Anspruch und Wirklichkeit
Predigt am 30. Januar 2011 zu Römer 2,12-24 (Predigtreihe Römerbrief 05)
14 Wenn nun Menschen, die nicht zum jüdischen Volk gehören und mit dem Gesetz Gottes daher nicht in Berührung gekommen sind, von sich aus so handeln, wie es das Gesetz fordert, dann ist dieses Gesetz, auch wenn sie es nicht kennen, offensichtlich ein Teil von ihnen selbst. 15 Ihr Verhalten beweist, dass das, was das Gesetz fordert, ihnen ins Herz geschrieben ist. Das zeigt sich auch im Urteil ihres Gewissens und am Widerstreit von Anklagen und Rechtfertigungen in ihren Gedanken. 16 Der Tag des Gerichts wird das alles bestätigen, der Tag, an dem Gott durch Jesus Christus auch über die verborgensten Dinge im Leben der Menschen sein Urteil sprechen wird. So lehrt es das Evangelium, das mir anvertraut ist.
17 Nun gut, du kannst von dir sagen, dass du ein Jude bist. Du fühlst dich sicher, weil du das Gesetz hast, und bist stolz darauf, den wahren Gott zu kennen. 18 Du kennst seinen Willen und hast ein sicheres Urteil in allen Fragen, bei denen es um Gut und Böse geht, weil du dich im Gesetz auskennst 19 Du bist überzeugt, ´dass es dein Auftrag ist,` ein Führer der Blinden zu sein und ein Licht für die, die in der Finsternis sind, 20 ein Erzieher derer, denen es an Einsicht fehlt, und ein Lehrer der Unwissenden. Schließlich besitzt du ja das Gesetz, den Inbegriff der Erkenntnis und der Wahrheit. 21 Wenn du nun andere belehrst, warum dann nicht auch dich selbst? Du predigst, man dürfe nicht stehlen; warum stiehlst du dann? 22 Du sagst, man solle die Ehe nicht brechen; warum brichst du sie dann? Du verabscheust die Götzen; warum ´bereicherst du dich dann an ihnen, indem` du ihre Tempel plünderst? 23 Du redest voller Stolz vom Gesetz, und gleichzeitig brichst du es und raubst Gott damit die Ehre, 24 genau wie es in der Schrift heißt: »Euretwegen wird der Name Gottes bei den Völkern in den Schmutz gezogen.«
Als wir vor zwei Wochen das letzte Mal auf den Römerbrief hörten, da ging es um das Gericht Gottes. Und wir sahen, dass die Hoffnung auf ein abschließendes Gericht Gottes in der Antike eine Spezialität jüdischen, alttestamentlichen Denkens war. Die anderen Religionen und Philosophien kannten so etwas nicht. Sie konnten denen, denen Unrecht und Gewalt angetan wurde, keine Hoffnung auf irgendeine Art von Ausgleich machen. Die Sklaven, die Opfer von Krieg und Unterdrückung und alle anderen, die unter die Räder gekommen waren, die hatten eben einfach Pech gehabt und sollten das am besten in Gleichmut und Ergebenheit hinnehmen.
Aber es gab eben damals auch ein Volk, das darüber ganz anders dachte, nämlich die Juden. Das Volk, in dem schließlich Jesus geboren wurde. Da wussten sie schon lange aus ihrer Bibel, dem Alten Testament: Gott, der Schöpfer der Welt, findet sich mit dem Unrecht nicht ab. Er wird die Welt noch einmal richten. Und »richten« heißt nicht so sehr dass jeder seine Strafe bekommt, sondern dass Gott die Welt zurecht bringen wird, dass er sie wieder in Ordnung bringen wird, dass sie am Ende doch die gute Schöpfung wird, die er geplant hat. Und dann wird auch alles vergangene Unrecht irgendwie wieder in Ordnung gebracht, ausgeglichen, gerichtet.
Wir haben uns daran gewöhnt, das Gericht als etwas Dunkles, Drohendes anzusehen, vor dem man sich fürchten muss. Aber das ist eigentlich nicht die Bedeutung, die ursprünglich mit dem Gericht verbunden ist. Ursprünglich war das eine Hoffnung: Es bleibt nicht so, wie es ist. Gott lässt nicht zu, dass die Übeltäter triumphieren! Nichts ist vergessen, alles kommt noch einmal zur Sprache. Das ist ein Kernbestandteil jüdischer, alttestamentlicher Hoffnung. Denn Gott hat sich in der Welt ein Volk erschaffen, dem er seine Wahrheit anvertraut hat: das Volk der Juden, die durch viele Jahrhunderte hindurch einen langen Weg mit ihm gegangen sind, und die im Lauf dieses Weges immer neue Seiten Gottes erlebt haben. Und all diese Erfahrungen sind in der Bibel festgehalten worden.
Paulus selbst war ja jüdischer Schriftgelehrter, und er kannte das alles von innen. Wenn er im fiktiven Dialog mit einem jüdischen Gegenüber davon spricht, dass der stolz darauf ist, Gott zu kennen und die Dinge tiefer und besser zu durchschauen als die Heiden, dann schwingt da keine Ironie mit. Ja, den Juden ist tatsächlich die Wahrheit Gottes anvertraut. Ja, sie sind tatsächlich die, von denen die anderen Völker lernen sollen. Ja, da ist tatsächlich die Anleitung für ein gelingendes Leben zu finden. Ja, in der Torah, dem Gesetz der fünf Bücher Mose, da ist alles zu finden, was man braucht, um ein gutes Leben zu führen. Diese Torah zu tun, das ist der Weg zum Leben.
Genauso wie Jesus selbst gesagt hat, dass nichts von der Torah aufgegeben werden soll, so sagt auch Paulus, dass dieses Gesetz Gottes gut und gerecht ist. Die anderen Völker sollten dieses eine Volk sehen und sagen: Da gibt es ja eine Lösung für unsere Probleme! Da können wir sehen, wie gutes Leben aussieht! Und teilweise ist das ja geschehen. Wir verdanken dem jüdischen Gesetz z.B. den Feiertag, den Sabbat, einen Tag in der Woche, an dem die Plackerei ihr Ende hat und sich alle einfach nur am Leben freuen dürfen. Oder dass Sklaverei nicht gut ist, dass auch Sklaven kein Ding sind; oder dass die sexuelle Ausbeutung von Kindern nicht sein darf; und dass Arme Solidarität brauchen – all das sind Impulse, die ursprünglich mal aus dem Alten Testament und aus jüdischer Tradition gekommen sind. Und so hatte Gott sich das auch gedacht. In Israel sollte eine Lösung zu finden sein für die Probleme der Welt. Das war Gottes guter Plan: durch Israel, also durch die Nachkommen Abrahams, wieder neu den Segen in die Welt kommen zu lassen.
Es gab nur ein Problem dabei: es hat nicht funktioniert. Nicht nur, weil die anderen Völker sich nicht belehren lassen wollten. Nicht nur, weil Israel immer wieder von Feinden in seiner Existenz bedroht wurde. Das war gar nicht das Hauptproblem. Das eigentliche Problem war, dass Israel selbst seine Rolle nicht ausfüllte. Dass es sich immer wieder an den Ideologien und Ordnungen der anderen Völker orientierte. Dass es seinen besonderen Weg nicht durchhielt. Israel war zu einem Teil des Problems geworden, dessen Lösung es eigentlich sein sollte.
Wir haben ja inzwischen in den Kirchen ganz ähnliche Probleme. Die Menschen reagieren empfindlich, wenn Kirchen ihre eigenen Ansprüche verraten. Menschen erwarten zu Recht, dass, wenn irgendwo »Kirche« drauf steht, es dort auch irgendwie anders, besser zugehen müsste. Auch wenn sie sagen: »für mich selbst wäre das nichts«, sie haben irgendwie die Erwartung, dass es in einer Kirche anders zugeht. Und so ist es ja zum Glück auch manchmal. Und dieses Anderssein hätte auch noch eine viel größere Reichweite, wenn all die, die sich das wünschen, auch aktiv dabei mitmachen würden.
Aber es gibt eben auch die anderen Erfahrungen. Es gibt eben auch die Erfahrung, dass die Kirche auch nur eine Institution ist wie viele andere: eine Organisation, der es vor allem um das eigenen Überleben geht; eine Organisation, die Menschen blind und unbeweglich macht; eine Organisation, die mit dem Strom schwimmt und kein Widerstandspotential gegen gesellschaftliche Fehlentwicklungen entfaltet. Es wäre zu einfach, wenn ich jetzt über den Missbrauch in der katholischen Kirche reden würde mit dem geheimen Hintergedanken: ja, uns Evangelische betrifft das zum Glück nicht so.
Denken wir stattdessen an die Erziehung in den Kinderheimen vor 1970 ungefähr. So langsam dringt das jetzt ins öffentliche Bewusstsein, wie brutal und einschüchternd da mit vielen Kindern umgegangen worden ist. »Schwarze Pädagogik« hat man das später genannt. Ich weiß noch, wie ich mit meinen Eltern im Urlaub war, und ich fand den langweilig und doof, und dann sagten meine Eltern: wir können dich ja auch nächstes Mal in der Zeit ins Kinderheim schicken. Und es war deutlich, dass das etwas sehr Unangenehmes sein musste. Später habe ich mal eine Zeit eine Unterkunft in einem Heim für Behinderte gehabt. Das war schon nach 1970, und ich habe da keine Hinweise gehabt, dass die Bewohner misshandelt worden wären. Aber ich kann mich noch gut an die bedrückende und autoritäre Atmosphäre dort erinnern.
Und es sind eben auch die kirchlichen Heime gewesen, in denen es die schwarze Pädagogik gab. Sicher, das war damals gesellschaftlich normal, damals meinte man, so müsste man mit Kindern umgehen. Das war noch die nationalsozialistische Prägung, wahrscheinlich auch noch aus der Kaiserzeit und früher. Die Kirchen waren da ein Bild der Gesellschaft. Aber die wirkliche Frage ist doch: warum haben kirchliche Einrichtungen da nicht mehr Abstand gehabt, warum haben sie keine Alternativen entwickelt, warum haben sie es gemacht wie alle anderen?
Und das sind genau die Fragen, die Paulus seinem fiktiven jüdischen Gesprächspartner stellt: was nützt es dir, wenn du die Wahrheit Gottes hast, sie aber nicht lebst?
21 Wenn du nun andere belehrst, warum dann nicht auch dich selbst? Du predigst, man dürfe nicht stehlen; warum stiehlst du dann? 22 Du sagst, man solle die Ehe nicht brechen; warum brichst du sie dann? Du verabscheust die Götzen; warum ´bereicherst du dich dann an ihnen, indem` du ihre Tempel plünderst?
Dieser Text hat oft Verwunderung hervorgerufen: waren denn damals Juden chronische Ehebrecher, Tempelräuber und Diebe? Natürlich nicht. Natürlich gab es unter ihnen so gute und so schlechte Menschen wie sonst auch. Aber was überall normal ist, das soll doch im Volk Gottes nicht normal sein. Wie kann dieses Volk die Lösung für die Probleme der Welt sein, wenn es da genauso zugeht wie überall? Wie kann dieses Volk anderen helfen, wenn es noch nicht mal sich selbst helfen kann? Und das ist nicht nur ein Problem für Israel, weil es so seine Bestimmung verfehlt; das ist nicht nur ein Problem für die Völker, weil sie so nicht den Segen bekommen, der durch Israel zu ihnen kommen sollte. Das ist auch ein Problem für Gott. Gottes Plan scheint an seinem Volk zu scheitern. Und damit steht Gottes Gerechtigkeit auf dem Spiel: er hat versprochen, dass er die Welt in Ordnung bringen wird. Aber kann er sein Versprechen halten, wenn sein Volk seiner Berufung untreu wird?
Vielleicht konnten wir bisher noch sagen: das ist Israels Problem; oder das ist das Problem der katholischen Kirche; oder: das ist eben das Problem der institutionalisierten Kirche, und das war alles nicht falsch. Aber jetzt wird es unser Problem: wo bleibt unsere Hoffnung, wenn Gottes Plan an seinen menschlichen Verbündeten zu scheitern droht? Wenn es hier höchstens Menschen gibt, die Gottes Willen kennen, aber wenn es niemanden gibt, der das auch umsetzt – was soll dann aus unserer Welt werden?
An dieser Stelle gibt Paulus einen vorsichtigen Hinweis auf eine Antwort, die er im weiteren Verlauf des Römerbriefes noch ausführen wird. Er sagt: aber es gibt Menschen, die zwar keine Juden sind, das Gesetz Israels nicht kennen, und trotzdem tun, was das Gesetz verlangt. Es gibt Menschen, an deren Handeln man erkennt, dass sie das Gesetz in ihrem Herzen haben. Und man merkt es auch daran, dass sie in sich hin- und hergerissen sind, was sie denn tun sollen. Wer kein Gesetz kennt, braucht sich auch kein Gewissen zu machen. Wer sowieso nur an seinen eigenen Vorteil denkt, dessen Gewissen bleibt rein – denn er hat es ja nie benutzt. Wenn dir Gott und die Menschen sowieso egal sind, dann kannst du ruhig schlafen – jedenfalls solange die Dinge für dich gut laufen.
Aber, sagt Paulus, es gibt Menschen, in deren Herzen das Gesetz Gottes lebendig sein muss, denn sie laufen nicht mit wie alle anderen, sie überlegen, was richtig ist, und sie handeln dann nicht selten wirklich nach dem Willen Gottes. Was bedeutet das, dass es Menschen gibt, die den Willen Gottes besser verkörpern als die offiziellen religiösen Institutionen, sei es Israel, sei es inzwischen die Kirche?
Oder um es an diesem praktischen Beispiel der schwarzen Pädagogik in den Heimen zu sagen: was bedeutet es, wenn diejenigen, die zuerst auf diese Missstände aufmerksam gemacht waren, Außenseiter waren wie z.B. Ulrike Meinhof, die später die bekannteste Terroristin der Bundesrepublik wurde? Was bedeutet es, dass das Umdenken in diesem Bereich anscheinend nicht aus der Mitte der Kirchen gekommen ist? Was bedeutet es, wenn Jesus sagt, wie wir es vorhin in der Lesung (Matthäus 21,28-32) gehört haben: »die Zöllner und die Huren kommen eher ins Reich Gottes als ihr«?
Wer also sind diese mysteriösen Leute, von denen Paulus redet, die den Willen Gottes tun, ohne sein Gesetz zu kennen? Die Gelehrten haben sich darüber lange gestritten, und es gibt keine wirklich zwingenden Argumente dafür, wer Recht hat. Die einen sagen: es gibt eben unter allen Völkern weise, nachdenkliche Menschen, die von ihrem Herzen geleitet zu den gleichen Ergebnissen kommen, wie Gott sie in seinem Gesetz formuliert hat. Die anderen sagen: Paulus hat eine ganz bestimmte Gruppe von Heiden im Auge: diejenigen, die sich dem Evangelium geöffnet haben. Und wenn in ihrem Herzen das Gesetz lebendig ist, dann liegt das daran, dass Gott es durch seinen Heiligen Geist in ihr Herz geschrieben hat. Das hat er je schon durch die Propheten im Alten Testament – Jeremia z.B. – versprochen, dass er sein Gesetz Menschen ins Herz schreiben wird, so dass es für sie nicht mehr von außen kommt, sondern aus ihrem Innern, und sie es tun.
Ich persönlich denke, dass die zweite Antwort die bessere ist: Paulus erlebt, wie das Evangelium Menschen verändert, wie Leute aus dem heidnischen Multikulti-Völkergemisch der Hafenstadt Korinth (wo er den Brief schreibt) auf die Spur von Gottes Willen kommen und vom Heiligen Geist erneuert werden. Aber vielleicht muss man sich auch nicht unbedingt so scharf entscheiden.
Paulus denkt jedenfalls von seinen Erfahrungen mit dem Heiligen Geist aus, von seinen Erlebnissen mit Menschen, die auf anderen Wegen dazu kommen, den Willen Gottes zu tun, als man sich das bisher so vorstellte. Das ist übrigens etwas anderes als der Spruch: ich brauche die Kirche (oder die Bibel) nicht, um ein guter Mensch zu sein. Bei den wenigsten, die diesen Spruch gebrauchen, fällt auf, dass sie irgendwie ungewöhnliche, beeindruckende Menschen geworden wären.
Näheres wird Paulus noch im Verlauf seines Briefes entwickeln. Es braucht ein bisschen Geduld. Ich bin auch gespannt, wohin uns das noch führt. Wir sollten jedenfalls in einer Hinsicht tatsächlich anders sein als unsere Kultur: wir sollten nicht erwarten, dass wir die Lösung für die Rettung der Welt in einfachen, fernsehtauglichen 30-Sekunden-Statements finden können.