Vom Unheil, das mit dem Gesetz kommt
Predigt am 17. November 2004 (Buß- und Bettag) zu Römer 7,4-6
4 Also seid auch ihr, meine Brüder, dem Gesetz getötet durch den Leib Christi, so dass ihr einem andern angehört, nämlich dem, der von den Toten auferweckt ist, damit wir Gott Frucht bringen.
5 Denn solange wir dem Fleisch verfallen waren, da waren die sündigen Leidenschaften, die durchs Gesetz erregt wurden, kräftig in unsern Gliedern, so dass wir dem Tode Frucht brachten.
6 Nun aber sind wir vom Gesetz frei geworden und ihm abgestorben, das uns gefangen hielt, so dass wir dienen im neuen Wesen des Geistes und nicht im alten Wesen des Buchstabens.
In diese Versen sagt Paulus etwas darüber, wie eigentlich im Herrschaftsbereich Jesu Christi Verhaltensänderung funktioniert. Denn es geht ja bei Jesus und in dem, was wir Gesetze nennen, immer um eine Verhaltensänderung, möglichst natürlich zum Guten. Und Paulus sagt: es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen dem, was ich Gesetz nenne, also den Vorschriften des Alten Testaments oder auch anderer Gesetzeswerke, und der Herrschaft Jesu Christi in einem Leben.
Damit es keine Missverständnisse gibt, muss man wissen, dass Paulus an anderen Stellen deutlich sagt, dass er inhaltlich nichts gegen die Gebote Gottes hat. So wie Jesus zu seinen Jüngern gesagt hat: eure Gerechtigkeit soll besser sein als die der Schriftgelehrten und Pharisäer! Ein Leben, das von Jesus Christus geprägt ist, wird die zehn Gebote erfüllen, das steht nicht in Frage, aber das ist nur ein Nebeneffekt, nicht das zentrale Ziel. Und es ist schädlich, wenn bei uns das Befolgen von Geboten, was ja eigentlich der Nebeneffekt ist, ins Zentrum tritt, weil das mit den Geboten auf den ersten Blick so einfach und leicht zu verstehen ist.
Paulus sagt dagegen, dass es problematisch ist, wenn wir uns darauf konzentrieren, die Gebote zu halten, statt Jesus nachzufolgen. Das ist nicht dasselbe. Deswegen spricht Paulus hier davon, dass wir vom Gesetz frei werden sollen, und dass Christen dem Gesetz gegenüber tot sind, sodass es uns nicht mehr zu sagen hat. Er sagt, dass das Gesetz sonst nämlich die Kraft der Sünde erst richtig stark macht.
Was meint Paulus damit? Ich habe an dieser Stelle schon öfter mal die Geschichte erzählt, wie ich als kleiner Junge auf die Wäsche unserer Nachbarin Sand geschüttet habe. Und zwar genau deshalb, weil meine Mutter mir vorher gesagt hatte: »lass aber die Wäsche in Ruhe!« Ohne diese Mahnung meiner Mutter wäre ich nie auf die Idee gekommen, da Dreck drauf zu tun. Ich hatte nichts gegen die Nachbarin, und Wäsche interessierte mich sowieso nicht. Bevor meine Mutter mich ermahnte, ist mir die Wäsche im Garten nie aufgefallen. Erst durch die Ermahnung wurde das für mich interessant.
Diese Geschichte hat für mich inzwischen schon einen Bart, aber es gibt andere. Ich weiß von einem Jugendlichen, der von seinen Eltern immer wieder vor bestimmten Musikrichtungen gewarnt wurde, weil die satanisch belastet seien. Ich will heute nicht über die geistlichen Inhalte von Musik reden, sondern nur über das absehbare Ergebnis dieser Warnungen: natürlich hat der Junge dann irgendwann angefangen, genau diese Musikrichtungen zu hören und auch selbst zu spielen, auf die seine Eltern solange seine Aufmerksamkeit gerichtet hatten.
Und noch ein Beispiel: Kernstück aller Gesetzlichkeit ist natürlich immer das Thema Sexualität. Ich weiß nicht, warum das so ist, aber früher oder später landet das Gesetz immer da. Und nun ist das eigentlich von Haus aus gar keine so schwierige Materie. Wenn man die normalen Regeln beachtet, die auch sonst zwischen Menschen gelten, dann kann man da eigentlich nicht so viel falsch machen. Und bei den meisten Menschen ist das auch zwar ein wichtiger Lebensbereich, aber er wird auch begrenzt von anderen wichtigen Dingen: Arbeit, Familie, Freunde, Gesundheit usw. Das meiste regelt sich da irgendwie schon. Wenn aber das Gesetz kommt und seine Scheinwerfer immer wieder auf die menschliche Sexualität richtet, dann wird das ein unheimlich herausgehobener Bereich, und die einen sagen: au Weia, das ist ja so schrecklich gefährlich, am besten lässt man ganz die Finger davon. Und die andern sagen: wenn ihr mir das verbieten wollt, dann mache ich’s gerade, und dann übertrete ich mal alle Regeln, vielleicht ist dann der Spaß noch viel größer.
Und im Ergebnis wird so ein wichtiger Lebensbereich wie die Sexualität schrecklich belastet und mit verborgenen Fallen vollgepackt. Weil das Gesetz seine Scheinwerfer darauf gerichtet hat, kann jetzt kaum einer noch ungezwungen damit umgehen, und die Sünde freut sich.
Das sind Beispiele dafür, was Paulus meint, wenn er sagt, dass das Gesetz dem Bösen erst richtig Energie gibt. Man muss sich das vorstellen, dass die Sünde wie ein gefährlicher, bissiger Hund hinter dem Ofen schläft, friedlich, ruhig, und nichts tut. Und dann klingelt das Gesetz an der Tür und will herein, und das Biest schreckt hoch und wird wach und läuft zähnefletschend los. Die Sünde sagt: »Moment mal, wir wollen doch sehen, wer sich hier in diesem Leben durchsetzt, du, das Gesetz, oder ich, die Sünde.« Und da zeigt sich die ganze Schwäche des Gesetzes, obwohl es inhaltlich gut ist und Gottes Willen wiedergibt.
Das Problem dabei ist, dass das Gesetz eigentlich immer noch auf die Sünde fixiert ist. Zwar negativ, es sagt natürlich: »sündige nicht!«, aber es konzentriert eben doch unsere Aufmerksamkeit auf die Sünde. Wir würden sonst gar nicht so viel über die Sünde nachdenken, aber wenn einer sich wirklich in seinem Denken stark am Gesetz orientiert, dann denkt er dauernd über sie nach. Und so bekommt die Sünde erst richtig Macht.
Auf der anderen Seite ist Sündlosigkeit auch kein besonders faszinierendes Ziel. Natürlich ist es gut, niemanden zu erschlagen, die Finger von der Frau seines Nächsten zu lassen und keine böse Gerüchte in die Welt zu setzen. Aber sind das Ziele, die unsere Fantasie und unsere Träume auch nur annähernd so in Bewegung setzen können, wie es die Sünde manchmal kann? Unser Herz und unser Innerstes werden von starken, positiven und verlockenden Bildern und Träumen in Bewegung gesetzt, im Guten wie im Bösen. Wenn man das Christentum reduziert auf die Befolgung von Gesetzen und das Vermeiden von Sünde, auf die Kraft, das möglichst gut durchzuhalten und die Vergebung, wenn es dann doch schief gegangen ist – dann wird aus der Herrschaft Jesu eine langweilige Sache, die wenig Ausstrahlung hat und wenig Menschen begeistern wird. Man kann den Leuten dann zwar noch Angst machen, aber Begeisterung erzeugt auch das nicht.
Die klassischen Vertreter des Gesetzes sind die neutestamentlichen Pharisäer. Die hatten in der Zeit Jesu einen großen Einfluss, gerade weil die Menschen in Israel ja wirklich Gottes Willen tun wollten. Und sie wurden gegenüber Jesus dann richtig unangenehm, weil er einen anderen Weg ging und sie zu Recht Angst hatten, dass sie ihren Einfluss auf die Menschen verlieren könnten.
Aber wenn man mal diese spezielle Gegnerschaft zu Jesus beiseite lässt, dann hat man doch den Eindruck, dass es sich bei diesen Leuten eigentlich vor allem um Langeweiler handelt. Die treten immer nur als Gruppe auf, man erkennt kaum profilierte Leute, man hat den Eindruck, dass die sich darauf beschränken, brav das zu tun und zu sagen, was man ihnen eingetrichtert hat. Aus ihnen spricht das große »man«: man tut dies nicht, und man tut das nicht. Da ist kein Feuer, keine Begeisterung, sondern nur langweilige Korrektheit.
Wenn man sich stattdessen Jesus ansieht, zu dem kamen die Leute, weil da etwas passierte. Wenn man Jesus sah, dann sah man Gott an der Arbeit. Während die Pharisäer alles sorgsam vermieden, was sie hätte in Gefahr bringen können, ging Jesus genau an die Orte und zu den Menschen, wo es gefährlich wurde. Er saß bei den Halunken und ließ sich von Prostituierten berühren und salben, er verbreitete gefährliche Thesen und hatte keine Angst, sich bei Aussätzigen anzustecken. Und es war für die Leute faszinierend, zu sehen, wie da überall die Kraft Gottes Leben veränderte. Jesus ging an die dunklen Orte und brachte dorthin das Licht Gottes. Er ließ sich kreuzigen, weil er darauf vertraute, dass Gott stärker ist als der Tod.
Und Paulus erinnert uns und sagt: ihr gehört zu dem Jesus, der von den Toten auferstanden ist. Und das heißt: das ist der, der bis heute überall das wirkliche Leben verbreitet. Und wenn wir zu ihm gehören, dann ist es unsere Aufgabe, das gleiche zu tun. Wir sollen da sein, wo er ist. Wir sollen Frucht für Gott bringen – unser Leben soll etwas bewegen in dieser dunklen Welt. Aber dazu reicht es nicht, defensiv Sünde zu vermeiden. Wir sollen offensiv hineingehen in all die dunklen Zonen dieser Welt, damit das Licht Gottes dort leuchten kann. So, wie die Menschen damals bei Jesus Gott an der Arbeit gesehen haben, so sollen sie auch an dem, was wir tun, Gott an der Arbeit sehen. »Dienen im neuen Wesen des Geistes« nennt Paulus das. Der Heilige Geist ist Gott selbst, nicht irgend eine unpersönliche Kraft. Und wenn ein Mensch etwas tut in der Kraft des Heiligen Geistes, dann ist Gott selbst dabei und Menschen werden es merken.
Verstehen Sie den Unterschied zwischen dem ängstlichen Vermeiden von Sünden und dieser riesigen Dimension, dieser Offensive Gottes mitten hinein in die kaputte und von Sünde entstellte Welt? Und obwohl Jesus nicht Gesetz und Moral predigte, wurden im Ergebnis die Menschen besser, die Sünde wurde zurückgedrängt.
Gerade weil das bei Jesus nicht das Hauptziel war, deshalb hat er es als Nebeneffekt um so besser erreicht. Überall da, wo die Gemeinde mit Gott vorangeht, wo wir aufbrechen, Risiken eingehen und auch Kämpfe und Dunkelheiten nicht scheuen, da werden die Menschen besser. Wenn aber das Volk Gottes das Hauptziel aus den Augen verliert und sich auf das Vermeiden von Sünde konzentriert, statt darauf, an die dunklen und gefährlichen Orte zu gehen und überallhin Gott mitzubringen, dann verliert es die Kraft, Menschenleben zu verändern. Und dann wird auch die Sünde wieder Kraft gewinnen, manchmal mitten in der Gemeinde.
Leben in der Kraft des Heiligen Geistes drängt die Sünde zurück. Aber es ist viel mehr als das. Gott schickt uns in einen Kampf, damit Menschen befreit werden, Hungernde satt und Ängstliche mutig werden, damit hier unter uns seine neue Welt schon anzuschauen und mitzuleben ist. Das ist sein wirklicher Angriff auf das Dunkle in dieser Welt.