Wie »Salz der Erde« konkret aussieht
Predigt am 17. Januar 2010 zu Römer 12,9-21
Wir haben in der Lesung (Matthäus 5,13-16) gehört, wie Jesus seine Nachfolger »Salz der Erde« und »Licht der Welt« nennt. So wie ein bisschen Salz schon das ganze Esserlebnis verändert, so verändert die kleine Gruppe der Jünger Jesu das Lebensgefühl einer Gesellschaft. Es gibt einen begrenzten Bereich, in dem anders gelebt wird, und das hat Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft. Wenn es eine Alternative gibt, dann kann niemand mehr einfach weitermachen wie vorher.
Und ich predige heute über einen Abschnitt aus dem Römerbrief, wo Paulus beschreibt, wie es in der Gemeinschaft der Jünger Jesu zugehen soll, damit der Ausstrahlungseffekt funktioniert. Wenn ich den jetzt vorlese, achten Sie vielleicht mal besonders auf zwei Dinge: einmal, wie es am Anfang und am Ende des Abschnitts ausdrücklich um Gut und Böse geht – das ist also das Thema des Abschnitts: wie lebt man als Nachfolger Jesu in einer Welt, in der das Böse so präsent ist? Und zweitens schauen Sie mal, wie es keine scharfe Trennung gibt zwischen der Beschreibung des inneren Lebens in der Gemeinde und den Anweisungen für »Draußen«. Das steht nebeneinander und geht ineinander über – was unter den Nachfolgern Jesu Praxis ist, das ist eine Grundhaltung, die man auch nach draußen behält.
9 Die Liebe sei ohne Falsch. Hasst das Böse, hängt dem Guten an. 10 Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor. 11 Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brennend im Geist. Dient dem Herrn. 12 Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet. 13 Nehmt euch der Nöte der Heiligen an. Übt Gastfreundschaft. 14 Segnet, die euch verfolgen; segnet, und flucht nicht. 15 Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden. 16 Seid eines Sinnes untereinander. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch herunter zu den geringen. Haltet euch nicht selbst für klug. 17 Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. 18 Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. 19 Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5. Mose 32,35): »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.« 20 Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen; dürstet ihn, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25,21-22). 21 Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.
»Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.« – das ist das Prinzip, nach dem christliches Leben funktioniert. Und deshalb nehmen hier die Anweisungen zum Umgang mit Bosheit so einen breiten Raum ein. Für Paulus ist das eine Selbstverständlichkeit, dass in der Welt ein Haufen Menschen herumläuft, die mit ziemlicher Energie anderen Schaden zufügen. Ob sie das mit Absicht tun, ist dabei eine zweitrangige Frage. Das sind natürlich oft arme Menschen, die nichts Besseres kennen, aber das vermindert nicht den Schaden, den sie anrichten.
Zum Glück sind längst nicht alle Menschen so, und sie sind nicht immer so, aber es gibt sie: den Chef, mit dem zusammenzuarbeiten krank macht. Eltern, die ihre Kinder systematisch kaputtmachen. Es gibt Intriganten, um die herum immer nutzloser Ärger und überflüssige Konflikte entstehen. Es gibt die kleinen Angestellten auf den Ämtern, die ihr bisschen Macht nutzen, um andere zu schikanieren. Es gibt Betrüger, die hilflose Menschen über den Tisch ziehen. Es gibt Menschen, die die Umwelt vergiften und daran verdienen. Es gibt Leute, die ihren Spaß daran haben, andere per Telefon in Angst und Schrecken zu versetzen. Es gibt Menschen, die mit ihrer Meckerei überall die Atmosphäre vergiften. Es gibt Leute, die es lustig finden, wenn andere Probleme haben. Es gibt noch viele andere. Bosheit beschränkt sich nicht auf Kinderschänder und Serienmörder. Und es hat keinen Zweck, davor die Augen zu verschließen. Das Böse muss beim Namen genannt werden.
Aber hier sagt Paulus: die richtige Antwort auf das Böse in der Welt besteht in einem Raum des Guten, in dem es anders zugeht. Alles andere stärkt nur das Böse. Wenn du versuchst, in irgendeiner Weise zu vergelten, dich zu rächen, oder irgendwie sonst dein Handeln mit dem bösen Verhalten anderer zu begründen, dann setzt sich dies Böse in dir fort. Es ist sogar die bevorzugte Strategie des Bösen, sich in seinen Opfern fortzusetzen.
Ich habe mal eine Untersuchung gelesen, wo Schüler aus der Grundschule gefragt wurden, wie sich die Großen gegenüber ihnen benehmen. Und dann haben sie erzählt, dass die Älteren oft gemein sind und sie schubsen oder ihnen Sachen wegnehmen, und sie fanden das ziemlich mies. Und dann hat man die älteren Schüler gefragt, und die haben bestätigt, dass sie das tun, aber die fanden das gut, und als Begründung hieß es dann oft sinngemäß: mit uns hat man das doch früher auch gemacht! Und so geht das von einer Generation zur nächsten weiter. Wer geschlagen wurde, schlägt irgendwann andere; Menschen, die lange unterdrückt werden, unterdrücken dann manchmal Schwächere wie Frauen und Kinder; wer selbst nicht viel Mitgefühl erlebt hat, sieht nicht ein, warum er sich über andere Gedanken machen soll.
Und Paulus sagt: die wichtigste Regel ist es, diesen Kreislauf zu unterbrechen. Die Menschen glauben ja meist, dass sie gar keine Alternative dazu haben: der andere war so gemein zu mir, da kann ich doch gar nicht anders, als selbst auch wieder gemein zu sein, zu ihm oder zu anderen!
Aber es gibt auch eine andere Antwort auf Bosheit und Gemeinheit: und das ist dieser Raum, der im Namen Jesu geöffnet wird. Eine sichere Zone, in der man nicht befürchten muss, von anderen ausgenutzt oder runtergemacht zu werden. Mehr noch, eine Zone, in der Menschen ihre Würde deutlich erfahren, und wo Vertrautheit und Herzlichkeit herrschen. Da werden Menschen so stabilisiert, dass sie tatsächlich auch die segnen können, von denen sie Bosheit erfahren haben. Es geht gar nicht so sehr um einzelne Menschen, die freundlich und gut sind. Die gibt es zum Glück fast überall, und nur durch sie bleibt das Leben überhaupt erträglich. Aber hier geht es um einen Raum aus vielen Menschen, der als ganzer von dieser positiven Grundhaltung geprägt ist, und dadurch werden dann auch diejenigen freundlich und hoffnungsvoll, die von Haus aus da kein so großes Potential mitbringen.
Wir verstehen solche Anweisungen immer schnell individuell, als Regel: so musst du dich verhalten! Du musst Gutes tun, du musst verzeihen, usw. Und dann sagen Menschen zu Recht: das kann ich nicht! Da bin ich überfordert! Aber es ist kein Zufall, dass diese Anweisungen in der Bibel sich fast nie an einen einzelnen richten, sondern immer an eine Mehrzahl. Nur wenn es eine Gemeinschaft gibt, die das lebt, dann werden auch die Einzelnen so stark, dass sie überall Hoffnung und Tatkraft und Freundlichkeit ausstrahlen können. Denen das von Haus aus leicht fällt, die werden dann noch wirksamer, und denen das nicht so in die Wiege gelegt ist, die schaffen es mit Hilfe dieser Gemeinschaft, ganz neue Verhaltensweisen zu entwickeln. Und am Ende sind Menschen so verankert in diesen neuen Mustern, dass sie die auch dann anwenden können, wenn sie angegriffen oder ungerecht behandelt werden.
Das heißt nicht, dass man dem Bösen nicht effektiv entgegentreten sollte. Natürlich muss man Bosheit auch äußerlich begrenzen, wo man die Möglichkeit dazu hat; aber wir können das um so besser, je freier wir davon sind. Wenn das Böse bei uns keinen Fuß mehr in der Tür hat, wenn wir nicht mehr in Versuchung sind, aus Rache oder Verbitterung oder Eigennutz zu handeln, dann können wir ihm auch äußerlich besonders gut Grenzen setzen.
Jesus hat eine Gemeinschaft geschaffen, in der sich die Freude Gottes widerspiegelt, seine Liebe und Begeisterung, mit der er schon die Welt geschaffen hat. Für diesen Lebensstil ist die Welt vorgesehen. Nur mit diesem Lebensstil funktioniert sie gut. Und wenn es dieses Modell gibt und Menschen sehen können, wie das funktioniert, dann gibt es normalerweise ein Aha-Erlebnis und sie merken: ach so, so kann man das auch machen! Warum bin ich da nicht selbst drauf gekommen?
Man könnte das Ganze natürlich auch in ein Wort wie Liebe zusammenfassen – eine Gemeinschaft voller Liebe. Das ist nicht falsch. Aber das wäre ja nur ein Begriff. Und wir denken weniger in abstrakten Begriffen, sondern mehr in Bildern und Erfahrungen. Deshalb zeichnet Paulus hier ein Bild aus lauter Einzelheiten. Er versucht seine Erfahrungen so in Worte zu verpacken, dass wir uns wenigstens ungefähr vorstellen können, wie so eine Gemeinschaft aussieht. Im griechischen Urtext sind das auch keine Imperative, da steht nicht die Befehlsform, sondern es ist eher ein beschreibender Stil, so nach dem Motto: so ist das doch bei euch, und macht das schön weiter so. In der deutschen Übersetzung kann man das nur ganz schwer wiedergeben. Paulus zeichnet ein Bild und erwartet, dass es seine Leser beeinflusst und dass sie darin das erkennen, was für sie schön längst gilt, aber jetzt vertieft es sich noch mal.
Er sagt: die Liebe sei ohne Falsch, ungeheuchelt. Nicht so eine nette Fassade, aber wehe, wenn es mal ernst wird, dann zeigt sich die dunkle Seite! Nein, steht mit großer Klarheit gegen das Böse, immer, nehmt Partei, seid an dieser Stelle ganz entschieden! Achtet darauf, dass ihr nicht mit Autopilot lebt, sondern seid präsent, seid wachsam, öffnet euch immer wieder bewusst für den heiligen Geist! Im Mainstream der Gesellschaft mitzuschwimmen, das kostet keine Mühe, aber ihr sollt Gottes Alternative sein!
Die Gastfreundschaft ist wichtig. In den ersten Jahrhunderten der Christenheit gab es keine Kirchen oder Gemeindehäuser, allenfalls mal einen gemieteten Saal, aber vor allem stellten die Christen ihre Häuser zur Verfügung: Im Wohnzimmer und am Küchentisch trafen sich die Gemeinden, und der Glaube breitete sich aus, weil man auf Reisen immer wieder bei anderen Christen unter kam.
Weiter: Lasst euch nicht mit Problemen allein, helft euch gegenseitig. Es ist ganz normal, wenn sich Christen gegenseitig mit Geld unterstützen. Merkt ihr, was für eine Verbindlichkeit das bedeutet? Gemeinde ist eine Gemeinschaft, in der es nicht schwer ist, sich gegenseitig zu unterstützen, weil sie so eng und auf Dauer angelegt ist. Da muss man nicht Sorge haben, dass der, dem man heute aushilft, es sich morgen anders überlegt und nicht mehr kommt.
Nach außen schlägt sich das nieder in dieser Anweisung, mit den Trauernden zu weinen und sich mit den fröhlichen zu freuen. Das ist diese umfassende Solidarität, die ist einfach abgeschaut von dem Verhältnis, das Gott zu seiner Welt und zu seinen Menschen hat. Der nimmt Tag für Tag Anteil an unserem Herzen, der sagt nicht: selbst schuld! Sondern er fühlt unseren Schmerz wie wir. Und er freut sich über unsere Freude, auch wenn das aus seiner Perspektive wahrscheinlich ziemlich kleine, manchmal alberne und immer sehr begrenzte Glücksaugenblicke sind. Aber Gott nimmt Anteil, er ist bei den verschütteten Menschen auf Haiti, er kennt die emotionalen Wirren unserer Herzen und auch das arme Huhn in der Hühnerfabrik ist ihm nicht egal. Wir können nicht so umfassend Anteil nehmen wie der Schöpfer des Universums, aber ein weiteres und größeres Herz sollten wir schon bekommen.
Und weil das so eine große Sache ist, dabei zu sein in dieser Gemeinschaft von Menschen und Gott, wo im Namen Jesu das neue Leben Gottes gelebt wird, deshalb seid eines Sinnes untereinander. Überall rangeln Menschen um Einfluss und kämpfen um ihren Platz, auch da, wo sie es eigentlich gar nicht nötig hätten. Paulus weiß, dass man auch unter den Jüngern Jesu davor nicht sicher ist, er hat das selbst oft genug erlebt, aber er zeigt hier die tragfähige Grundlage, weshalb das in der Gemeinde nicht sein muss: weil es etwas viel Größeres und Wichtigeres gibt, und das bekommt man nur, wenn man aufhört, sich nach oben zu orientieren, dahin, wo man bewundert wird und was zu sagen hat, sondern wenn man sich auf die dunklen und unsichtbaren Lebenszonen orientiert und sich abmüht, dahin Licht zu bringen. Gott wird dann schon dafür sorgen, dass das im richtigen Moment gesehen wird – Gott zündet nicht ein Licht an, um es dann wieder zu verstecken.
Ihr merkt, es ist ein buntes Gemälde mit vielen Einzelheiten, das Paulus hier zeichnet. So bunt und unsystematisch wie das Leben eben ist. Ich habe das noch längst nicht in allen Einzelheiten ausgelegt. Mit Sätzen wie »Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden« muss man einfach mal eine Zeit durchs Leben gehen, bis man versteht, was damit alles gemeint ist. Und mit den anderen Sätzen auch.
Wir werden die Bibel erst dann in der Tiefe zu verstehen anfangen, wenn wir sie leben. Wenn wir sie in Gemeinschaft leben. Es sind diese Zonen erneuerten Lebens, für die sie geschrieben ist. Die Gemeinschaften, wo Gott und Menschen verbunden sind und zusammenarbeiten, damit die Schöpfung wieder zurückfindet auf den Weg, für den sie geschaffen ist.