Verborgene Hoffnung
Predigt am 22. August 2004 zu Ruth 1,1-22 (Predigtreihe zum Buch Ruth I)
1,1 Es war die Zeit, als das Volk Israel noch von Richtern geführt wurde. Weil im Land eine Hungersnot herrschte, verließ ein Mann aus Betlehem im Gebiet von Juda seine Heimatstadt und suchte mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen Zuflucht im Land Moab. 2 Der Mann hieß Elimelech, die Frau Noomi; die Söhne waren Machlon und Kiljon. Die Familie gehörte zur Sippe Efrat, die in Betlehem in Juda lebte.
Während sie im Land Moab waren, 3 starb Elimelech, und Noomi blieb mit ihren beiden Söhnen allein zurück. 4 Die Söhne heirateten zwei moabitische Frauen, Orpa und Rut. Aber zehn Jahre später starben auch Machlon und Kiljon, 5 und ihre Mutter Noomi war nun ganz allein, ohne Mann und ohne Kinder.
6-7 Als sie erfuhr, dass der HERR seinem Volk geholfen hatte und es in Juda wieder zu essen gab, entschloss sie sich, das Land Moab zu verlassen und nach Juda zurückzukehren. Ihre Schwiegertöchter gingen mit. 8 Unterwegs sagte sie zu den beiden: »Kehrt wieder um! Geht zurück, jede ins Haus ihrer Mutter! Der HERR vergelte euch alles Gute, das ihr an den Verstorbenen und an mir getan habt. 9 Er gebe euch wieder einen Mann und lasse euch ein neues Zuhause finden.«
Noomi küsste die beiden zum Abschied. Doch sie weinten 10 und sagten zu ihr: »Wir verlassen dich nicht! Wir gehen mit dir zu deinem Volk.« 11 Noomi wehrte ab: »Kehrt doch um, meine Töchter! Warum wollt ihr mit mir gehen? Habe ich etwa noch Söhne zu erwarten, die eure Männer werden könnten? 12 Geht, meine Töchter, kehrt um! Ich bin zu alt, um noch einmal zu heiraten. Und selbst wenn es möglich wäre und ich es noch heute tun würde und dann Söhne zur Welt brächte – 13 wolltet ihr etwa warten, bis sie groß geworden sind? Wolltet ihr so lange allein bleiben und auf einen Mann warten? Nein, meine Töchter! Ich kann euch nicht zumuten, dass ihr das bittere Schicksal teilt, das der HERR mir bereitet hat.«
14 Da weinten Rut und Orpa noch mehr. Orpa küsste ihre Schwiegermutter und nahm Abschied; aber Rut blieb bei ihr. 15 Noomi redete ihr zu: »Du siehst, deine Schwägerin ist zu ihrem Volk und zu ihrem Gott zurückgegangen. Mach es wie sie, geh ihr nach!« 16 Aber Rut antwortete: »Dränge mich nicht, dich auch zu verlassen. Ich gehe nicht weg von dir! Wohin du gehst, dorthin gehe ich auch; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. 17 Wo du stirbst, will ich auch sterben, und dort will ich begraben werden. Der Zorn des HERRN soll mich treffen, wenn ich nicht Wort halte: Nur der Tod kann mich von dir trennen!«
18 Als Noomi sah, dass Rut so fest entschlossen war, gab sie es auf, sie zur Heimkehr zu überreden. 19 So gingen die beiden miteinander bis nach Betlehem.
Als sie dort ankamen, sprach es sich sofort in der ganzen Stadt herum, und die Frauen riefen: »Ist das nicht Noomi?« 20 »Nennt mich nicht mehr Noomi«, sagte sie, »nennt mich Mara (die Bittere); denn Gott, der Gewaltige, hat mir ein sehr bitteres Schicksal bereitet. 21 Mit meinem Mann und mit zwei Söhnen bin ich von hier weggezogen; arm und ohne Beschützer läßt der HERR mich heimkehren. Warum nennt ihr mich noch Noomi? Der HERR, der Gewaltige, hat sich gegen mich gewandt und mich ins Elend gestürzt.«
22 So war Noomi mit ihrer moabitischen Schwiegertochter Rut wieder nach Betlehem zurückgekehrt. Dort hatte gerade die Gerstenernte begonnen.
Kennen Sie Lebensläufe, wo es immer noch schlimmer kommt? Ich meine nicht diese normalen Sachen, die wir alle eines Tages erleben, dass wir schwer krank werden oder jemanden verlieren, den wir sehr liebgehabt haben. Das passiert eigentlich jedem Menschen irgendwann, außer wenn wir uns überhaupt von allen Menschen ferngehalten haben, und das ist wirklich nicht zu empfehlen. Nein, ich meine, solche Lebenswege, wo es immer noch schlimmer kommt, wo Menschen erst den verlieren und dann den, und dann kommt noch Krankheit dazu und ein Krieg und ein Unfall, und man fragt sich: warum trifft es denn ausgerechnet immer wieder den? Was hat die getan, dass das Unglück immer wieder zu ihr kommt?
So ging es Noomi, oder Noemi oder Naemi, wie andere Übersetzungen sie schreiben. Dieser Name bedeutet ungefähr »die Liebliche«. Aber zeitweilig schien ihr dieser Name völlig unpassend. Denn in ihrem Leben folgte ein Unglück dem anderen. Erst kam die Hungersnot, wohl durch eine Missernte. Aber davon ließen sich Noomi und ihr Mann Elimelech noch nicht mutlos machen, sie zogen ins Nachbarland Moab und fingen da wieder von vorn an. Heute würde man sagen: »Das sind ja Wirtschaftsflüchtlinge« und Otto Schily würde sie vielleicht gerne in ein Lager in Libyen stecken, aber damals verstand man noch, dass Menschen manchmal aus Not ihre Heimat verlassen müssen, weil sie dort kaum noch leben können. Im heidnischen Moab hatte man nichts gegen Ausländer. Und wahrscheinlich gehörten Noomi und Elimelech und ihre beiden Söhne gerade zu den Mutigsten und Aktivsten: sie trauten sich das zu, in einem anderen Land noch mal von vorn anzufangen. Voll Hoffnung versuchten sie den Neuanfang in Moab.
Aber, liebe Freunde, das was Gott meint, wenn er von Hoffnung spricht, ist nicht immer dasselbe, was wir meinen, wenn wir »Hoffnung« sagen. Wir wollen, dass die Dinge besser werden und unsere Pläne in Erfüllung gehen. Und wenn wir hart arbeiten und dabei bleiben, tun sie es auch oft. Aber manchmal scheint Gott hart daran zu arbeiten, uns unsere Hoffnung immer wieder kaputtzumachen. Und darum geht es in der Geschichte von Noomi.
In Moab verliert sie den Mann, den Vater ihrer Kinder. Das ist die zweite Katastrophe, noch schlimmer als die Hungersnot. Auf ihn und seine Tüchtigkeit haben sie sich doch verlassen, als sie nach Moab gezogen sind. Und jetzt ist er nicht mehr da. Wie soll es weitergehen?
Aber die Familie lässt sich nicht unterkriegen. Jetzt müssen eben die Söhne die Verantwortung übernehmen. Viel zu früh wahrscheinlich, aber es geht nicht anders. Sie lernen zwei nette einheimische Mädchen kennen und heiraten sie. Vielleicht dachte Noomi, wie wir alle es tun: wenn es nicht noch schlimmer kommt, dann schaffen wir es doch noch. Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt irgendwo ein Lichtlein her. Aber dann, als ob es immer noch nicht genug wäre, kommt die nächste Katastrophe: auch die beiden Söhne sterben. Vielleicht war es eine ansteckende Krankheit, wir wissen es nicht. Erst die Heimat verlieren, dann den Mann, dann die beiden Kinder, und alles nacheinander. Können Sie verstehen, dass Noomi am Ende sagte: nennt mich nicht »Noomi«, die Liebliche, sondern »Mara«, die Bittere? Wie kann ein Mensch so etwas aushalten?
Überlegen Sie mal: wenn Sie einen guten Freund haben, dem so etwas passiert, würden Sie nicht alles tun, um ihm das zu ersparen? Natürlich würden Sie es! Aber Gott, der doch immer wieder davon spricht, dass er der Freund der Menschen ist, ausgerechnet Gott erspart das manchen Menschen nicht. Und zum Glück ist die Bibel so realistisch, dass sie das nicht schönredet oder verschweigt. Aber warum ist Gott so? Was denkt er sich dabei?
Die Geschichte von Noomi ist aufgeschrieben worden, um diese Frage zu beantworten: warum zerschlägt Gott manchmal unsere Hoffnungen und Träume, warum lässt er es zu, dass Menschen einen Schmerz nach dem anderen erleben, warum lässt er manchmal alles immer noch schlimmer kommen? Ich will schon mal die Antwort andeuten, damit Sie wissen, wo es ungefähr hingehen soll: Am Ende der Geschichte hat Noomi eine bessere Hoffnung, obwohl sie die Wunden, die sie empfangen hat, ein Leben lang spüren wird. Sie verlor die Art von Hoffnung, die wir alle gern behalten würden, und sie bekam dafür eine größere und bessere Hoffnung, die sie vorher nicht hätte verstehen können. Niemand wünscht sich das, aber das ist manchmal der Weg, wie Gott in uns eine Tür öffnet, durch die wir anders nicht gehen würden.
Noomi jedenfalls wusste, dass Gott in ihrer Geschichte mit drin war. Und mindestens in diesem ersten Kapitel macht ihr das die Sache schwerer anstatt leichter. Sie sagt: »ein bitteres Schicksal hat mir der Herr bereitet«. Zweimal sagt sie das, und sie sagt: »Gott hat mich ins Elend gestürzt«. Sie nennt Gott den »Gewaltigen«, also den, der kein Freund ist, sondern einfach über sie verfügt.
Ja, Gott ist mit drin in der Geschichte! Aber was bedeutet das? Noomi versteht es nicht. Wenn man mittendrin steckt, kann man so etwas nicht verstehen. Wir, die wir schon die ganze Geschichte lesen können, wir können sehen, dass schon in diesem ersten Kapitel die Mauer aus Unglück, die Noomi umgibt, die ersten feinen Risse bekommt. Da ist diese junge moabitische Frau, Ruth, die offensichtlich nicht bereit ist, das zu tun, was jeder ihr raten würde, nämlich ihre angeheiratete Schwiegermutter zu verlassen und nach Hause zu ihrer Familie zu gehen. Da hätte sie am ehesten die Chance, noch einmal einen Mann zu finden und ihr Leben doch noch in normale Bahnen zu lenken. Stattdessen macht sie ganz deutlich: du kannst tun was du willst, ich werde bei dir bleiben. Nur der Tod kann mich von dir trennen.
Wie kommt Ruth dazu, sich so an ihre Schwiegermutter zu binden? Man kann es nicht wirklich erklären. Es sieht schon so aus, als ob die beiden wirklich gut miteinander ausgekommen sind und großes Vertrauen zueinander hatten. Aber ausdrücklich steht das da nicht. Und Ruth gibt auch keinen Grund an. Sie sagt einfach: ich bleibe bei dir. Das ist beschlossen. Punkt.
Also, wir lernen von Ruth: wenn das Unglück Menschen trifft und es anscheinend keine Lösung gibt, was soll man dann tun? Ganz einfach: dabeibleiben und festhalten. Das ist unsere Waffe gegen das Unglück. Nein, Waffe ist ein viel zu starkes Wort. Es ist einfach die richtige menschliche Antwort auf das Unglück: dabeibleiben, nicht im Stich lassen, nicht weglaufen, treu bleiben, solidarisch sein, gemeinsam aushalten. Das macht Ruth. So haben es viele andere gemacht. Und so wird es viel später noch jemand tun, der auch aus Bethlehem kommt und sogar ein später Nachkomme dieser Moabiterin Ruth ist, nämlich Jesus. Der Weg Jesu war ein Weg der Treue zu den Menschen. Jesus sagt so wie Ruth: ich werde bei dir sein, ich werde dich nicht verlassen, ich laufe nicht weg, ich bleibe dir treu, egal, was es mich kostet. Jesus war so entschlossen, die Menschen zu lieben und ihr Los zu teilen, dass er das Kreuz auf sich nahm, die schlimmste Todesart, die für Menschen erdacht worden ist. Ruth nimmt freiwillig Noomis Los auf sich und Jesus nimmt freiwillig das schlimmste Los der Menschen auf sich, und das ist die richtige Antwort auf Unglück und Schmerz. Das ist die Antwort, die die Verheißung Gottes hat.
Gott ist also nicht nur so drin in der Geschichte, wie es Noomi erscheint, nämlich als der Gewaltige, der die Lebenswege der Menschen scheinbar sinnlos durcheinanderwirbelt. Sondern auch seine Treue und sein Festhalten an den Menschen ist schon mit drin in der Geschichte. Denn die spiegelt sich schon in der Treue Ruths. Und Ruth sagt ja nicht nur: dein Los soll mein Los sein, sondern sie sagt auch ausdrücklich: dein Gott soll mein Gott sein. Anscheinend hat Noomi ihr etwas von dem Gott Israels vermittelt, und es ist nicht nur die Freundschaft mit ihrer Schwiegermutter, die sie bleiben lässt, sondern es ist auch dieser Gott, von dem sie etwas erwartet. Sie hat etwas geahnt, gespürt, verstanden, dass da etwas ganz Großes auf sie wartet, etwas, wofür man alles andere zurücklassen kann. Etwas Unvergleichliches, das durch nichts anders zu ersetzen ist.
Noomi konnte sich für ihre Schwiegertöchter nichts Besseres vorstellen als das Glück, das wir uns alle wünschen: eine nette Familie; Gesundheit, einen bescheidenen Wohlstand; ein schönes Haus; Kinder, aus denen etwas wird. Lauter gute Dinge, und wir alle möchten am Ende unseres Lebens darauf zurückschauen können.
Ruth aber spürte, dass es noch mehr geben musste. Ihre Träume hatten etwas mit Beziehungen zu tun, mit Tugenden wie Treue und Beständigkeit, und mit dem Gott ihrer Schwiegermutter.
Auch wenn Noomi es wahrscheinlich nicht wusste, es gab an ihr etwas, was den Gott Israels widerspiegelte, so etwas wie eine Prägung, ein Siegel. Man erkennt es z.B. daran, wie Noomi sich auch im Unglück nicht an die beiden Schwiegertöchter klammert, sondern bereit ist, sie freizugeben. Der Gott Israels, der Gott Jesu ist der Gott der Freiheit, und das spiegelt sich auch in seinen Leuten. Ruth hatte diese Spur aufgenommen, sie erkannte etwas von Gottes Persönlichkeit, und die war ihr wichtiger als all die guten Dinge, die er ja auch gibt.
Es gibt Menschen, die sich einfach zu Gott hingezogen fühlen, nicht, weil er große Geschenke macht, sondern weil er so ist, wie er ist. Es gibt Menschen, die glauben oder ahnen, dass die Freude, Gott zu kennen, herrlicher und größer ist als alles andere. Das ist das lebendige Wasser, von dem Jesus und die Propheten sprechen. Aber wenn in unserem Leben die einfacheren Träume immer wahr werden, dann fällt es uns schwer, die größeren Träume zu träumen. Damit wir das können, entzieht uns Gott manchmal die guten Dinge, die wir uns so sehr wünschen, und das ist mit Schmerz verbunden. Wir werden deshalb das wahre Leben oft dadurch erkennen und lieb gewinnen, dass wir Schmerz spüren oder auch Mitleid.
Nur um es klarzustellen: Schmerz als solcher ist nichts Gutes, und es ist pervers, ihn sich oder anderen zu wünschen. Aber Gott öffnet manchmal in unseren Problemen und Schmerzen eine Tür in unserem Herzen, weil wir ihn anders nicht hören würden. Wenn es soweit ist, dann sollen wir es geschehen lassen und nicht versuchen, es mit frommen Floskeln zu überdecken. Denn wir können dann in uns die Sehnsucht nach dem wahren und echten Leben entdecken.
Noomi tat den ersten Schritt, als sie ihren Schmerz nicht verleugnete, sondern in Bethlehem dazu stand. Sie konnte nicht von Segnungen Gottes erzählen, sondern sie mutete den anderen Frauen zu, in ihr zerbrochenes Herz voll Bitterkeit zu schauen und das auszuhalten.
Wir sind ja manchmal ungeduldige Leute. Wir wollen die Geschichten immer gleich mit Happy-end hören. Aber was Noomi erzählte, das war keine handliche Geschichte nach der Art: natürlich gab es auch Probleme, aber Gott hatte immer alles perfekt im Griff, und ich hab’s auch ganz gut gemacht. Noomi mutete den anderen eine unabgeschlossene Geschichte zu, die auch nach vielen Gebeten immer noch erbärmlich elend klang. Aber wo die wahre Geschichte nicht erzählt wird, da wird man nie die Kraft Gottes spüren. Und wir spüren dann auch nicht die Sehnsucht nach Gott, die sich hinter unseren ganzen kleineren Wünschen verbirgt.
Das erste Kapitel des Buches Ruth endet mit dem Satz: »In Bethlehem hatte gerade die Gerstenernte begonnen«. Die Zeit der Hungersnot geht einmal zu Ende, und Gott ist immer noch drin in der Geschichte. Am Horizont beginnt es langsam hell zu werden.
Nächste Woche geht es weiter mit Ruth und Noomi (Kap. 2 + 3).