trinken fertig ist. 4 Pass gut auf, wo er sich hinlegt, und wenn er schläft, schlüpfe unter seine Decke und lege dich neben ihn. Er wird dir dann schon sagen, was du tun sollst.«
5 »Ich werde alles so machen, wie du gesagt hast«, antwortete Rut. 6 Dann ging sie zur Tenne und verfuhr genau nach den Anweisungen ihrer Schwiegermutter. 7 Als Boas gegessen und getrunken hatte, legte er sich gutgelaunt und zufrieden am Rand des Getreidehaufens schlafen. Leise ging Rut zu ihm hin, schlüpfte unter die Decke und legte sich neben ihn. 8 Um Mitternacht schrak Boas auf und tastete um sich. An ihn geschmiegt lag – eine Frau. 9 »Wer bist du?« fragte er und bekam die Antwort: »Ich bin Rut, deine Sklavin! Breite deinen Gewandsaum über mich und nimm mich zur Frau; du bist doch der Löser!«
10 Boas erwiderte: »Der HERR segne dich! Was du jetzt getan hast, zeigt noch mehr als alles bisher, wie treu du zur Familie deiner Schwiegermutter hältst. Du hättest ja auch den jungen Männern nachlaufen können und jeden bekommen, ob arm oder reich. 11 Nun, meine Tochter, sei unbesorgt! Ich werde tun, worum du mich gebeten hast. Jeder in der Stadt weiß, dass du eine tüchtige Frau bist. 12 Doch da ist noch ein Punkt: Es stimmt zwar, dass ich ein Löser bin und dir helfen muss; aber es gibt noch einen zweiten, der den Vortritt hat, weil er näher verwandt ist als ich. 13 Bleib die Nacht über hier! Morgen früh werde ich ihn vor die Wahl stellen, ob er der Verpflichtung nachkommen will oder nicht. Wenn nicht, werde ich es tun. Das verspreche ich dir, so gewiss der HERR lebt. Bleib jetzt liegen bis zum Morgen!«
14 Rut blieb neben ihm liegen; aber in aller Frühe, noch bevor ein Mensch den andern erkennen konnte, stand sie auf. Denn Boas sagte: »Es darf nicht bekannt werden, dass eine Frau auf der Tenne war.« 15 Dann sagte er noch zu ihr: »Nimm dein Umschlagtuch ab und halte es auf!« Er füllte einen halben Zentner Gerste hinein und hob ihr die Last auf die Schulter. Dann ging er in die Stadt.
16 Als Rut nach Hause kam, fragte ihre Schwiegermutter: »Wie ist es dir ergangen, meine Tochter?« Rut erzählte alles, was Boas für sie getan und zu ihr gesagt hatte. 17 »Und diese ganze Menge Gerste hat er mir mitgegeben«, fügte sie hinzu. »Er sagte: ‚Du darfst nicht mit leeren Händen zu deiner Schwiegermutter kommen.’«
18 Noomi antwortete: »Bleib nun hier, meine Tochter, und warte ab, wie die Sache ausgeht. Der Mann wird nicht ruhen, bis er sie noch heute geordnet hat.«
In diesem mittleren Teil des Buches Ruth lernen wir Boas kennen, und wir sollen verstehen: Boas ist ein Gerechter. Boas ist ein Mann nach dem Herzen Gottes. Und er ist es bei allem, was er tut: bei seiner Arbeit, wenn er feiert, im Bett und – das werden wir im vierten Kapitel hören – vor Gericht. Vielleicht denkt mancher, dass fromme Leute sich von der Welt zurückziehen, nur noch beten und so einen leicht vergeistigten Eindruck machen, als ob sie schon halb abgedreht sind. Aber hier an einem wie Boas merken wir, dass das Quatsch ist. Boas ist einer, der Sachen hinkriegt, und zwar gut. Gott und Gelingen gehören ebenso zusammen wie Gott und Güte. Wo Boas was zu sagen hat, da lebt man gerne. Wenn der was in die Hand nimmt, sagt Noomi am Ende zu Ruth, dann kannst du dich entspannt zurücklehnen und in aller Ruhe abwarten, wie es ausgeht. Boas kriegt es hin.
Bitte überlegen Sie mal einen Augenblick, ob man das über Sie sagen würde. Stellen Sie sich vor, Sie erledigen für jemand anderen etwas Wichtiges. Kann der sich beruhigt zurücklehnen und sagen: kein Problem, der kriegt das hin, die macht das schon richtig? Sind wir Leute, auf die man sich verlassen kann, die nicht launisch sind, die nicht heute so reden aber morgen so handeln, Menschen, die einen geraden Weg gehen und nicht wie ein Blatt im Wind hin und her gepustet werden?
Wenn wir heute auf diese mittleren Kapitel im Buch Ruth hören, dann lasst uns daran denken, dass Gott das von uns möchte, dass wir Gerechte sind, die so souverän, klug und barmherzig handeln wie Boas. Und zwar in jeder Lebenslage. Bei Boas ist das übrigens kein Zufall, dass er so ist. Boas lebt deutlich mit Gott, er lebt mit den Regeln und Gesetzen, die Gott seinem Volk gegeben hat, damit es dort ein gutes Leben gibt. Und diese Beispiele von Gerechten wie Boas, die in der Bibel immer wieder beschrieben werden, die haben die Fähigkeit, unser Herz zu verändern, die wirken auf uns. Und das sollen sie auch. Wenn wir Gerechte sind, dann machen wir es anderen leichter, Gott zu vertrauen.
Was mich an Boas am meisten überzeugt, das ist der Stil, der in seiner Firma herrscht. Als er aufs Feld kommt und den Verantwortlichen fragt, wer denn diese unbekannte Frau ist, da kriegt er sofort eine umfassende und kluge Antwort. Der Mann hat Ruth beobachtet, er hat sich Gedanken gemacht, er hat die richtigen Fragen gestellt, er weiß, worauf es seinem Chef ankommt. Er sagt: die arbeitet und macht nicht dauernd Pause. Und er weiß offensichtlich auch, dass es seinem Chef recht ist, dass Ruth da Ähren auflesen darf.
Das gehört nämlich zu den Regeln, die Gott seinem Volk in den fünf Büchern Mose gegeben hat, dass die Armen auf den Feldern das auflesen dürfen, was nach der Ernte liegen bleibt. Das ist ihr Recht. Es steht ausdrücklich da, dass man nicht noch das letzte Fitzelchen aufklauben soll. Gott sagt: lasst es liegen für die Armen. Es ist genug für alle da. Gott hat dafür gesorgt, dass es solche Lücken und Nischen gibt, damit die Armen da leben können. Die Armen leben bis heute so: sie holen sich die Lebensmittel, die übrig bleiben, wenn der Markt vorbei ist, sie wärmen sich in den U-Bahnschächten und Bahnhofshallen, und Gott sagt: du sollst das nicht alles so rationalisieren und absperren, dass sie gar keine Chance mehr haben.
So holt sich Ruth die Ähren, die bei der Ernte liegenbleiben, und es ist kein entwürdigendes Almosen, denn sie hat ja dafür hart gearbeitet. Und Boas sorgt dafür, dass sie diese Chance bekommt. Er sagt seinen Leuten, dass sie auch mal extra Ähren hinwerfen sollen, damit Ruth genug findet. Und die tun das offensichtlich auch. Nicht nur Boas ist großzügig, anscheinend hat er seinen ganzen Betrieb so mit Barmherzigkeit geprägt, dass die Leute mitziehen. Ruth wird sozusagen in die Belegschaft aufgenommen und darf auch mitessen. Boas sagt ihr ausdrücklich, dass sie erwünscht ist, nicht nur geduldet, weil es nun mal so Vorschrift ist. Später sagt sie, dass er sie »getröstet« hat. Sie ist eine Fremde, sie ist arm und ohne Rechte, und wenn man so dran ist, dass spürt man jede kleine Freundlichkeit doppelt und dreifach. Boas erfüllt Gottes Gesetz nicht nur nach dem Buchstaben, sondern er handelt aus dem Geist, der dahinter steht. Und seine Leute offensichtlich auch.
Dieses biblische Interesse an den Armen ist ja sogar auch in unser Grundgesetz hineingekommen. In § 20 steht dort: »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat«. Wir sind also nicht nur eine Demokratie, sondern genauso ein Sozialstaat, und das bedeutet, dass wir nicht mehr sagen können: jeder ist für sich selbst verantwortlich, was gehen uns die Leute an, die sich nicht selbst versorgen können? Das gehört zu den vielen christlichen Wurzeln im Fundament unserer Gesellschaft, dass wir uns verpflichtet haben, Lebensmöglichkeiten für die Armen zu schaffen. Das sieht heute anders aus als damals das Recht, Ähren aufzulesen. Aber auch für uns ist die Frage: befolgen wir diese Vorschrift widerwillig, sehen wir das als Last an, die uns dummerweise die Väter und Mütter des Grundgesetzes aufgelegt haben, damals in dieser Situation nach dem Zweiten Weltkrieg und nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus? Oder bejahen wir den Geist, der dahinter steht und der ganz deutlich ein biblisches Erbe ist?
Boas jedenfalls will Gottes Willen tun, und er prägt damit auch seinen ganzen Verantwortungsbereich. Wenn er kommt, dann sagt er »Gott sei mit euch« und die Leute antworten »Der Herr segne dich«. Diese kleine alltägliche Geste wird extra erzählt, weil das keine leere Formel war.
Und als Ruth sich wundert, dass er so freundlich zu ihr ist, da wird deutlich, dass er in ihr eine Gleichgesinnte erkannt hat – trotz aller Unterschiede: auch sie hat aus diesem Geist der Solidarität heraus gehandelt, als sie bei ihrer Schwiegermutter blieb. »Du bist zum Gott Israels gekommen« sagt Boas, »und der enttäuscht keinen, der bei ihm Zuflucht sucht.« Diese junge Frau aus Moab hat einen viel kleineren Verantwortungsbereich als Boas, aber er hat verstanden, dass sie in ihrem kleinen Bereich genauso handelt wie er in seinem großen. Und er erkennt das an und beantwortet es, er gibt ihr sozusagen im Namen Gottes eine Antwort.
Das ist eine erste Antwort auf die Frage, wie Gott mit dem Unglück von Menschen umgeht: er schickt ihnen andere Menschen, die barmherzig und gerecht handeln. Das heilt nicht nur die äußeren Schäden, sondern das tut auch dem Herzen gut. Auch wenn man nur davon hört, wie freundlich und sorgfältig Boas für Ruth sorgt, selbst davon wird einem das Herz warm. Aber wenn man das selbst erlebt, dann vergisst man das nicht wieder. Sie müssen nur mal Leute fragen, die nach dem Zweiten Weltkrieg fliehen mussten und hierher gekommen sind nur mit dem, was sie auf dem Leibe trugen. Die können sich noch genau an diejenigen erinnern, die freundlich und barmherzig zu ihnen waren, und nicht gesagt haben: mit dem Pack will ich nichts zu tun haben.
Boas ist die erste Antwort Gottes auf die Not von Ruth und Noomi. Wir können es Menschen leichter machen, Gott zu vertrauen. Je mehr wir in unserem Charakter und in unserer Handlungsweise Gott widerspiegeln, um so leichter haben es Menschen damit, auch in schweren Zeiten nicht den Glauben zu verlieren. Da wo ein Lebensbereich gut geleitet wird – eine Familie oder ein Betrieb oder ein Land, egal, groß oder klein – da spüren Menschen etwas von Gottes Persönlichkeit. Und wir haben für unseren Bereich, den wir beeinflussen können, die Verantwortung, ihn in Gottes Sinn zu verwalten.
Boas war ein Werkzeug Gottes, nicht nur um Noomis und Ruths finanzielle Probleme zu lösen und ihnen wieder ein Zuhause zu geben (obwohl er am Ende beides tat), sondern auch, um in Noomi wieder die Hoffnung zu wecken. Als Noomi hörte, dass Ruth »zufällig« auf dem Feld ihres Verwandten Boas gearbeitet hatte und er so freundlich zu ihr war, da erkannte sie sofort die Hand Gottes. »Jetzt sehe ich, dass der Herr uns nicht im Stich gelassen hat« sagt sie. Und sie fügt hinzu: »die Lebenden nicht und nicht die Toten.« Dieser simple »Zufall«, dass Ruth ausgerechnet bei Boas freundliche Aufnahme gefunden hat, weckt in Noomi eine Hoffnung für Lebende und Tote, eine Hoffnung, die letztlich über die Grenzen dieser Welt hinausreicht. Dieser »Zufall« reicht aus, dass sie nicht mehr von dem »gewaltigen« Gott spricht, der rücksichtslos mit ihr umspringt. Sie schaut weg von ihren zerbrochenen Träumen von einem bescheidenen Leben mit Mann, Kindern und Enkeln und orientiert sich ganz neu an Gottes großem Traum, der sogar weit über die Grenzen dieser Welt hinausreicht.
Aber auch ein gerechter Mann wie Boas braucht manchmal einen Anstoß, um es gut zu machen. Und auch das hängt zusammen mit dem Gesetz Gottes: wenn damals ein Mann kinderlos starb, dann hatte sein Bruder oder ein anderer Verwandter die Pflicht, die Witwe zu heiraten. Das kommt uns heute seltsam vor, aber auf die Weise hatte die Frau wieder ein Zuhause, und die Kinder aus dieser Ehe galten als Kinder des Verstorbenen mit allen Rechten und Pflichten. Dadurch starb seine Familie nicht aus. Derjenige, die diese Pflicht zur Fürsorge hatte, hieß der »Löser«.
Boas war so ein Löser, er war freundlich zu Ruth und half ihr, aber er bot ihr nicht das an, was sie am meisten brauchte, einen Trauring. Was soll Ruth tun? Soll sie ihm etwas vorweinen: Bitte, bitte, Boas, heirate mich doch? Soll sie ihn nerven, bis er am Ende ja sagt, um seine Ruhe zu haben? Soll sie ihm mit Gesetzesvorschriften kommen: Boas, halte dich an die Massstäbe Gottes! Zum Glück gab Noomi ihr einen besseren Rat: alles einzusetzen, was sie als Frau zu bieten hatte, um ihn dazu zu bringen, dass er alles einsetzt, was er zu bieten hat. So soll es sein, dass Männer und Frauen mit dem Besten, was sie haben, einander herausfordern, das Beste zu geben.
Ruth nimmt ein Schaumbad und zieht ein tolles Kleid an, und dann passt sie den richtigen Moment ab. Boas hat mit seinen Leuten das Ende der Ernte gefeiert, sie haben leckere Sachen gegessen, vor allem auch ziemlich viel getrunken, und ich vermute daran liegt es, dass Boas nicht nach Hause geht, sondern gleich an Ort und Stelle einschläft, neben den Kornsäcken. Gegen zwei Uhr morgens wacht er auf und merkt: da ist eine junge, hübsche Frau, sie riecht gut und fragt: »soll ich unter deine Decke kommen?«
Glauben Sie, dass Boas Ruth wollte? Natürlich! Da haben sich schon längst zwei erkannt, die zusammenpassen, aber anscheinend war Boas von dem Altersunterschied zwischen ihnen so beeindruckt gewesen, dass er sich nicht getraut hat, auf Ruth zuzugehen. Und jetzt ist er wieder freundlich, er gibt ihr Geschenke, er macht ihr Zusagen, aber irgendwie ist die ganze Sache noch in der Schwebe.
Können Sie sich vorstellen, was Ruth am nächsten Morgen zu Noomi sagt? »Ich mag Boas, und ich glaube, er mag mich auch, aber warum hält er mich hin? Warum will er, dass keiner merkt, dass ich die Nacht bei ihm war? Er redet irgendwas von rechtlichen Problemen. Ich verstehe das nicht. Will er mich oder will er mich nicht?«
Aber Noomis Vertrauen ist wieder lebendig, ihr Vertrauen in Gott und in den gerechten Boas. Sie hat erkannt, dass Boas wichtige Gründe haben muss, um die ganze Sache noch in der Schwebe zu halten. Da ist noch ein anderer, der als Löser in Frage käme, und mit dem muss er das ganze erst klären. Und so spricht sie Ruth Mut zu: »warte ab, Boas kriegt es hin.«
Und Noomi redet damit auch über Gott, denn Boas war Gottes Beauftragter in ihrer Sache. Und die Frau, die selbst so lange darauf gewartet hat, dass Gott sich ihrer Sache annimmt, die Frau, die sich selbst nur noch »Mara, die Bittere« nennen konnte, sie tröstet jetzt Ruth und sagt: »warte ab, er wird es hinkriegen.« Nicht nur Boas, der Gerechte, wird es hinkriegen, sondern auch Gott, sein Auftraggeber.
Noomi ist dabei, eine wichtige Lektion zu lernen: eine Lektion über Gott selbst. Boas will Ruth, aber da gibt es Umstände, die ihn zwingen, zu warten. Das ist ein Bild für Gott: auch Gott will uns. Gott hat ein großes Verlangen nach uns, es ist nicht so, dass wir ihm hinterherlaufen müssten und ihn bitten: Ach Gott, bitte kümmere dich doch um mich, bitte bitte! Gott selbst will uns und denkt pausenlos darüber nach, wie er mit uns zusammenkommen kann, aber aus Gründen, die wir nicht übersehen, gibt es Zeiten, in denen es nicht voranzugehen scheint. Wie kann man das zusammenbringen: Gottes Liebe zu uns und seine Zurückhaltung, manchmal auch dann, wenn wir ihn am meisten brauchen würden? Das ist die zweite Antwort auf die Frage, wie Gott mit dem Unglück von Menschen umgeht, und davon werden wir noch mehr beim nächsten Mal in zwei Wochen hören.