Der Zauber des neuen Morgens
Predigt am 5. Mai 2013 zu Römer 13,8-14 (Predigtreihe Römerbrief 40)
8 Bleibt niemand etwas schuldig! Was ihr einander jedoch immer schuldet, ist Liebe. Denn wer den anderen liebt, hat damit das Gesetz erfüllt. 9 Wenn nämlich das Gesetz sagt: »Du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst keinen Mord begehen, du sollst nicht stehlen, du sollst der Begierde keinen Raum geben!«, dann sind diese und alle anderen Gebote in dem einen Wort zusammengefasst: »Liebe deine Nächsten wie dich selbst!« 10 Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses an. Darum ist die Liebe die Erfüllung des Gesetzes.
11 Bedenkt die gegenwärtige Zeit: Die Stunde ist gekommen, aufzustehen vom Schlaf. Denn jetzt ist das Heil uns näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. 12 Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe. Darum lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts. 13 Lasst uns ehrenhaft leben wie am Tag, ohne maßloses Essen und Trinken, ohne Unzucht und Ausschweifung, ohne Streit und Eifersucht. 14 Legt (als neues Gewand) den Herrn Jesus Christus an und hätschelt nicht eure alte selbstsüchtige Natur, damit die Gier keine Macht über euch gewinnt.
Als wir neulich Konfirmation hatten, da erzählte eine Konfirmandin morgens vor dem Gottesdienst, dass sie vor lauter Aufregung schon um 5 Uhr morgens aufgewacht wäre und nicht wieder einschlafen konnte. Oder, es ist schon etwas länger her, da hörte ich eine Geschichte davon, wie ein kleiner Junge am ersten Schultag auch schon ähnlich früh aufgestanden ist, sich angezogen und vorsichtshalber noch mal seine Schultasche ausprobiert hat.
Menschen voller Erwartung
Wahrscheinlich kennen Sie auch solche Geschichten von sich selbst und anderen, wie man erwartungsvoll aufwacht und an Schlaf nicht mehr zu denken ist, weil heute noch etwas ganz Tolles passiert.
Auch ohne solche Anlässe ist der Morgen übrigens eine herrliche Zeit, wenn jetzt im Frühling endlich die ersten Vögel anfangen zu singen, die Luft sich frisch und belebend anfühlt und sich am Horizont der erste Lichtschimmer zeigt.
Das sind die Bilder, wie Paulus sie vor unserem inneren Auge aufrufen möchte: Bilder von erwartungsvollen Menschen, die früh aufwachen, weil sie es nicht abwarten können, zu sehen, wie die Welt erneuert wird und endlich die Finsternis und die Kälte verschwinden.
Der Tag, den Paulus heraufdämmern sieht, das ist die neue Welt, in der es Menschen leicht fällt, gut zu sein. Der Tag Jesu Christi, der mit seiner Auferstehung begonnen hat. Da ist die neue Menschheit geboren worden, die auf der Basis von Liebe miteinander lebt. Paulus bringt das beides eng zusammen, das erste Licht der neuen Menschheit und die Liebe.
Liebe – das erste Licht der neuen Menschheit
Liebe ist in der Bibel nicht ein warmes Gefühl oder eine sentimentale Stimmung. Liebe ist ganz eng angekoppelt an die Art, in der Jesus gelebt hat. Und in diesem Leben Jesu spiegelt sich Gott wider. Es war damals nicht selbstverständlich, dass gerade Liebe ein zentraler Wert sein sollte. Für uns sind das vertraute Gedanken, weil Leute wie Paulus das durchdacht und verbreitet haben, dass Gott Liebe ist und dass Liebe das Wichtigste und Zentrale ist. Damals war das neu und eher unbekannt.
Bei den Juden gab es das Gesetz mit seinen Regeln und Geboten; bei den Griechen und Römern gab es auch »Werte«, aber die bewunderten vor allem Menschen, die große Taten vollbrachten und Ruhm errangen. Tapferkeit war dann so ein Wert, oder auch die Fähigkeit, in schwierigen Zeiten nicht die Gelassenheit zu verlieren. Und auch die Götter, so dachte man, würden das schätzen.
Die Christen haben in Auslegung des Lebens Jesu dann gesagt: das zentrale Charaktermerkmal Gottes ist Liebe, ganz besonders die Liebe zu denen, die sie nicht zurückgeben können. Und diese Liebe soll auch Menschen bewegen. Es ist eine offensive Liebe: sie beschränkt sich nicht darauf, zu sagen, was verboten ist. Sie reagiert nicht nur, sondern sie ergreift die Initiative und gestaltet die Welt. Und die Gebote des jüdischen Gesetzes und auch die meisten Ideale der Heiden sind da sowieso mit eingeschlossen. Wenn man in der Welt Liebe verbreitet, dann ist es ja eine Grundvoraussetzung, dass man andere Menschen nicht angreift, ihnen nicht den Besitz oder den Partner entwendet und es gehört auch mindestens dazu, dass man nicht von Gier getrieben wird und die Welt als Beute ansieht, als einen großen Kuchen, der nur für mich da ist und von dem ich mir ein so großes Stück wie irgend möglich abschneide und in mich hinein stopfe.
Das Geheimnis hinter allen sinnvollen Werten
Deswegen steht da am Anfang so eine merkwürdige Formulierung: bleibt niemanden etwas schuldig außer der Liebe. Gemeint ist: es gibt viele sinnvolle Lebensregeln und Vorschriften, an die man sich halten soll und kann, und die meisten von uns tun das auch ganz selbstverständlich. Aber darüber hinaus gibt es die Liebe, die sich nicht in Vorschriften erschöpft, weil sie neue Wege geht, wo noch nie ein Mensch zuvor gewesen ist. Liebe ist kreativ, sie denkt sich Neues aus, was vorher noch keiner gemacht hat, Liebe sieht Chancen, die noch kein anderer gesehen hat. Sie arbeitet mit einer Wortnuance, mit einem Blick, aber sie gründet auch Organisationen und erfindet neue Berufe, sie lässt uns die Welt anders sehen – wie willst du das alles in Vorschriften gießen?
Deswegen erfüllt Liebe alle sinnvollen Vorschriften, sie umfasst alle sinnvollen menschlichen Ideale, aber sie macht das sozusagen mit links, als Aufwärmübung, sie geht eigentlich weit darüber hinaus, sie fängt eigentlich erst da richtig an, wo die Vorschriften längst aufgehört haben.
Liebe ist das Geheimnis hinter allen sinnvollen menschlichen Werten, aber sie ist viel größer als irgendwelche Werte: sie ist das Grundgesetz der neuen Menschheit, die mit Jesus begonnen hat. Und die Menschen, die sich zu dieser Jesusbewegung zählen, die sind voller Erwartung, weil sie das Neue kennen, das da heraufzieht. Sie sehen am Horizont das erste Licht des neuen Tages, es ist wunderschön, und sie freuen sich darauf, was dieser Tag noch alles bringen wird. Denkt dran, sagt Paulus, ihr wart schon begeistert von diesem Aufbruch Gottes, als ihr das Evangelium zum ersten Mal gehört habt, und inzwischen ist Gottes Bewegung schon wieder weitergegangen.
Ein neues Deutungsmuster
Wir denken sonst immer nach dem ja damals!-Schema, so nostalgisch: Ja, damals, als noch alles so neu war: gleich nach der Hochzeit, gleich nach der Gründung, gleich nach dem Aufbruch, da herrschte noch Begeisterung, da war noch alles offen, aber dann ist die Ernüchterung eingekehrt. Dann wurde alles Routine und vielleicht sogar Zwang. Paulus wechselt dieses Schema aus und sagt: seht es andersherum – da ist in Wirklichkeit etwas vorangekommen und gewachsen. Aus ein paar unbeständigen Gefühlen ist eine neue Familie geworden, und alle Beteiligten sind reich an Erfahrungen. Aus einer vagen Geschäftsidee ist eine richtige Firma geworden. Aus erster Begeisterung ist ein neuer Weg geworden, auf dem jetzt viele gehen.
Und wendet man diese Umkehr auf die Jesusbewegung an, dann bedeutet das: aus Jesus und seinen paar Jüngern ist eine weltweite Bewegung geworden, sie hat inzwischen fast alle Völker erreicht, sie hat neue Ideale und Gedanken unter die Menschen gebracht (nicht zuletzt die Liebe) und die Welt in unglaublicher Weise bewegt.
Hoffnung macht munter
Das sagt dieses Bild vom Anbruch des neuen Tages und von denen, die früh aufstehen, weil sie es gar nicht erwarten können. Und Paulus rüttelt sie sozusagen wach und erinnert sie: ihr gehört doch nicht zu denen, die morgens noch halb betäubt in die Küche wanken und mit verklebten Augen nach der Kaffeemaschine suchen, weil sie sonst ihr morgendliches Koma nicht überwinden. Gut, wenn man keine andere Erwartung hat als einen neuen Tag voll mürrischer Chefs, nervender Kollegen, schreiender Kinder, unerquicklicher Behördengänge und flacher Unterhaltung, dann kommt man vielleicht morgens nicht anders in Gang als mit einer kräftigen Dosis Koffein.
Aber ihr, erinnert euch, in eurem Tag ist Jesus Christus drin mit seiner großen Bewegung, um die Welt bis zum Rand mit der Liebe Gottes zu füllen. Ihr lebt mit der Erwartung, dass Gott hineinkommt in euren Tag, dass er euch Segen, Sinn und Erfüllung gibt, dass sein Weg durch die Welt Tag für Tag auch durch euer Leben verläuft. Ihr seid die Menschen des Tages, und deshalb könnt ihr erwarten, dass Gott durch euch Liebe und Licht verbreitet.
Paulus arbeitet mit diesem Gegensatz von Tag und Nacht, um zu unterscheiden zwischen einem Leben mit Hoffnung und Erwartung und einem Leben, das in allen möglichen kaputten Beschäftigungen versumpft. Wer in seinem Leben keine Hoffnung und keine Freude drin hat, der möchte am Ende des Tages noch irgendwoher etwas Energie herbekommen, irgendetwas haben, was ihm das Gefühl von Befriedigung und Leben verschafft. Und die einen plündern dann den Kühlschrank, die anderen durchwühlen das Internet, wieder andere ziehen durch die Kneipen und versuchen, noch schnell jemanden abzuschleppen, damit der Tag nicht so leer bleibt.
Aber Gott ist nicht Mangel, sondern Fülle, und wir sollen lernen, aus der Fülle Gottes zu leben. Die Liebe ist die Fülle Gottes, die in seine Welt hineinströmt, und wenn wir an dieser Fülle Anteil haben, dann ist das Leben voller Erwartung und Liebe und Licht, wir müssen uns unsere Energie dann nicht aus trüben Quellen holen, sondern haben genug, um sie mit vielen anderen zu teilen.
Echte Veränderung betrifft die Sicht auf die Welt
Echte Veränderung geschieht nicht da, wo Menschen sich irgendwelchen Vorschriften und Appellen beugen (obwohl die auch manchmal ganz sinnvoll sein können). Die eigentlichen Verschiebungen passieren, wo Menschen ihre Denkmuster auswechseln, die ihr Leben gestalten; wo die Bilder ausgetauscht werden, in denen sie ihr Leben sehen:
Nicht mehr aus dem Bewusstsein des Mangels leben, sondern mit der Erwartung der Fülle. Nicht in der Auseinandersetzung mit Vorschriften, die andere einem aufdrücken, sondern im Bewusstsein, dass ich in der Kraft Jesu die Welt gestalten kann. Aufstehen mit der Erwartung der Konfirmandin, die ihr großer Tag nicht schlafen lässt – und nicht mit dem Gefühl: schon wieder einer von diesen schrecklichen Montagen, von denen ich nicht weiß, wie ich sie überleben soll. Das sollte sich doch inzwischen herumgesprochen haben, dass für unser Lebensglück unsere Gedanken, unsere Lebenssicht und unsere Erwartungen viel entscheidender sind als die äußere Lage oder gar der Stand des Bankkontos.
Paulus erinnert seine Leute daran, was sie eigentlich schon längst wissen – aber manchmal muss man daran erinnert werden. Manchmal muss einer kommen und uns sagen: es ist ein herrlicher Morgen, und die Vögel singen schon. Gott will dir den Tag vollpacken mit guten Dingen. Er gibt dir genug, um es mit anderen zu teilen und Liebe zu verbreiten. Er geht seinen Weg durch die Welt auch in deinem Leben. Übersehe ihn nicht!
Danke für die Predigt.
Ich habe sie als Steinbruch genutzt.