Wenn sich die Wege trennen – Hoffnung über den Tod hinaus
Predigt im Besonderen Gottesdienst am 17. November 2002 zu Psalm 90,12
Der Predigt ging eine Szene voran, in der eine Situation am Bett einer Krebskranken dargestellt wurde, sowie ein Interview mit einer Frau mit Erfahrungen in der Altenpflege.
»Ich kann nicht Abschied nehmen, es fällt mir so schwer« sagt die Tochter in der Szene, die wir vorhin gesehen haben. Und den anderen fällt es offensichtlich auch ganz schwer, obwohl sie selbst mit der Mutter ja gar nicht verwandt sind. »Keiner will meine Mutter sehen« sagt die Tochter. Die Freudin mag gar nicht gern im Krankenhaus sein, der Arzt geht weg, nachdem er gesagt hat, dass die Mutter jeden Tag sterben kann, der Pastor rettet sich mit formalen Worten vor der Konfrontation mit dem Abschied.
Und auch die Tochter macht das ja nicht viel anders, wenn sie mit der Mutter einfach so weiterredet, als ob nichts geschehen sei. »Niemand will sie sehen« – das heißt ja: niemand will die Realität der Trennung sehen, die Wirklichkeit des Abschiednehmen-Müssens. Und die, die nicht daran vorbeikommen, dieser Realität zu begegnen, die ignorieren sie in ihrem Verhalten einfach und machen weiter wie immer. Sie reden nicht darüber, obwohl es ihre ganzen Gedanken mit Beschlag belegt.
Nach meinem Eindruck sterben die meisten Menschen bei uns, ohne vorher mit irgendjemandem darüber gesprochen zu haben. Noch nicht mal mit ihrem Ehepartner. Man muss sich mal vorstellen, was das heißt: für uns alle ist es das Normale, über die ganzen kleinen Dinge des Lebens zu sprechen, in der Familie oder am Telefon, mit guten Freunden oder irgendwie anders. Es gibt Unterschiede, die einen sind da viel gesprächiger als die anderen, aber im Prinzip sprechen wir mit Menschen durch, was uns bewegt und beschäftigt. Aber wenn dann einer auf sein Lebensende zugeht und ihn und die anderen die Frage bewegt: werde ich noch mal rauskommen aus diesem Krankenhaus, wird sie es noch mal schaffen, sind seine Kräfte jetzt wirklich zu Ende – wenn sich alle mit diesen Fragen rumquälen, dann bleiben sie alle stumm. Man spricht darüber, wer heute morgen beim Bäcker war, aber nicht darüber, dass der Mensch, der mir vielleicht am nächsten steht, morgen möglicherweise nicht mehr leben wird. Vielleicht hat er versuchsweise mal gesagt: »ich glaube, mit mir wird das nichts mehr«, aber dann haben sie alle schnell gesagt: so darfst du doch nicht reden, das schaffst du schon, denk doch mal dran, du wolltest doch nächsten Sommer noch mal verreisen, bis dahin bist du wieder fit!
Und alle wussten, dass das nicht stimmt.
Wie kommt das, dass wir so miteinander reden?
Es gibt einige verständliche Gründe. Wenn einer sagt: ich glaube nicht, dass ich noch lange lebe, dann stellt er damit seinen Platz in der Welt zur Disposition. Und es kann passieren, dass die anderen damit rücksichtslos umgehen. Vielleicht denkt dann keiner mehr an den Sterbenden, weil sie alle schon dabei sind, sich um die Erbschaft zu streiten.
Neulich hörte ich eine Geschichte, wie noch zu Lebzeiten eines Menschen der Termin für die Beerdigung abgestimmt wurde und schon alle Absprachen getroffen und alles arrangiert war. Er ist dann wohl auch wirklich pünktlich gestorben. Schrecklich!
So was kann wirklich passieren. Und deshalb ist es verständlich, wenn Menschen eine Scheu haben, zu sagen: ich merke, dass ich nicht mehr lange leben werde. Ich glaube, dass sehr viele Menschen das vorher spüren, aber ich verstehe, dass man aufpassen muss, dass man nicht schon zu Lebzeiten abgeschrieben wird.
Aber diese berechtigte Sorge kann doch wohl nicht der Grund für diese Sprachlosigkeit sein, dass die meisten Menschen dem dramatischsten Ereignis ihres Lebens entgegengehen, ohne mit irgendwem darüber gesprochen zu haben!
Und es kommt natürlich der Moment, wo ein Mensch sich zum Schluss auch von den nächsten Menschen zurückzieht, weil selbst dafür die Kräfte nicht mehr reichen und wo er dann wirklich allein das letzte Stück seines Weges geht. Und natürlich wird jeder von uns dann allein vor Gott stehen. Aber auch das bedeutet doch nicht, dass man schon vorher darüber nur schweigen kann. Gerade weil eigentlich noch so viel zu sagen wäre und weil, wie wir es vorhin im Interview gehört haben, gerade die Angehörigen meistens so eine große Bedeutung haben. Aber selbst da, wo Menschen äußerlich gesehen nicht allein sind, kann es doch sein, dass sie mit ihren Gedanken an ihren Tod allein bleiben, weil keiner ihnen behutsam hilft, auszusprechen, was sie bewegt.
Warum diese Sprachlosigkeit?
Weil Loslassen so schwer ist – und Menschen ignorieren deshalb so lange wie möglich diese Wirklichkeit des Todes, die eben genau das bedeutet: Loslassen, loslassen, loslassen. Zu sterben heißt ja nicht ganz abstrakt, das Leben aufzugeben, sondern das ist ein ganz konkreter Abschied – oft von der eigenen Wohnung, von dem vertrauten Bett in dem man liegt und dem Stuhl, in dem man so lange gesessen hat, und dann natürlich von den Menschen, die einen über längere oder kürzere Zeit begleitet haben. Abschied von den Menschen, deren Bilder an der Wand hängen, deren Leben man lange begleitet hat. Abschied von den Arbeiten und Aufgaben, die man gehabt hat. Abschied von den kleinen und großen Freuden.
Und andersherum natürlich auch: Abschied von einem Menschen, der einen vielleicht schon ein Leben lang begleitet hat. Abschied von einem Menschen, der ein Teil des eigenen Lebens gewesen ist, vielleicht ein ganz großer Teil. Manchmal auch ein Abschiednehmen und Loslassen von Ärger und Konflikten, die einen geprägt haben. Loslassen der Hoffnung; dass dieser Mensch sich doch irgendwann noch mal ändern wird und einem das gibt, was man sich immer von ihm erhofft hat.
Ich glaube gar nicht mal, dass die Menschen so sehr die Frage bewegt, was nach dem Tod kommt, als viel mehr die Frage, was sie dadurch verlieren werden. Die Frage, was sie werden loslassen müssen.
Loslassen kann etwas ganz schweres sein, und Menschen gehen nicht gerne auf die Einsicht zu, dass das nun ansteht. Deswegen heißt es ja im 90. Psalm:
Und so lange wir das nicht lernen, werden wir natürlich auch miteinander das nicht bedenken können. Und wir werden dann isoliert und allein und unvorbereitet dem unausweichlichen Ende unseres Lebens entgegengehen, und vielleicht lassen uns am Ende Schmerzen und Medikamente und Schwäche gar nicht mehr die Zeit, um unser Leben abzuschließen und das noch zu sagen, was gesagt werden muss.
Deswegen ist das ja auch als Bitte formuliert, Gott möge uns lehren, er möge uns helfen, das zu bedenken. Sich das wirklich klar zu machen: eines Tages wird das alles nicht mehr sein, alles, womit ich gelebt habe, das geht über unsere Kräfte hinaus. Das ist für Menschen zu schwer, sich dieser Tatsache zu stellen: ich werde alles loslassen müssen. Wie hilft uns Gott dabei? Er zeigt uns, wie dieses Loslassen die Vorbereitung ist auf die Fülle seiner Ewigkeit, in der er uns mit dem Guten beschenken will, was wir hier immer nur andeutungsweise und für einen Augenblick schmecken.
Wenn wir tatsächlich glauben, dass dieses Leben hier alles ist, wenn es nicht mehr besser werden kann, als es ist, dann werden wir versuchen, aus diesem Leben herauszupressen, was irgend geht. Wir werden immer mehr in diese kurze Lebenszeit hineinstopfen, wir werden hektisch und anspruchsvoll werden, und wir werden damit dieser Welt eine Last auflegen, die zu tragen nie ihre Bestimmung war.
Diese Welt ist immer nur gedacht gewesen als eine begrenzte Vorbereitung auf die unendliche Gemeinschaft mit Gott, zu der er uns berufen hat. Dass wir in uns ein Verlangen nach Glück tragen, das in dieser Welt bestenfalls für einen Augenblick gestillt werden kann, das ist ein Hinweis darauf, dass wir für eine andere Welt geschaffen worden sind.
Eine Perspektive nach vorne bekommt das alles nur, wenn wir unser Leben verstehen als Hinweis und Vorgeschmack von etwas Größerem und Besserem.
Wenn wir diesen Augenblick des Glücks erleben: in einem Moment des Verstehens und der Gemeinschaft mit einem nahen Menschen, oder in der Leichtigkeit und Schönheit eines goldenen Urlaubstages, oder in der Freude an einer gelungenen Arbeit: dann sollen wir das dankbar annehmen als eine erste Probe des Duftes, der in der Ewigkeit weht. Wir sollen verstehen,
- dass uns das Gelingen wie das Nichtgelingen in unserem Leben hinausweist über die Grenzen dieser Welt;
- dass Gott uns die Ewigkeit ins Herz gelegt hat, wie der Prediger Salomo (3,11) es formuliert, und
- dass wir die vorläufigen Zeichen und Hinweise getrost aus der Hand geben können, wenn die Stunde gekommen ist, in der wir das Original sehen sollen.
Das ist dann immer noch schwer genug, weil uns auch die vorläufigen Hinweise schon ans Herz gewachsen sind. Die sind ja Teil unseres Lebens! Und deswegen brauchen wir alle Menschen, die uns als Gesprächspartner zur Verfügung stehen und uns helfen, diese grundsätzliche Wahrheit für unser persönliches Leben durchzubuchstabieren. Das war es ja, wovor sich da in der Szene vorhin auch der Pfarrer gedrückt hat, seine theologischen Sätze mit den Menschen so durchzuarbeiten, dass daraus Hilfe und Inspiration zum Leben und Sterben werden kann. Wenn wir nicht ganz souveräne Denker sind, dann brauchen wir für die wirklich wichtigen Überlegungen Menschen, die uns zuhören, die uns Rückmeldung geben, die uns weiterhelfen, wenn wir festhängen. Wir erkennen uns selbst erst im Dialog mit anderen.
Aber das alles macht erst dann wirklich Sinn, wenn die Voraussetzung dafür da ist: wenn deutlich ist, dass ein größeres Leben der Fülle auf uns wartet. Wenn das nicht so ist, dann bleibt wirklich nur noch die Devise: lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir sowieso tot. Lasst uns einen Kuchen backen und ihn ganz aufessen, denn wir wissen nicht, ob wir für die Reste morgen noch Zeit haben. Und andererseits: lasst uns solange wie möglich nicht an unser Ende denken, und lasst uns die Unglücklichen meiden, die es leider Gottes jetzt schon trifft.
In den Tagen nach dem Attentat auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 hatte dort jemand den Namen und die Nummer seiner Feuerwehrbrigade an eine Wand geschrieben und dazugeschrieben: »Alle laufen weg. Wir laufen hin.« Und der Mann, von dem ich das erfahren habe, hat hinzugefügt, dass die Christen in den ersten Jahrhunderten genau das taten: wo die Heiden wegliefen, wenn in den Städten Seuchen, Erdbeben und Brände ausbrachen, da blieben die Christen und kümmerten sich um die Kranken und Sterbenden. Ich denke, dass das nicht nur in solchen dramatischen Situationen gilt, sondern überhaupt ein Kennzeichen der Christen sein muss: dass wir uns nicht fürchten vor der Begegnung mit Tod und Zerstörung in jeder Form. Nicht weil wir denken, dass uns so etwas nicht passieren kann, aber weil wir uns diesen Realitäten ganz anders stellen können als jemand, der von der Auferstehung Jesu nichts weiß, oder jedenfalls nicht von dort aus lebt und denkt.
Jesus hat uns gelehrt, dass unser Leben hier auf der Erde immer auch eine Einübung in das Abschiednehmen ist. Wer sein Leben festhalten will, der wird es verlieren, aber wer bereit ist, es um Jesu willen loszulassen, der wird ein reicheres und besseres Leben finden, schon jetzt. Aber wenn wir uns eingeübt haben in diese Erfahrung, dann sind wir auch vorbereitet, um eines Tages unser Leben ganz loszulassen und ein neues und größeres Leben zu empfangen.