Gefangen in Widersprüchen
Predigt am 13. November 2011 zu Römer 7,18-25 (Predigtreihe Römerbrief 20)
18 Ich weiß ja, dass in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt. Obwohl es mir nicht am Wollen fehlt, bringe ich es nicht zustande, das Richtige zu tun. 19 Ich tue nicht das Gute, das ich tun will, sondern das Böse, das ich nicht tun will. 20 Wenn ich aber das, was ich tue, gar nicht tun will, dann handle nicht mehr ich selbst, sondern die Sünde, die in mir wohnt. 21 Ich stelle also folgende Gesetzmäßigkeit bei mir fest: So sehr ich das Richtige tun will – was bei mir zustande kommt, ist das Böse. 22 Zwar stimme ich meiner innersten Überzeugung nach dem Gesetz Gottes mit Freude zu, 23 doch in meinem Handeln sehe ich ein anderes Gesetz am Werk. Es steht im Kampf mit dem Gesetz, dem ich innerlich zustimme, und macht mich zu seinem Gefangenen. Darum stehe ich nun unter dem Gesetz der Sünde, und mein Handeln wird von diesem Gesetz bestimmt. 24 Ich unglückseliger Mensch! Mein ganzes Dasein ist dem Tod verfallen. Wird mich denn niemand aus diesem elenden Zustand befreien? 25 Doch! Und dafür danke ich Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn. Es gilt also beides: Während ich meiner innersten Überzeugung nach dem Gesetz Gottes diene, diene ich doch gleichzeitig mit dem Fleisch dem Gesetz der Sünde.
Wer ist dieses »Ich«, das Paulus hier dauernd sprechen lässt? »Ich tue nicht das Gute, das ich tun will, sondern das Böse, das ich nicht tun will.« »Ich stehe unter dem Gesetz der Sünde« usw. War Paulus einfach jemand, der innerlich zerrissen war, der hin und her schwankte zwischen seinen guten Absichten und der Erfahrung, dass er dann doch immer wieder der Versuchung unterlag? So wie jemand, der sagt: ach, jetzt konnte ich doch der Sahnetorte nicht widerstehen, aber ab morgen halte ich meine Diät bestimmt ein; ja, ich musste dieses neue Paar Schuhe einfach kaufen, ich habe eben einen Schuhtick? Ja, ich wollte ja im Internet nicht mehr auf diese Seiten gehen, aber irgendwie ist es so gekommen, ich habe jetzt doch wieder einen Haufen Geld verspielt?
Wir haben aber keinen Hinweis darauf, dass Paulus jemand war, der so innerlich zerrissen gewesen wäre, jemand, der sich augenzwinkernd irgendwie mit seinen »kleinen Lastern«, wie es dann immer heißt, versöhnt hätte. Noch viel weniger hätte er gesagt: ja, so ist das eben, das gehört zur menschlichen Natur, davon kommen wir nicht los. Paulus war nicht hin und her gerissen, er war ein ganzer und klarer Mensch. Und für ihn war das Gesetz auch nicht der Diätplan oder irgendwelche moralischen Prinzipien, sondern es war das biblische, das alttestamentliche Gesetz, das Gott Mose am Sinai gegeben hatte, die Lebensordnung des freien Israel. Die Grundlage für eine freie Gesellschaft, in die die ehemaligen Sklaven des Pharao aufgebrochen waren.
Das heißt, Paulus redet hier nicht von sich selbst und seinen immer neuen moralischen Klimmzügen. Er redet von Israel. Er redet von dem Volk, das berufen ist, Gottes Alternative in dieser Welt zu sein, und das es nicht schafft, das zu verwirklichen. Wer sich etwas Konkretes vorstellen möchte bei diesen sehr abstrakten Gedanken von Paulus, der kann an die Geschichte vom Zolleinnehmer Levi denken, die wir vorhin als Evangelium gehört haben (Markus 2, 13-17). Levi, ein Sohn Israels, der sehr wahrscheinlich mindestens teilweise nach dem Gesetz lebt, seine Kinder beschneiden lässt, kein Schweinefleisch isst und meistens den Sabbat größtenteils einhält, dieser Levi sitzt als Handlanger der heidnischen Besatzer an der Zollstation und beraubt im Bunde mit den Römern seine israelitischen Brüder. Das ist das Dilemma Israels in einer Momentaufnahme zusammengefasst. Das ist so eine Szene, die Paulus vor Augen gehabt haben könnte, als er schrieb:
Paulus versucht auf einer grundsätzlichen Ebene zu analysieren, was da an der Zollstation und in einem wie Levi vorgeht. Der weiß ja, was richtig ist. Der möchte das eigentlich auch tun. Aber die Verhältnisse, die sind nicht so. Die Römer sind nun mal militärisch stärker, sie sind die Herren. Die politischen Führer kollaborieren mit den Feinden, auch wenn sie nach außen immer mal wieder so tun, als ob sie auf Unabhängigkeit bedacht sind. Gut bezahlte Arbeitsplätze sind Mangelware. Und Levi hat eine Familie zu ernähren. Die anderen machen es doch auch. Und wenn er den Posten als Zolleinnehmer nicht nimmt, dann macht es ein anderer. Also, soll er die Chance ausschlagen, wenn er sie bekommt? Jeder andere würde das doch auch tun! Und so wird er Zolleinnehmer, sicher mit schlechtem Gewissen, eigentlich wäre er lieber was Ehrliches, aber die Verhältnisse sind eben nun mal nicht so, wie man es sich wünschen würde. Und der eine leidet ehrlich unter der Situation, und der andere schmeißt nach und nach alle Bedenken über Bord und wird immer skrupelloser und raffgieriger.
Das ist das Dilemma, um das es Paulus geht, und das in vielen Variationen alle Juden damals betraf. Da sind die Zöllner, da sind die Prostituierten, da sind all die anderen, die in den Evangelien pauschal »die Sünder« heißen, weil an ihnen das Dilemma Israels besonders deutlich wird, aber es betrifft ganz Israel: Wir haben einen Auftrag, eigentlich wissen wir das, eigentlich möchten wir ihn ausführen, aber wir sind unter das Gesetz der Macht, der Ausbeutung und der Gewalt verkauft, unter das Gesetz der Sünde, unter das Gesetz der Welt.
Und als gute Juden wussten sie, dass man dann nicht sagen kann: ich habe es doch gut gemeint! Paulus würde sagen: gerade weil du den Willen Gottes kennst, weil du ihn eigentlich tun willst, deswegen wirst du schärfer beurteilt. Die Heiden kennen den Willen Gottes nicht, die kriegen mildernde Umstände wegen Ahnungslosigkeit. Aber ihr seid Israel! Ihr kennt den Willen Gottes! Und deshalb werdet ihr viel härter beurteilt werden, wenn ihr ihn de facto nicht tut.
Und, liebe Freunde, habt ihr bei all dem nicht schon längst an uns gedacht? Wir sind nicht Israel, aber hier in Deutschland haben wir seit über 1000 Jahren Kontakt mit dem Willen Gottes, mit der Bibel, wir sind keine blinden Heiden mehr. Und dann, als vor knapp 80 Jahren hier bei uns Hitler an die Macht kam und den zweiten Weltkrieg anzettelte, da haben am Ende viele Menschen zwischen Trümmern und Gräbern verstanden: ja, Gottes Gesetz zu übertreten führt geradewegs in die Katastrophe, und damals haben doch viele etwas gelernt, und das hat bis heute in der Seele unseres Volkes Spuren hinterlassen, gute Spuren. Das ist ein kostbares, teuer erkauftes Erbe, dass viele Menschen in unserem Land sich ganz sicher darin sind, dass Frieden ein ganz wichtiges Gut ist. Dass ganz viele Menschen immer noch diesen Satz unterschreiben würden: »Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen«. Das ist längst nicht in allen Ländern so, und unsere Regierenden schämen sich wahrscheinlich immer ein wenig, wenn sie sich mit den Mächtigen der Welt treffen und dann sagen müssen: nein, wir zahlen gerne, aber richtig Krieg führen, nein, das ist bei unseren Leuten nicht populär, die Deutschen sind da so empfindlich.
Aber wie es dann so ist: die Verhältnisse, die sind nicht so. Und dann gibt es doch politische Konstellationen, in denen man das nicht durchhalten kann, und auf einmal sterben und töten Deutsche eben doch in Afghanistan, auf dem Balkan oder wo auch immer.
Und wenn man sich umschaut, dann finden wir genauso in unserem alltäglichen Leben überall solche Situationen: unser Notgroschen auf der Bank oder die Altersversorgung bei der Lebensversicherung destabilisieren vielleicht gerade den Euro, für unseren Computer haben vielleicht chinesische Frauen unter entwürdigenden Arbeitsbedingungen geschuftet, für die Klamotten ebenfalls, und den Stein für unsere Grabplatte haben indische Kinder für einen Hungerlohn zurecht gehauen. Das Hähnchen auf dem Teller hat in seinem kurzen Leben nicht das Licht gesehen und obendrein dafür gesorgt, dass Keime entstehen, gegen die Antibiotika nicht mehr helfen. Wir wollen das alles nicht, aber in unserem Handeln ist ein anderes Gesetz am Werk, wie Paulus es sagt: du weißt, dass es nicht richtig ist, aber du steckst drin in den Strukturen, du musst deine Familie ernähren, und ein bisschen gut leben willst du auch, und irgendwie gewöhnst du dich an den Zynismus des normalen Lebens.
Und dann sitzt da so ein netter Landwirt und sagt: ich liebe meine Küken, aber wir richten uns doch auch nur nach dem Markt, und der Verbraucher – also du! – will das doch. Ihr wollt das doch! Ihr seid alle Komplizen. Das ist das Problem, über das Paulus hier schreibt.
Und man kann sich jetzt damit beruhigen, dass das doch alle tun, und dass wir es doch gut meinen, und dass das Leben sowieso ein endloses moralisches Dilemma ist. Paulus tut das nicht. Er endet diese Analyse mit einem Aufschrei: Ich elender Mensch! Wer holt mich da raus? Am Ende wird nicht zählen, dass ich es immer gut gemeint habe. Am Ende zählt, was effektiv hinten rauskommt, und das ist Tod und Zerstörung. Wer rettet mich aus diesem Leib des Todes, wie es wörtlich heißt, aus diesen elenden Verstrickungen, aus diesen Todesstrukturen? Wer befreit mich davon, sehenden Auges immer mehr Schaden anzurichten und mich am Ende daran zu gewöhnen und zynisch zu werden? Wer rettet mich davor, die Welt zu zerstören, in der meine Kinder einmal leben sollen?
Dank sei Gott! sagt Paulus, durch Jesu Christus, unseren Herrn. Der kommt und holt Levi weg von seiner Zollstelle. Levi, Zachäus, Maria Magdalena und wie sie alle heißen. Alle hat er sie weggeholt aus dem Leib des Todes, aus den übermächtigen Verstrickungen, aus denen sie sich allein nicht befreien konnten. Levi hatte eine Familie zu versorgen, wenn er es nicht tut, tut es ein anderer, die Verhältnisse sind nun mal so, der Verbraucher will es doch – und trotzdem holt Jesus ihn raus. Folge mir, komm mit, ich zeige dir ein neues Leben ohne all diese Kalamitäten und Verstrickungen. Komm!
Das ist Erlösung. Jesus zeigt neue Wege, wo alle behaupten, es gäbe keine. Jesus sagt: du musst nicht mehr sehenden Auges in dein Verderben laufen. Ich bin da. Folge mir. Komm mit. Werde ein ganzer, ein klarer, ein aufrechter Mensch ohne verborgene Hintergedanken, der sich jeden Morgen mit Freude im Spiegel ansehen kann. Werde ein Mensch des Lebens. Ich bin da. Folge mir! Komm mit auf meinem Weg.
Das ist das Werk Jesu bis heute: Menschen herausholen aus der Komplizenschaft mit den zerstörerischen Strukturen jeder Art und uns von neuem ein Leben geben, bei dem wir uns jeden Morgen mit Freude im Spiegel ansehen können. Das ist das Werk des Heiligen Geistes, über das Paulus im nächsten Kapitel schreiben wird. Und wir haben eine lange Tradition, in der dieses Werk ins Innere der Menschen verlegt wird, ins Gewissen. Aber wir sehen an Levi, dass dazu auch ein Aufbrechen und Mitgehen gehört. Das fängt zwischen zwei Menschen an, in Kopf und Herz, aber das ist nicht mehr dieses alte Mantra »ich meine es doch gut«. Sondern es ist eine neue Sicht der Welt, wo die alten Klischees und Bilder, die uns gefangen hielten, ihre Kraft verlieren – und wir werden frei. Die Bibel erzählt oft gar nicht so viel davon, was Menschen dann anschließend machen, aber es ist deutlich, dass jetzt nichts mehr so wie früher ist. Levi sieht neue Perspektiven, und er feiert sie mit seinen Zöllnerfreunden, und er geht mit Jesus mit. Es geht um eine neue Art zu denken, eine Renovierung unseres Gehirns. Daraus wächst das neue Leben. Und dann fühlen wir uns nicht mehr gefangen in allen möglichen Arten von Dilemma.
Als wir im letzten Jahr hier in der Gemeinde begonnen haben mit dem Thema »Fair leben«, da war das der Hintergrund: die Frage nach einem Leben, das sich nicht in alle möglichen Komplizenschaften verstrickt, ein Leben, bei dem man sich mit Freude im Spiegel ansehen kann. Und ich glaube, in vielen anderen Gemeinden hätte es die Frage gegeben: ist das denn noch das Eigentliche? Geht es nicht letztlich um die Rettung von Seelen, geht es nicht um Innerliches, um Religiöses und nicht um solche banalen Dinge wie Massenviehhaltung usw.? Ich bin stolz darauf, dass das bei uns gar keine Rolle gespielt hat. Und hier in Römer 7 und bei Jesus und Levi sehen wir, wieso das stimmig ist. Von Jesus und Paulus an geht es genau um diese Art von Befreiung aus einem todesverstrickten Leben. Das sieht äußerlich immer wieder anders aus, aber in der Tiefendimension hängt das zusammen. Wir können das noch längst nicht so gut und so stark, wie es nötig wäre, aber die Richtung stimmt. Und dass wir das zusammen angefangen haben, das sagt mir, dass unter uns schon etwas gewachsen ist von diesem neuen Leben des Heiligen Geistes.
Und damit sind wir an der Schwelle zum 8. Kapitel. Das ist das Zentralkapitel des Römerbriefes. Das Kapitel über den Heiligen Geist, in dem Paulus Spitzensätze formuliert, wie sie wirklich auch in der Bibel nur an wenigen Stellen zu finden sind. Da werden alle Fragen geklärt, die bis jetzt nur anfänglich beantwortet worden sind. Ich hoffe es jedenfalls. Jetzt kommt erst mal Advent und Weihnachten, aber im neuen Jahr geht es weiter mit dem Römerbrief, und ich bin so gespannt, was da zu finden sein wird.
Diese Frage: »wer wird mich aus diesem Leib des Todes retten?« – ich weiß nicht, ob das auch deine Frage ist. Ich weiß auch nicht, wie dringlich sie dir ist gegenüber anderen Fragen. Fragen wie »Bekomme ich das Auto noch mal durch den TÜV?« oder »schaffe ich die Geburtstagsvorbereitungen alle rechtzeitig?« sind ja auch nicht ohne. Aber Paulus ist überzeugt, dass es keine wichtigere Frage gibt als die nach der Rettung aus den Widersprüchen, die uns zu einem Komplizen des Todes machen. Von da aus werden sich auch die anderen Fragen klären. Paulus denkt, dass diese Frage ganz praktisch an die erste Stelle auf unserer Prioritätenliste gehört. Und ich schließe mich ihm an.