Notfall und Notfallseelsorge
Predigt im Besonderen Gottesdienst am 7. November 2004 mit Römer 8,38-39
Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, 39 weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.
Paulus spricht hier von der Kraft des Lebens und der Liebe Gottes, die so umfassend ist, dass sie das ganze Dunkel in der Welt kennt und sich schon längst damit auseinandergesetzt hat. Und deshalb schreckt sie nicht vor dieser Begegnung mit dem Dunkel zurück, wenn es so weit ist. Gott hat schon längst mit dem Ernstfall gerechnet. So wie viele von uns sich planmäßig vorbereiten auf den Ernstfall, gedanklich und praktisch, damit sie nicht hilflos und erschreckt dastehen, wenn es erst einmal brennt oder ein anderes Unglück geschehen ist.
Denn viele von uns, die heute hier sind, kennen sich aus mit den Mächten und Gewalten, von denen Paulus schreibt, mindestens mit einigen davon. Viele von uns sind Spezialisten im Umgang mit zerstörerischen Mächten wie dem Feuer, Unfällen und vielen Arten von Zerstörung und Tod. In der Szene vorhin und in dem Gespräch haben wir etwas davon erfahren, wie das konkret aussehen kann. Und es ist für uns alle sehr wichtig, dass wir davon wissen, dass wir Kontakt behalten zu dieser Wirklichkeit. Denn unsere Gesellschaft hat den Umgang mit den Bedrohungen an die Spezialisten delegiert: Feuerwehr, Polizei, Rettungsdienste, Ärzte, Pastoren, die sind dafür da, sich darum kümmern, wenn die Dinge aus dem Ruder laufen und großer Schaden entstanden ist oder zu entstehen droht.
An dieser Arbeitsteilung ist nichts Schlechtes dran, im Gegenteil, das hilft uns allen ganz ungemein, dass im Hintergrund ein gut eingespieltes Netzwerk arbeitet, das im Notfall in wenigen Minuten zur Stelle ist. Ab und zu steht mal etwas in der Zeitung, dass der Notarzt zu lange auf sich warten ließ, aber die Normalität ist in den allermeisten Fällen, dass binnen weniger Minuten Hilfe da ist, wenn jemand unerwartet einen Unfall oder gesundheitliche Probleme hat. Und dass die Feuerwehr im entscheidenden Moment da ist, eben »schnell wie die Feuerwehr«, das ist ja sowieso sprichwörtlich.
Diese Professionalisierung der Hilfe hat aber eine Kehrseite: die meisten Menschen kennen diese zerstörerischen Mächte gar nicht mehr richtig, die es natürlich immer noch gibt. Weil man heute im Fall von schlimmen Bedrohungen eigentlich vor allem die Telefonnummern 110 oder 112 kennen muss, um da Hilfe anzufordern, deshalb wissen viele auch wirklich nicht viel mehr. Menschen sind gar nicht darauf eingestellt, dass zum Leben immer noch plötzliches Unglück gehört, Verletzung und Tod, denen wir von einem Moment zum andern begegnen können.
Ich sage das nicht mit dem Unterton: »früher, da war es besser! Da waren die Menschen noch nicht so verweichlicht!« Keiner wünscht sich die Zeiten zurück, als die Menschen Feuer an ihren Häusern noch selbst zu löschen versuchten, ohne Erfahrung und die entsprechenden Gerätschaften. Oder die Zeit, wo man eine Kutsche losschickte, um den Doktor zu holen, wenn es einen Unfall gegeben hatte. Ich beschreibe einfach, dass Unfälle, Notfälle und Katastrophen heute kaum noch im Erfahrungs- und Denkhorizont der meisten Menschen liegen, und dass sie deshalb besonders unvorbereitet sind, wenn es sie dann doch aus heiterem Himmel trifft.
Viele von uns hier kennen aber besser als andere diesen ganzen Bereich der Unglücke, wo Menschen aus dem normalen Alltag brutal herausgerissen werden und unvorbereitet konfrontiert werden mit Abbruch, Verlust, Zerstörung, Schmerz und durchkreuzten Lebensplänen. Das erleben zu müssen, das ist immer ein Angriff nicht nur auf die körperliche Gesundheit, sondern auch auf die seelische Gesundheit und auf unser Vertrauen zum Leben. Da sind Menschen zunächst einmal wie gelähmt, weil sie um sich herum nur noch schreckliche Dinge wahrnehmen und nichts anderes.
Und wer in solche Situationen hineinkommt, um zu helfen, der wird dann jedesmal auch selbst etwas erleben von dieser Begegnung mit dem Schrecklichen. Wie der Feuerwehrmann in der Szene am Anfang, der ein totes Kind auf dem Arm hat und denkt: das könnte auch meins sein!
Natürlich haben wir unsere Professionalität, natürlich wissen wir, dass es nicht unsere Aufgabe ist, uns dazu zu setzen und so zu klagen wie die Betroffenen, und trotzdem gibt es Momente, in denen man das am liebsten würde. Ich denke, das geht einem Feuerwehrmann oder einer Feuerwehrfrau nicht anders als einem Arzt oder Polizisten oder einem Pastor. Und das muss so sein, weil die Begegnung mit Unglück und Leid nie zu einer Routineaufgabe werden kann, weil wir da immer gefordert sein werden nicht nur mit unserem professionellen Können, sondern eben auch als Menschen, als Personen mit unserem Mut, mit unserer Bereitschaft, uns dem Unerwarteten zu stellen, ohne vorher zu wissen, ob wir alles richtig machen werden, und – ich sage es jetzt einfach so – wir kommen da auch vor mit unserer Liebe und unserem Erbarmen mit Menschen, die von Unglück und Schmerz so überflutet sind, dass sie manchmal noch nicht einmal mehr Worte finden.
Wie wichtig Schulung und Material und technische Kenntnisse sind, dass wissen alle, die auch nur ein paar Erfahrungen mit kleinen und großen Katastrophen haben. Aber die Grundvoraussetzung dahinter sind Menschen, die bereit sind, sich diesen Situationen zu stellen und diese Begegnung mit Menschen in Unglückssituationen auf sich zu nehmen, um zu helfen. Denn bei aller Professionalität weiß doch keiner vorher, was bei einem Einsatz auf ihn zukommt: ob da nur ein paar Strohballen brennen, oder ob gleich ein Hochspannungsleitung mit umzuknicken droht, oder ob auch Menschen selbst zu Schaden gekommen sind. Genauso weiß auch kein Notfallseelsorger vorher, was bei einem Einsatz auf ihn warten wird und ob er die richtigen Worte finden wird.
Aber allen, die sich auf solche Einsätze vorbereiten, ist gemeinsam, dass sie mit einem Vorschuss an Vertrauen losfahren, wenn es ernst wird: Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und die eigenen Ausbildung, vor allem aber Vertrauen, dass es im entscheidenden Moment einen Weg geben wird. Was auch immer da wartet – es wird für uns einen Weg geben, etwas zu tun, das die Sache zum Besseren wendet.
Menschen, die zum Opfer eines Unglücks werden, denen ist oft genau diese Überzeugung mindestens zeitweilig abhanden gekommen. Die sind im ersten Augenblick einfach nur überwältigt von der Erfahrung, dass in ihre vertrauten Welt urplötzlich ein Schrecken eingebrochen ist, mit dem sie nie gerechnet haben. Und wir würden lügen, wenn wir ihnen sagen, es wäre nicht so. Diese Welt kann manchmal ein ziemlich gefährlicher Ort sein, und auch Gott hat nie gesagt, er würde uns diese Erfahrung ersparen.
Aber er hat in diese Welt ein Gesetz hineingelegt, dass wir auf die nötigen Kraftquellen stoßen, wenn wir uns der Zerstörung entgegenstellen. Das gilt natürlich zentral im Zusammenhang des Glaubens, dass nichts uns scheiden kann von der Liebe Gottes; aber es funktioniert erstaunlich oft auch in weiteren Zusammenhängen, wo Mut und Stärke und Standhaftigkeit nötig sind.
Ich habe vorhin gesagt, dass Gott sich schon längst auf den Ernstfall vorbereitet hat, aber das war noch zu wenig. Gott hat den Ernstfall schon erlebt, als sein Sohn getötet wurde. Das war nicht einfach ein weiterer Mord unter Millionen anderen, sondern da stand die Hoffnung der ganzen Welt auf dem Spiel: wenn noch nicht einmal einer wie Jesus eine Chance hat, die Welt zum Besseren zu wenden, wer hat dann überhaupt eine Chance? Deswegen war die Kreuzigung der ultimative Ernstfall. Aber Gott hat auch darauf eine Antwort gewusst – er ließ Jesus auferstehen, und die Kräfte der Zerstörung erlebten zähneknirschend die Grenze ihrer Macht.
Daran denkt Paulus, wenn er sagt: nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes. Wenn noch nicht einmal die grausame Beseitigung Jesu Gott von seinem Plan abbringen konnte, dann gibt es keinen Schrecken mehr, vor dem Gottes Liebe zurückweichen müsste. Da ist eine Kraft in der Welt, die endlich und zuletzt alle Dunkelheit vertreiben wird. Aber vorher und zwischendurch, da sieht es manchmal ganz anders aus, und wir müssen Vertrauen aufbringen, dass uns diese Kraft im Ernstfall zur Verfügung stehen wird.
Aber alle, die freiwillig in solche Situationen des Unglücks hineingehen, die machen irgendwann diese Erfahrung, dass mittendrin auch diese Kraft verborgen ist: die Kraft standzuhalten und das Rettende zu tun, auch wenn man es nicht wirklich vorausplanen kann. Diese Erfahrung macht man nur im Ernstfall, und wer nicht dieses Risiko auf sich nimmt, der wird auch diese Erfahrung nicht machen. Und schon gar nicht die Erfahrung, dass etwas von dieser Kraft dann bei demjenigen bleibt, der da mutig hingegangen ist.
Notfallseelsorge tut eigentlich nicht viel mehr, als Menschen behutsam zurückzuholen in das Vertrauen, dass diese Welt trotz allem der Ort ist, wo es sich lohnt zu leben. Dass es hier manchmal brandgefährlich sein kann, aber dass es sich lohnt, die Hand nach der Hilfe auszustrecken. Dass die Erfahrung von Unglück und Schock noch nicht alles ist. Sondern dass nichts uns scheiden kann von der Liebe Gottes, und dass zum Zeichen dafür auch die Feuerwehr und die Rettungsdienste da sind.