Zweierlei Arten von Macht
Predigt am 7. November 2010 zu Römer 1,8-17 (Predigtreihe Römerbrief 02)
8 Als Erstes möchte ich meinem Gott durch Jesus Christus für euch alle danken, denn in der ganzen Welt spricht man von eurem Glauben. 9 Gott weiß, dass kein Tag vergeht, an dem ich nicht ´im Gebet` an euch denke. Er ist mein Zeuge – er, dem ich diene, indem ich mich mit meinem ganzen Leben für das Evangelium von seinem Sohn einsetze. 10 Gott weiß auch, dass es mein Wunsch ist, endlich einmal zu euch zu kommen. Jedes Mal, wenn ich bete, bitte ich ihn darum, mir das möglich zu machen, wenn es sein Wille ist. 11 Denn ich sehne mich danach, euch persönlich kennen zu lernen und euch etwas von dem, was Gottes Geist mir geschenkt hat, weiterzugeben, damit ihr ´in eurem Glauben` gestärkt werdet – 12 besser gesagt: damit wir, wenn ich bei euch bin, durch unseren Glauben gegenseitig ermutigt werden, ich durch euch und ihr durch mich.
13 Ihr sollt wissen, Geschwister, dass ich mir schon oft vorgenommen hatte, euch zu besuchen, nur stand dem bisher jedes Mal etwas im Weg. Ich möchte nämlich, dass meine Arbeit auch bei euch ´in Rom` Früchte trägt, genauso, wie es bei den anderen Völkern der Fall ist. 14 Allen weiß ich mich verpflichtet: sowohl den Völkern griechischer Kultur als auch den übrigen Völkern, sowohl den Gebildeten als auch den Ungebildeten. 15 Darum ist es mein Wunsch, auch euch in Rom die Botschaft des Evangeliums zu verkünden.
16 Zu dieser Botschaft bekenne ich mich offen und ohne mich zu schämen, denn das Evangelium ist die Kraft Gottes, die jedem, der glaubt, Rettung bringt. Das gilt zunächst für die Juden, es gilt aber auch für jeden anderen Menschen. 17 Denn im Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht (Habakuk 2,4): »Der Gerechte wird aus Glauben leben.«
Dass es in Rom damals Christen gab, war für Paulus eine Sensation, es war ein Wunder, und am Anfang seines Briefes dankt er ausdrücklich dafür. Das ist überhaupt nicht selbstverständlich, dass es in Rom, in der Hauptstadt des Imperiums, Christen gab, Menschen, die aus der Überzeugung lebten, dass Jesus der Herr der ganzen Welt ist. Den Titel »Herr« trug damals der römische Kaiser. Rom war seine Stadt, prunkvoll ausgestattet mit Bauten; in der Mitte des Zirkus Maximus (rechts unten) standen Säulen und Denkmäler, die allen Zuschauern in Erinnerung rufen sollten, wem sie diese Einrichtung der Unterhaltung verdankten – so wie bei uns heute in den Stadien an den Banden rund um das Spielfeld Werbung angebracht ist und Fernsehübertragungen von einer Marke präsentiert werden. Rom als ganze Stadt, mit seinen Tempeln und Palästen, seinem großen Stadion und den kaiserlichen Foren, war ein Gesamtkunstwerk, das die Macht und die Herrlichkeit des Reiches verkündete.
Und das war ja damals das größte und mächtigste Reich, das die Welt je gesehen hatte. Es umfasste die ganze damalige zivilisierte Welt. Und das Zentrum dieser Machtentfaltung war der römische Kaiser: der Herr der Welt. In ihm war die Macht und die Pracht des Imperiums zusammengefasst. Er war nicht nur der Inhaber eines Staatsamtes, sondern er war gleichzeitig eine religiös aufgeladene Gestalt.
Dies ist die bekannteste Statue des Kaisers Augustus: hoheitsvoll, schön, voller Kraft und Sicherheit. Für einen einfachen Menschen damals gehörte er in eine Sphäre, an die er niemals herankam. Und tatsächlich hat man den Kaiser so dargestellt, wie man sonst nur Götter darstellte: mit nackten Füßen.
Bis heute spüren wir noch etwas von der Faszination, die von diesen Bildern ausgegangen sein muss; und es ging ja nicht einfach um Bilder, sondern um die Sache dahinter: eine Machtzusammenballung, die schier unüberwindlich schien. Und auch die einfachen Menschen, die an dieser Macht gar keinen Anteil hatten, sondern eher noch den Preis dafür zahlen mussten, wurden hineingezogen in die Faszination solcher Bilder und identifizierten sich mit einer Macht, die sie selbst gar nicht hatten.
Und Paulus dankt dafür, dass es mitten in diesem Zentrum des Imperiums Menschen gibt, die sich nicht davon faszinieren lassen. Menschen, die der Macht dieser Bilder und ihrer Propaganda widerstehen und stattdessen sagen: Jesus ist Herr. Menschen, die freiwillig den Blick abwenden von dem Glanz und der Faszination und stattdessen auf einen anderen schauen, dessen Herrlichkeit sich gerade in seinem Tod gezeigt hat: Jesus, den gekreuzigten und auferstandenen Herrn. Das ist ein anderes Konzept von Herrlichkeit: das Kreuz Jesu macht die Opfer der Macht und des Imperiums sichtbar, all das viele Blut, das geflossen ist, all die vielen Menschen, die ausgebeutet, vertrieben und gekreuzigt worden sind, damit die Herrlichkeit Roms finanziert werden konnte. Der Glanz der Macht soll ja die Schattenseiten der Macht verbergen. Aber für den, der hinschaut, sind die auch in Rom sichtbar. Hier zum Beispiel:
Dies ist einer der kaiserlichen Prunkbauten. Aber sehen Sie hinten an dem Gebäude die hohe Mauer? Die hat man gebaut, damit der Bau geschützt war vor dem ärmeren Viertel dahinter. In den ärmeren Vierteln der Hauptstadt lebten die Menschen dicht gedrängt, in Häusern, bei deren Bau oft geschlampt wurde, so dass sie gelegentlich einstürzten und ihre Bewohner unter sich begruben. Vor allem aber kam es nicht selten vor, dass ganze Stadtviertel abbrannten, weil die Wohnungen mit offenem Feuer geheizt wurden. Und für den Fall, dass das arme Viertel rechts, hinter dem Gebäude, mal wieder abbrannte, hat man diese Brandmauer gebaut, damit das Zentrum der Pracht, des Glanzes und der Macht nicht gestört wurde von dem Elend gleich nebenan. So wie heute in vielen Metropolen neben den glänzenden Vierteln der Reichen und Schönen gleich die Slums beginnen; und dazwischen sind Wachleute und Schlagbäume, damit das eine nicht zum anderen kommt.
Und die Chance ist groß, dass der Brief des Paulus an die Christen in Rom irgendwo in einem dieser ärmeren Viertel zum ersten Mal laut vorgelesen worden ist – vor einer Gemeinde von wahrscheinlich nicht mehr als 100 Menschen, eher weniger – in einer Stadt, die damals eine Million Einwohner hatte. Aber Paulus dankt für diese Gemeinde, im Zentrum des Imperiums, direkt unter den Augen des Kaisers, durchaus auch mit einzelnen Leuten aus der imperialen Verwaltung. Überall in der Welt reden die Christen davon, dass das Evangelium wunderbarer Weise jetzt selbst dort angekommen ist. Selbst in Rom gibt es Menschen, die sich nicht mehr täuschen lassen vom Glanz dieser Metropole, Menschen, die hinter die Brandmauer sehen und den Preis kennen, den zu viele bezahlen mussten für diesen kaiserlichen Glanz. Aber Gott ist groß, und Jesus lässt sich nicht aufhalten!
Und Paulus beteuert etwas umständlich und ausführlich, dass er nicht zu feige ist, um dorthin zu kommen, dass es nicht an ihm liegt, sondern dass er im Gegenteil immer wieder geplant hat, nach Rom zu reisen, aber dann kam immer etwas dazwischen. Ich habe keine Angst, zu euch zu kommen, sagt er, und wenn Gott will, dann werde ich es auch noch tun.
Man muss sich das vorstellen, wie wenn heute ein Christ aus Afrika hierher zu uns kommt, bei einem kirchlichen Austauschprogramm etwa, der in seiner Heimat eine ganze Kirche aufgebaut hat und Erfahrung hat mit christlichem Leben unter Bedrückung und mit knappen Mitteln, und er ist beeindruckt von unserem Wohlstand, und gleichzeitig sieht er aber auch, wie sehr wir in Gefahr sind, mit dem Glanz und der Sicherheit hier bei uns Kompromisse einzugehen. Genau genommen muss man sagen: Rom, das sind heute wir, die Menschen in den reichen Ländern des Nordens, in Europa und Nordamerika. Wir persönlich leben vielleicht nicht im Zentrum der Macht, auch nicht unbedingt in einem Slum, sondern so dazwischen in einem der gutbürgerlichen Viertel. Natürlich gibt es auch bei uns die Armenviertel, sie wachsen sogar im Moment. Aber aus der Sicht eines Christen aus den südlichen Ländern der Erde sind wir sicherlich in Gefahr, uns zu sehr mit dem Glanz der Macht einzulassen. Und so wie solch ein Christ oft unsicher ist, ob er uns das so offen sagen kann, so ist auch Paulus unsicher, ob er die Christen in Rom eigentlich offen daran erinnern kann, dass sie nicht ihre Identität in Jesus dem Messias vergessen sollen, ihre Wurzeln in einem der unterworfenen und unterdrückten Völker.
Denn aus römischer Sicht waren die Juden so ein ärgerliches und unterentwickeltes Volk, mit dem es auch noch immer Scherereien gab. Der Kaiser Claudius hatte sie sogar einige Jahre zuvor alle aus Rom verbannt, aber inzwischen war Claudius tot, und die Juden konnten zurückkommen. Zu den Vertriebenen hatten auch jüdische Christen gehört, sogar einige enge Freunde von Paulus. Jetzt waren sie wieder zurück in Rom, aber es war eine merkwürdige Situation: die Gemeinde war eine Zeit lang ohne ihre jüdischen Mitglieder gewesen, und es kann sein, dass die Christen römischer Abstammung sich sozusagen daran gewöhnt hatten, eine nichtjüdische Gemeinde zu sein, dass sie in Gefahr standen, ihre jüdischen Ursprünge zu vergessen.
Und es ist eins der Anliegen des Römerbriefes, die Gemeinde wieder neu zu verankern in ihrem jüdischen Ursprung, sie wieder einzuwurzeln in ihrem Heimatboden, damit sie fest stehen und nicht der Faszination des imperialen Glanzes zum Opfer fallen. Die römischen Christen ohne jüdische Wurzeln waren in Gefahr, ihren Ursprung zu vergessen und einfach zu einer religiösen Gruppe unter vielen zu werden, von denen es in einer Metropole eben nur so wimmelt.
Deshalb hat Paulus ganz am Anfang (v. 3) daran erinnert, dass Jesus ein Nachkomme Davids ist, des großen Königs von Israel. Und er betont: ich schäme mich des Evangeliums nicht, ich habe keine Angst, dass die Botschaft von Jesus, der an einem römischen Kreuz starb, in Rom machtlos ist. Denn Jesus ist auferstanden, und die Macht Gottes, die ihn ins Leben zurückgerufen hat, die wirkt in meinem Evangelium, und die wirkt in allen, die an Jesus, den Messias Israels, glauben. Und so stehen hier zwei Arten von Macht ganz dicht nebeneinander: die Macht des Kaisers, die auf der Macht zu töten beruht, auf der Macht, zu kreuzigen; und die Macht Gottes, die darin besteht, Leben zu schenken – die Macht, die Jesus bis in den Tod hinein an Gott festhalten ließ und die den Gekreuzigten von den Toten auferweckte.
Und Paulus kann aus der Erfahrung von vielen Jahren Arbeit für Jesus Christus sicher sagen, dass die Botschaft von dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn etwas bewirkt. Wenn er davon spricht, dass Jesus der wahre Herr der Welt ist, und dass die lebensschaffende Macht Gottes die entscheidende Kraft in der Welt ist, dann bewirkt das etwas. Mindestens bei einigen der Zuhörer passiert dann etwas: die neue Welt Gottes, die im auferstandenen Jesus zuerst sichtbar wurde, die wird dann auch in den Herzen, Gedanken und im Lebensstil derer lebendig, die diese Botschaft hören, mindestens bei einigen von ihnen. Und das holt sie heraus aus der Faszination durch den imperialen Glanz. Das bringt das Leben auf beiden Seiten der Brandmauer durcheinander: auf der glänzenden Seite können sie nicht mehr den Preis übersehen, der für diesen Glanz bezahlt werden muss, und in den Slums können sie sich nicht mehr mit dem Elend anfreunden, weil sie gemerkt haben, dass es eine Alternative gibt. Und gemeinsam organisieren sie Nachbarschaftshilfe und teilen ihr Essen und ihre Wohnungen und überwinden in der Gemeinde des Messias Jesus alle Mauern und Grenzen, die die Menschen voneinander fern halten.
Das ist Rettung. Wir haben uns gewöhnt, dabei vor allem an ein Leben nach dem Tod im Himmel zu denken; und wenn wir an dieser Stelle in der Lutherübersetzung lesen, dass es darum geht, »selig zu werden«, dann haben wir das Gefühl: so steht es doch in der Bibel. Aber das ursprüngliche Wort, das Paulus geschrieben hat, heißt »Rettung«. Dazu gehört natürlich, dass Gott für uns sorgt, wenn wir einmal tot sind, und erst recht wird er für uns sorgen, wenn wir um Jesu willen den Tod finden. Wir müssen uns nie wieder Sorgen darum machen, was mit uns nach dem Tod geschieht. Aber die entscheidende Rettung ist, dass Menschen herausgeholt werden aus der Faszination durch die Macht, aus der Faszination dieses Systems, in dem alle drinstecken, und sei es nur, weil sie glauben, sie hätten keine Alternative.
Aber in meinem Evangelium, sagt Paulus, da kommt die Kraft der Rettung, weil dort die Verheißung in Sicht kommt, dass Gott treu ist, vertrauenswürdig, dass Gott nicht schläft, sondern daran arbeitet, diese Erde zu erneuern. Das ist Gottes Gerechtigkeit, dass er der Erde, die er geschaffen hat, treu bleibt, und das hat er bewiesen, als er Jesus von den Toten auferweckte. Auf Gott kann man sich verlassen, und das ändert alles. Wenn die Menschen anfangen zu glauben, dass man sich auf Gott verlassen kann, das ist der Anfang vom Ende des imperialen Glanzes.
Stellen Sie sich eine Schulklasse vor, wo ein paar Leute die anderen alle tyrannisieren. Wir haben ja genügend solche Geschichten lesen und sehen können, wo Schüler manchmal ganz grausam von anderen misshandelt worden sind. Das geht nur so lange, wie die gepeinigten Opfer (oder auch einfach unbeteiligte Zeugen) sich nicht trauen, sich an Erwachsene zu wenden, an Lehrer, Eltern oder andere. So lange sie nicht das Zutrauen haben, die würden ihnen helfen. In dem Moment, wo einer den Mut fasst und sich einem vertrauenswürdigen Erwachsenen anvertraut, da ist die Herrschaft der Mobber gebrochen.
Und genauso ist es mit Gott: wenn ein Mensch dazu durchbricht, Vertrauen zu Gott zu fassen und sich ihm anzuvertrauen, dann ist die Herrschaft der Herren dieser Welt gebrochen, zuerst im Kleinen, aber das ist nur der Anfang. Wenn sich das herumspricht, dass Gott gerecht ist (das heißt: dass er zuverlässig und treu ist), das verändert alles. Wenn es sich herumspricht, dass Gott den Tod aufhebt, mit dem die Kaiser drohen können, dann bröckelt der Kern ihrer Herrschaft. Wenn es sich herumspricht, dass es ein reiches und lohnendes Leben gibt auch ohne die Schattenseiten: nämlich die Brutalitäten und Grausamkeiten der Macht, dann werden die Menschen in Scharen überlaufen.
Aber dazu braucht es die Menschen, die als Pioniere dieses Evangelium mitbringen und leben: große Gestalten wie Paulus und weniger auffällige wie dich und mich. Dafür braucht es Menschen, die bereit sind, sich auf ungewöhnliche Denkwege einzulassen wie den Römerbrief. Der ist schwierig, nicht weil seine Gedanken im Prinzip so komplziert wären, sondern weil wir die Propaganda viel gewohnter sind. Ungewohnte Gedanken erscheinen uns immer besonders kompliziert, weil wir sie selten oder nie gedacht haben. Unser Gehirn denkt lieber in bekannten und gebahnten Wegen. Aber der erste Schritt in Gottes neue Welt ist, sie jedenfalls anfangsweise zu begreifen und sie uns vertraut werden zu lassen. Dazu sind wir berufen, jeder persönlich, nicht um irgendwie unentschieden zwischen Baum und Borke zu sitzen, sondern um von ganzem Herzen und mit allem was wir sind zu sagen: Jesus ist mein Herr und kein anderer, und ich werde jeden Gedanken an andere Herren aus meinem Herzen tilgen, wenn ich darauf stoße.
Vielleicht sollte uns dieses Bild dazu motivieren können: es sind die Ruinen des Forums in Rom heute. Immer noch beeindruckend, aber sie zeigen uns, dass aller imperiale Glanz früher oder später vergeht (in der Regel früher). Heute, wo wir so deutlich spüren, dass unser ganzer Lebensstil auf tönernen Füßen steht, wo es so naheliegend ist, dass wir irgendwann an einer schrecklichen Gefahr nicht mehr noch gerade eben vorbeischliddern werden, heute sollte uns das Bild solcher Ruinen klug werden lassen: damit wir nach der Macht fragen, die bleibt, und uns öffnen für die Herrschaft des wahren Königs Jesus, des Messias Israels und Herrn der ganzen Welt.