Menschliche Konfusion und göttlicher Plan
Predigt am 12. August 2012 zu Römer 9,10-26 (Predigtreihe Römerbrief 29)
14 Folgt daraus, dass Gott ungerecht ist? Keineswegs! 15 Er sagte ja zu Mose: »Es liegt in meiner freien Entscheidung, wem ich meine Gnade erweise; es ist allein meine Sache, wem ich mein Erbarmen schenke.« 16 Es kommt also nicht auf den Willen und die Anstrengung des Menschen an, sondern einzig auf Gott und sein Erbarmen. 17 So verfährt er auch mit dem Pharao, dem er seine Gunst entzieht, indem er zu ihm sagt: »Nur deshalb habe ich dich als König eingesetzt, um an dir meine Überlegenheit zu beweisen und meinen Namen in der ganzen Welt bekannt zu machen.« 18 Gott verfährt also ganz nach seinem freien Willen: Mit den einen hat er Erbarmen, die andern macht er starrsinnig, sodass sie ins Verderben laufen. 19 Vielleicht wird mir jemand entgegenhalten: »Warum zieht uns dann Gott für unser Tun zur Rechenschaft? Wenn er bestimmt, dann kann doch niemand dagegen ankommen!« 20 Du Mensch, vergiss nicht, wer du bist! Du kannst dir doch nicht herausnehmen, Gott zu kritisieren! Sagt vielleicht ein Gebilde aus Ton zu seinem Bildner: »Warum hast du mich so gemacht?« 21 Und hat ein Töpfer nicht das Recht, aus einem Tonklumpen zwei ganz verschiedene Gefäße zu machen: eines, das auf der Festtafel zu Ehren kommt, und ein anderes als Behälter für den Abfall? 22 Du kannst also Gott nicht anklagen, wenn er an den Gefäßen seines Zorns sein Gericht vollstrecken und seine Macht erweisen will; aber selbst sie, die zum Untergang bestimmt waren, hat er mit großer Geduld ertragen. 23 So handelt er, damit er an den Gefäßen seines Erbarmens zeigen kann, wie unerschöpflich reich seine Herrlichkeit ist – an ihnen, die er im Voraus zum Leben in seiner Herrlichkeit bestimmt hat. 24 Das sind wir, die er berufen hat – nicht nur aus dem jüdischen Volk, sondern auch aus den anderen Völkern. 25 Das ist schon beim Propheten Hosea angekündigt, durch den Gott im Blick auf die anderen Völker sagt: »Ich werde die, die nicht mein Volk sind, ›mein Volk‹ nennen und die Ungeliebten ›Geliebte‹. 26 Und dieselben Leute, zu denen ich gesagt hatte: ›Ihr seid nicht mein Volk‹, werden dann ›Kinder des lebendigen Gottes‹ genannt werden.«
In diesem neunten Kapitel will Paulus verstehen, wie es kommt, dass das real existierende Israel im Ganzen den Weg Jesu nicht mitgegangen ist. Wir haben vorhin in der Lesung (Matthäus 8,5-13) gehört, dass schon Jesus dieses Problem hatte: Ein Heide wie der Hauptmann von Kapernaum, eigentlich einer von den Unterdrückern, versteht ihn besser als die Menschen seines eigenen Volkes. Genau an dieser Frage denkt auch Paulus herum. So wie heute Menschen sagen: wie kann es nur sein, dass die real existierende Kirche so viele unchristliche Sachen macht (egal, was damit konkret gemeint ist)! Und Menschen zweifeln dann an Gott, weil es so aussieht, als ob der noch nicht einmal seine eigenen Leute in Griff hat. Darum liest Paulus die Geschichte Israels von Anfang an noch einmal neu und entdeckt: Gott will allen helfen, aber er hat das schon immer durch einen Teil getan, nicht selten nur durch einige wenige. Noch nicht einmal überall dort, wo das offizielle Etikett »Israel« drauf steht, ist auch wirklich Gott am Werk (und genau so wenig ist Gott allein schon deswegen mit an Bord, weil irgendjemand irgendwo das Etikett »Kirche« drangepappt hat).
Diesen Grundsatz »Durch einen Teil für alle« entdeckt Paulus schon bei Abraham (das war das Thema der vorigen Predigt): die Linie des Gottesvolkes lief nur über dessen Sohn Isaak, nicht über den älteren Bruder Ismael. Aber bei Abrahams Söhnen könnte man einwenden: Ismael war eben nicht der Sohn von Abrahams offizieller Frau Sara, sondern nur der Sohn einer Sklavin!
Um dieses Argument zu widerlegen geht Paulus weiter zur nächsten Generation. Auch da gab es wieder zwei Söhne, Jakob und Esau, Zwillinge sogar, sie hatten beide den gleichen Vater und die gleiche Mutter, sie wurden am gleichen Tag gezeugt und mit einer Viertelstunde Abstand geboren, aber auch da suchte Gott sich den einen aus und den anderen nicht. Aber er hat nicht den einen vorgezogen, weil der irgendwie besser oder besonders oder anders war, sondern umgekehrt: weil er sich einen aussuchte, deshalb wurde der anders, besonders, und die Linie des Volkes Gottes lief über Jakob und seine Kinder, nicht über Esau. Das war Gottes Entscheidung. Gott arbeitet mit einigen und nicht mit allen, und dann entsteht notwendiger Weise sofort die Frage, warum er sich nun gerade den einen aussucht und den anderen nicht. Und die Antwort ist: das weiß wirklich nur der Himmel.
Auf der anderen Seite, wenn man sich Esau und Jakob anschaut, dann merkt man, dass Esau auch gar nicht besonders am Segen Gottes interessiert war. Er war es ja, der sein Erstgeburtsrecht für das sprichwörtliche Linsengericht verkaufte – verschleuderte, müsste man sagen. Wie viele andere war er viel mehr an einem vollen Magen interessiert als an Gott. Das heißt, diese ganzen Entscheidungen Gottes fühlen sich auf der menschlichen Seite so an, als ob wir die Sache entscheiden. Es ist nicht so, als ob Gott uns zu etwas zwingen würde, was wir eigentlich gar nicht wollen. Wir sagen: das ist meine Entscheidung! aber das ändert nichts an Gottes Plänen, sondern Gott erreicht sein Ziel, allen durch einige zu helfen, gerade durch unsere eigenen freien Entscheidungen hindurch.
Das ist kompliziert, und deshalb geht Paulus weiter am Leitfaden der Geschichte Israels entlang, um das genauer zu erklären, und so kommt er zur Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei. Der Pharao, der König von Ägypten hatte Israel versklavt und wollte es langfristig ausrotten. Aber Gott befreite Israel durch Mose, und der Pharao mit seinem Heer ertrank im Schilfmeer. Und in der Bibel, im Alten Testament, heißt es kurz vorher, dass Gott das Herz des Pharao verstockte, so dass der Israel um keinen Preis die Freiheit geben wollte (und darüber zugrunde ging).
Damit uns diese alte Geschichte lebendig wird, muss man nur an so einen Diktator wie Syriens Präsident Assad denken, der lieber blutigen Krieg gegen sein Volk führt als aufzugeben und ins Exil zu gehen. Und vielleicht wird er deswegen irgendwann am Galgen enden wie vor ihm Saddam Hussein im Irak. Lauter Gewaltherrscher, die so verblendet sind, dass sie sich weder um die Menschen kümmern, über die sie regieren, noch ihr eigenes Schicksal realistisch einschätzen. Oder der ägyptische Präsident Mubarak, der vor eineinhalb Jahren vom Volk gestürzt wurde, sozusagen der Pharao von heute, und der jetzt im Gefängnis dahin siecht. Auch der war bis zuletzt blind für das, was in seinem Land vorging. Und zu Mubarak hätte Gott genauso sagen können, was er laut Bibel dreieinhalb Jahrtausende zuvor zu seinem Vorgänger gesagt hat: ich habe dich verhärtet, ich habe dein Herz starrsinnig gemacht, damit an dir deutlich wird, dass ich der Gott der Freiheit bin, der die Mächtigen vom Thron stürzt und die Niedrigen erhebt. An dir wollte ich zeigen, wer ich bin und was ich kann und was ich tue.
Ist es vorstellbar, dass der Pharao, Saddam Hussein, Mubarak und Assad sich jetzt bei Gott beschweren und sagen: das war aber gemein von dir, dass du mich verblendet hast! Du hast mich gezwungen, so kurzsichtig und brutal zu sein! Das war mies von dir! Würden die so etwas sagen?
Es ist nicht vorstellbar, dass diese Diktatoren sich so bei Gott beschweren, weil sie ja gerade überzeugt waren, alles richtig zu machen. Sie beschweren sich vielleicht, dass sie verloren haben, sie beschweren sich vielleicht über die unfähigen Deppen in ihrer Gefolgschaft, an denen sie ihrer Meinung nach gescheitert sind, aber sie glauben doch nicht, dass sie selbst blind waren. Sie werden sich nicht beschweren, dass Gott sie zu falschen Entscheidungen überredet hätte – sie wissen selbst am besten, dass das ihre eigenen Entscheidungen waren, und sie finden sie immer noch richtig. Aber was sie nicht verstehen, das ist: Gott verfolgt seine Ziele durch ihre freien Entscheidungen hindurch.
Um diesen komplizierten Zusammenhang von Gottes Plänen und unseren freien Entscheidungen geht es, wenn Paulus das Bild vom Töpfer nimmt und sagt: der Ton wird sich doch auch nicht beim Töpfer beschweren und sagen: warum hast du aus mir einen Nachttopf gemacht? Ich wäre viel lieber eine Vase geworden, in der jeden Tag Rosen stehen.
Aber der Topf kann sich nicht beschweren, weil Töpfe nicht reden und denken können. Menschen können denken und reden und entscheiden, aber gerade deshalb können sie nicht so tun, als ob sie ein willenloser Tontopf wären, der sich passiv vom Töpfer formen lässt.
Wir haben zwar manchmal das Gefühl, wir wären der Mülleimer für alle andern, aber wenn man genau hinsieht, dann ist das eben kein unentrinnbares Schicksal, sondern irgendwie verhalten wir uns auch so, dass die anderen sich eingeladen fühlen, ihren Schutt bei uns abzuladen. Und wenn Gott sich in unser Leben einmischt, dann geht es gerade nicht so, dass er uns gegen unseren Willen zu irgendetwas zwingt, sondern er arbeitet daran, mindestens einigen die Augen zu öffnen und unseren Horizont zu weiten, so dass wir anders leben. So lange er das nicht tut, können wir uns gar nicht beschweren, dass uns etwas fehlt. Wir wissen da ja noch gar nicht, dass es auch etwas anderes gibt, dass Gott uns befreien und heilen kann.
Gott wirkt auf einer höheren Ebene (für alle, die Fremdwörter lieben: auf einer Meta-Ebene), die wir, wenn wir Gott noch nicht kennen, genauso wenig verstehen wie es der Tonklumpen begreift, weshalb ihn einer auf die Töpferscheibe legt. Das sind unterschiedliche Ebenen, und deshalb ist es auf einer Ebene völlig zutreffend, dass wir uns frei und eigenverantwortlich entscheiden. Wir verfolgen unsere Ziele, wir machen Druck und Hektik, wir fallen auf die Nase oder gewinnen, aber auf der Ebene darüber sorgt Gott dafür, dass seine Ziele auch mit so unsicheren Kandidaten wie uns Menschen erreicht werden. Und auf dieser höheren Ebene können wir nicht mitreden, weil wir nicht die Übersicht haben, die Gott hat. Und trotzdem ist Gott geduldig auch mit unverständigen und widerspenstigen Menschen. Um in dem Bild vom Töpfer zu bleiben: Gott nimmt sich Zeit, auch widerspenstigen Ton geduldig zu formen.
So, das war jetzt sicher nicht einfach. Deshalb fasse ich zusammen:
Paulus hat Gott verteidigt gegen den Vorwurf, er habe seine Leute nicht im Griff – das Gegenargument ist: das sind doch nicht schon deswegen Gottes Leute, bloß weil sie von Abraham abstammen oder in der Mitgliedsliste einer christlichen Organisation stehen.
Paulus hat Gott auch gegen den anderen Vorwurf verteidigt, er sei ungerecht, wenn er sich die einen aussucht und die anderen nicht – das Gegenargument ist: auf unserer menschlichen Ebene läuft alles korrekt, da sind wir die Akteure, wir entscheiden uns frei, nur Gottes Entscheidungen liegen auf der Ebene darüber, die wir gar nicht durchschauen.
Aber, sagt Paulus nun, wenn Gott uns erst einmal die Augen geöffnet hat (und daran arbeitet er ja), dann können wir etwas verstehen: dass nämlich Gott durch die ganzen menschlichen Irrwege und Verwirrungen hindurch sich nicht von seinem Plan abbringen lässt. Unser ganzes Chaos, das wir immer wieder anrichten, das hat er von Anfang an mit eingeplant, damit hat er gerechnet, das kommt ihm nicht unerwartet dazwischen, und deshalb ist alles noch im grünen Bereich.
Denn nun kommt Paulus zu dem Punkt, auf den er von Anfang an hinaus will: dass Gott sich überhaupt Menschen aussucht, mit denen er seine Welt zurückholen will aus Unglück und Verwirrung, das ist das große Wunder. Dass Gott überhaupt Menschen in seine Pläne einbezieht und einweiht.
Und speziell ist Paulus begeistert, dass Gott jetzt sogar die Grenzen des jüdischen Volkes überschreitet, so dass nun auch Heiden mit ins Gottesvolk aufgenommen werden, und man in die Linie Abrahams hinein kommen kann, auch wenn man biologisch nicht von Abraham abstammt. Viele Jahrhunderte lang gab es einen tiefen Graben zwischen Israel und den Völkern, und diese Abgrenzung musste sein, damit Gott sein Volk vorbereiten konnte auf seine Mission. Und jetzt ist Gott so weit, jetzt ist in Jesus Gottes Ziel endlich deutlich geworden ist, jetzt kann man verstehen, worauf das alles hinauslaufen sollte, und deshalb kommen jetzt auch Heiden dazu, jetzt wird das Gottesvolk erweitert, und alles, was sich in Israel entfaltet hat, bis hin zu Jesus, das machen sich jetzt auch Heiden zu eigen und verbreiten es auf der ganzen Welt.
Und so ist es bis heute: die Lebensimpulse und Wahrheiten, die Gott in Israel aufwachsen ließ, die durchdringen die ganze Welt. Die werden sogar von Menschen übernommen, die im Übrigen von Gott nicht viel halten oder die sich an ganz anderen Gottesvorstellungen orientieren. So unterwandert Gott die Menschheit mit seinen Ideen und seinen Leuten.
Und Paulus sagt: guckt in die Bibel, seht nach beim Propheten Hosea, da ist das doch schon vor langer Zeit vorausgesehen: Gott wird auch die berufen, die nicht zu seinem Volk gehörten. Gott hat schon immer alle im Blick gehabt, aber er ist diesen Weg über einen Teil der Menschen gegangen, um eine Alternative aufzubauen, die eines Tages für alle offen ist. Und jetzt ist es soweit, wir sind die Generation, die das erleben darf, sagt Paulus. Jetzt entsteht Gemeinschaft durch Gottes Geist auch quer zu allen biologischen und kulturellen Einteilungen. Und trotzdem sind immer noch nicht alle dabei. Wir denken immer: in der Gemeinde, da müssten alle dabei sein, aber wer ein bisschen im biblischen Denken zu Hause ist, der weiß, dass auch jetzt noch Gott immer mit einem Teil arbeitet. Aber Gottes Weg, der uns spontan so ungerecht erscheint – weil er sich scheinbar willkürlich auf einige Wenige konzentriert –, dieser Weg war sehr effektiv. Und wir sollten vor allem dankbar sein, dass wir ihn mitgehen dürfen.
Trotzdem ist Paulus mit seinen Überlegungen zu Israel noch längst nicht zu Ende. Sie werden noch weitere und größere Kreise ziehen.