„Das ist unfair“ – Vorwürfe an Gottes Adresse
Predigt im Besonderen Gottesdienst am 9. Oktober 2005 mit Psalm 13
Der Gottesdienst begann mit einer Szene, in der eine Frau sich heftig bei Gott beklagte (»ich will nicht immer nur geben!«), ohne ihr eigenes Verhalten in Frage zu stellen.
2 HERR, wie lange willst du mich so ganz vergessen? Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir? 3 Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele und mich ängsten in meinem Herzen täglich? Wie lange soll sich mein Feind über mich erheben?
4 Schaue doch und erhöre mich, HERR, mein Gott! Erleuchte meine Augen, dass ich nicht im Tode entschlafe, 5 dass nicht mein Feind sich rühme, er sei meiner mächtig geworden, und meine Widersacher sich freuen, dass ich wanke.
6 Ich aber traue darauf, dass du so gnädig bist; mein Herz freut sich, dass du so gerne hilfst. Ich will dem HERRN singen, dass er so wohl an mir tut.
Sie erinnern sich bestimmt noch an die ältere Dame in der Szene am Anfang des Gottesdienstes und ihre lange Anklage an Gott. Lassen Sie uns mal überlegen: was würden wir der eigentlich sagen, wenn wir ihr antworten müssten? Wir hätten ja wahrscheinlich das Gefühl, dass mit der etwas nicht stimmt. Aber warum lässt Gott das wohl zu, dass ein Räuber sie fesselt?
Man könnte ihr vielleicht antworten: glaubst du, dass ein Stündchen Gebet in der Woche reicht, und schon muss Gott alle deine Wünsche erfüllen? Findest du nicht, dass Gott da ein schlechtes Geschäft macht?
Oder man könnte sie fragen: wer ist eigentlich wirklich dein Gott? Ist nicht dein Geld und deine ruhige Existenz das wichtigste in deinem Leben? Und hat nicht Jesus angekündigt, dass Einbrecher kommen und uns unsere Schätze rauben werden?
Man könnte es auch grundsätzlicher angehen und sagen: das Verhältnis zu Gott ist kein Austauschverhältnis, egal, wie die Konditionen auch sein mögen, man kann nie von Gott eine Leistung einklagen, es ist immer sein freies Geschenk. Das heißt, man kann nie so mit Gott handeln. Und deswegen sind alle Anklagen gegen Gott auf dieser Basis sinnlos.
Trotzdem, es bleibt die Frage, welchen Grund Gott hatte, als er das zuließ, dass die arme Rita diese schrecklichen Minuten durchmachen musste. Er hätte es ja verhindern können. Warum hat er das nicht einfach freiwillig gemacht?
Es ist natürlich immer ein Wagnis, Gottes Motive herausfinden zu wollen, und erst recht in so einem Fall, wo es um ein Theaterstück geht. Trotzdem könnte man sagen: Rita hatte sich einfach so komfortabel eingerichtet in ihrem Bild von Gott und der Welt, das konnte Gott nicht zulassen, das musste er kräftig erschüttern. Es wäre schlimm, wenn er Rita ihr Gottesbild einfach bestätigen würde. Da musste offensichtlich ein starkes Erlebnis her, damit Rita aus ihrer ruhigen Gemütlichkeit aufwacht.
Also, wenn Rita mich fragen würde, dann würde ich vielleicht sagen: Gott musste dich darauf hinweisen, dass er sich von dir nicht die Regeln vorschreiben lässt. Und auch, wenn am Ende alles gutgegangen ist, das ganze soll dir zeigen: Gott möchte mehr von dir als diese Stunde am Montagmorgen. Gott möchte dein Leben gestalten und nicht nur die Unfallversicherung sein.
Aber jetzt kommt die andere Frage: glauben Sie, dass Rita das verstehen würde? Glauben Sie, dass sie sagen würde: aha, so ist das also! Jetzt verstehe ich Gott endlich, schönen Dank auch! Ich vermute, so wird es nicht sein. Ich vermute, die Wahrscheinlichkeit ist viel größer, dass ich von ihr eine böse Antwort bekommen würde, so nach der Art: dass sie sich das nun wirklich nicht sagen lassen muss und wie ich denn auf solche Gemeinheiten käme.
Ich könnte mir gut vorstellen, dass ich keine Möglichkeit fände, ihr klarzumachen, dass Gott sich das Verhältnis zwischen ihr und ihm anders vorstellt. Ich könnte mir vorstellen, dass sie fest behaupten würde, das Problem läge nicht bei ihr, und dass niemand sie von dieser Meinung abbringen könnte. Und dass sie am Ende so schnell befreit wurde und auch noch ihr Geld zurückbekommen sollte, das würde sie als Bestätigung für ihre Art des Verhältnisses zu Gott sehen und nicht als Gottes Freundlichkeit, der ihr einen Hinweis geben wollte, ohne sie zu schädigen.
Verstehen Sie, worauf ich hinauswill? Diese Frage »Wie kann Gott das nur zulassen? Warum macht er das?«, die ist für einen Zuschauer oft gar nicht so schwer zu beantworten, obwohl sie für den Menschen selbst ein großes Rätsel bleibt. Und es gibt keine Möglichkeit, es ihm einfach mal schnell zu erklären.
Können Sie sich vorstellen, dass das nicht nur bei Rita so ist? Ich will nicht behaupten, dass es in allen Fällen so ist, aber oft sehen andere deutlicher, warum Gott mit uns so und nicht anders umgeht. Andere kapieren manchmal besser als wir selbst, worauf uns Gott mit einem irritierenden Erlebnis aufmerksam machen will, aber das nützt oft gar nichts, weil sie keinen Weg finden, uns das zu erklären.
Und wenn wir jetzt noch einen Schritt weitergehen: kann es sein, dass auch dann, wenn kein anderer Mensch eine Erklärung hat, Gott trotzdem seine Gründe hat, aber er kann sie uns auch nicht erklären. Wir haben einen blinden Fleck, und dann gibt es keinen Weg, auf dem wir Gottes Gründe verstehen könnten. Vielleicht werden wir irgendwann mal zurückschauen und sagen: jetzt begreife ich, warum das so sein musste! Vielleicht wird diese Einsicht aber auch in diesem Leben niemals kommen. Auch hier: ich will nicht behaupten, dass das die Antwort auf alle unbeantworteten Fragen an Gott ist. Aber ich würde auch nicht behaupten, dass so etwas nur selten vorkommt.
Wir müssen in Betracht ziehen, dass Gott uns auf eine ganze Menge »Warum«-Fragen keine Antwort geben kann, weil wir einfach nicht in der Lage sind, seine Antworten zu verstehen, und zwar nicht, weil wir zu unintelligent sind, sondern weil wir als Person nicht in der Lage sind, diese Antwort aufzunehmen. Wir schauen uns Rita an und schmunzeln über die Widersprüche in ihrem Denken und ihrem Leben, aber auf einer etwas tieferen Ebene sind wir genauso blockiert wie Rita, wenn wir die Widersprüche unseres Lebens ins Auge fassen sollen.
Die Sache wird noch dadurch verschärft, dass in unserer Kultur die Überzeugung herrscht, dass skeptische Menschen besonders klug sind – jedenfalls klüger als die, die glauben. Jeder, der meint, er habe Widersprüche und Fehler im Handeln Gottes gefunden, kommt sich unheimlich klug und mutig vor, während er in Wirklichkeit nachplappert, was schon soundsoviele vor ihm gesagt haben. Man muss immer genau hinhören: sucht da jemand wirklich für sich persönlich und findet keine Erklärungen für etwas, was ihm zugestoßen ist? Oder kommt sich da einer nur besonders schlau und kritisch vor?
Die ganzen »Warum«-Fragen sind in der Bibel schon längst gestellt worden, z.B. in den Psalmen: »HERR, wie lange willst du mich so ganz vergessen? Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir? 3 Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele und mich ängsten in meinem Herzen täglich? Wie lange soll sich mein Feind über mich erheben?« Solche Sätze findet man überall in den Psalmen. Und Jesus hat sich in diese Tradition der Klage hineingestellt; er starb am Kreuz mit einem Psalmzitat auf den Lippen: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Und er bekam keine Antwort. Aber er hielt an Gott fest, und der antwortete nach drei Tagen mit der Auferstehung.
Bei Jesus und schon in den Psalmen ist diese Frage nach dem Warum nicht das Letzte. In den Psalmen ist das ein Zwischenschritt, und am Ende finden die Beterinnen und Beter zurück ins Vertrauen zu Gott, manchmal bekommen sie eine Zusage von Gott, manchmal ändert sich etwas in der Realität, manchmal ringen sie sich durch, auf jeden Fall entschließen sie sich am Ende ihres Weges, Gott trotz allem zu vertrauen. Das ist der Weg, auf dem die »Warum«-Fragen irgendwann eine Antwort finden. Sie müssen gestellt werden, ob fragend oder anklagend. Es ist in Ordnung, wenn sie uns bewegen; nur so kann die Geschichte weitergehen auf ein sinnvolles Ende hin. Bei Jesus war die »Warum«-Frage am Kreuz gewachsen aus seiner Vertrautheit mit Gott, den er doch ganz anders kannte. Das war keine oberschlaue Spitzfindigkeit, sondern er verzweifelte am Widerspruch zwischen diesem freundlichen Gott und der Realität, die er an seinem Leibe qualvoll erlebte. An diesem Widerspruch ist er gestorben, und alle seine Nachfolger erleiden immer wieder den Riss in der Welt, den Widerspruch zwischen Gottes Güte und dem Leid der Welt, die kein Paradies mehr ist.
Diese Erfahrung wird Menschen immer wieder dazu bringen, nach Gott zu rufen, damit er kommt und die Welt heilt. Und wenn diese Frage stark genug ist, dann wird sie uns am Ende auch dazu bringen, dass wir Antworten akzeptieren, die wir jetzt noch nicht verstehen, weil wir sie nicht hören wollen. Wenn die alte Dame aus der Szene vorhin immer weiterfragen würde und nicht gleich wieder zurückfallen würde in die beruhigenden Deutungsmuster, die jede Frage platt machen, dann würde sie am Ende doch etwas von der Antwort verstehen, auch wenn es ihr nicht schmecken würde. Wenn die Frage in unserem Kopf lebendig bleibt, dann erschüttert sie allmählich unsere bisherigen Gewissheiten und Selbstverständlichkeiten. Wenn der Druck groß genug ist, dann fangen wir auch an, Antworten zu hören, die wir zu normalen Zeiten weit von uns gewiesen hätten. Ich fürchte, dass Gott in Zukunft den Druck auf Rita erhöhen wird, wenn sie aus dem Erlebnis mit dem Einbrecher nichts gelernt hat.
Gott nimmt uns manchmal etwas weg, was wir sehr lieben, er durchkreuzt unsere Pläne wie ein gemeiner Spielverderber, er nimmt uns den Himmel weg, den wir uns selbst konstruiert haben, weil er bessere Pläne mit uns hat: wir sollen ein Teil seiner größeren Ewigkeit werden. Würde er es nicht tun, dann würden wir unerschüttert auf unserem Weg weitergehen, und wir würden für nichts anderes mehr Aufmerksamkeit haben. Wir würden uns wie Rita einspinnen in unserer kleinen Welt, wo alles scheinbar an seinem Platz ist, ungefährlich, nett und völlig beschränkt.
Wie alle Antworten auf die Frage nach dem Warum Gottes ist auch diese nicht vollständig, sie ist nicht endgültig, aber ich glaube, wir sollten sie ernsthaft in Betracht ziehen: Gott bereitet uns mitten in unserm Widerspruch und unseren unbeantworteten Fragen auf etwas Neues vor. Wir hätten für dieses Neue überhaupt keinen Sinn ohne all die Leiden und Fragen. Auch so ist es noch schwierig genug, und es ist längst nicht gesagt, dass es am Ende auch gelingt. Zu groß ist die Versuchung, sich mit einigen Schein-Antworten zufriedenzugeben oder für immer in der Haltung des klugen kritischen Fragers einzurichten. Aber Fragen sind kein Selbstzweck. Es geht um die Antworten. Und in allen Widersprüchen und Widerfahrnissen bereitet uns Gott auf seine Antworten vor, die ganz anders aussehen, als wir es von uns aus gedacht hätten.