Rhythmen des Lebens (4): Der Winter
Predigt am 27. Januar 2008 mit Psalm 88
Wenn einen gleich mehrere Schicksalsschläge hintereinander treffen, das kann ein Grund für einen Wintereinbruch in der Seele sein. Nicht jeder von uns wird eine Landtagswahl verlieren, aber wir alle kennen Momente, in denen das Leben still zu stehen scheint, wo wir wie gelähmt und erstarrt sind, weil ein wichtiger Teil unserer Welt zerbricht.
Der Winter der Seele ist die Jahreszeit, die auf einen schweren Verlust folgt oder auf eine große Gefahr, in die man geraten ist. Ein Mensch verschwindet aus deinem Leben. Beruflich gibt es einen schweren Rückschlag. Es wird unübersehbar, dass die Gesundheit ernsthaft gefährdet ist. Es hat gebrannt, und dein Zuhause ist zerstört. All solche Dinge. Da ist etwas fort, zerstört, verloren, und noch nichts neues ist an seine Stelle getreten. Und du bist dir auch nicht sicher, dass etwas Neues kommen wird. Es sieht so aus, als ob da gar nichts mehr wachsen wird. Das ist Winter.
Oder jemand ist ohne Sicherheitsabstand dem Tod begegnet, dem eigenen oder dem von anderen. Er hat sehr deutlich erlebt, wie schnell das Leben zu Ende gehen kann: ein schwerer Unfall, den man gerade so überlebt hat. Oder ein Unfall von anderen. Eine Operation, von der man sich erst über Monate langsam wieder erholt. All solche Dinge. Das ist Winter.
Oder die Spuren von Unterdrückung und Herabwürdigung, die uns andere angetan haben. Man hat uns gemobt und uns unsere Ohnmacht und Hilflosigkeit spüren lassen. Jemand hat uns immer wieder unsere Energie abgezapft, uns um unseren Lebensmut gebracht, und wir haben es nicht verhindert. Vielleicht haben wir es lange nicht gemerkt. Vielleicht haben wir lange in Angst gelebt, unter entwürdigenden Bedingungen, und konnten unsere Lage nicht ändern. Und jetzt sind wir am Ende mit unserer Kraft. Das ist Winter.
Vielleicht haben wir längere Zeit viel zu viel gearbeitet. Noch eine Aufgabe, noch ein Problem, noch ein Konflikt. Es hört einfach nicht auf, und allmählich gehen unsere Reserven zu Ende. Wir haben noch nicht mal mehr die Kraft, etwas Schönes zu genießen. Auch die Menschen, die wir gern haben, sind nur noch Belastung. Vor lauter Erschöpfung können wir nicht mehr schlafen – das gibt es wirklich. Wir wollen nur noch weg. Das ist Winter.
Unsere Seele reagiert dann nicht selten mit Erstarrung. Sie friert sozusagen ein. Wir stehen neben uns, wir machen weiter wie ein Roboter, der keine Gefühle hat und nur äußerlich funktioniert. Das ist ein Schutz (unser letzter), aber es ist auch ein Notsignal. Und dann wächst auch nichts mehr. Wir haben nicht mehr die Energie für Neues und Kreatives.
Es ist bemerkenswert, dass solche Wintererlebnisse in der Bibel immer wieder auftauchen. Da ist Hiob, den ein Schicksalsschlag nach dem anderen trifft. Da ist das zerstörte Jerusalem, das in den Klageliedern Jeremias geschildert wird: alles Schöne ist zerstört, verbrannt, vernichtet, Hunger und Gewalt herrschen, und die Menschen fangen gerade erst an zu begreifen, was ihnen angetan worden ist. Oder das Volk Israel nach der Befreiung aus Ägypten: sie hatten Gott nicht mehr vertraut, und in der Folge mussten sie 40 Jahre in der Wüste herumirren, vor den Toren des verheißenen Landes, bis eine ganze Generation ausgestorben war, und mit ihr die Sklavenmentalität, die sie verkörperte. Ein Winter von 40 Jahren für ein ganzes Volk.
Oder denken Sie an Jesus am Kreuz: das ist in der Bibel der Winter aller Winter. Das Menschenleben, auf das es ankommt, die entscheidende Chance der Menschheit – und das wird brutal zerstört. Jesus begegnet den Mächten der Zerstörung in ihrem ganzen Schrecken und ihrer ganzen Brutalität, und er stirbt daran. Für seine Jünger ist alles zerbrochen, was sie liebten und worauf sie gehofft haben. Der Winter hält Einzug in ihre Herzen.
In vielen Psalmen werden dieser Wintererfahrung Worte gegeben. Z.B. im Psalm 88:
2 HERR, Gott, mein Heiland, ich schreie Tag und Nacht vor dir. 3 Lass mein Gebet vor dich kommen, neige deine Ohren zu meinem Schreien. 4 Denn meine Seele ist übervoll an Leiden, und mein Leben ist nahe dem Tode. 5 Ich bin denen gleich geachtet, die in die Grube fahren, ich bin wie ein Mann, der keine Kraft mehr hat. …
9 Meine Freunde hast du mir entfremdet, du hast mich ihnen zum Abscheu gemacht. Ich liege gefangen und kann nicht heraus, 10 mein Auge sehnt sich aus dem Elend.
So geht das den ganzen Psalm durch. Aber dann wird der Schmerz zusammengefasst in diesem Satz:
15 Warum verstößt du, HERR, meine Seele und verbirgst dein Antlitz vor mir?
Das ist der Schmerz, der sich hinter all den Schmerzen verbirgt, die wir mit dem Winter verbinden: getrennt von Gott zu sein, verlassen, ohne eine Berufungsinstanz, an die man sich wenden kann. Dem Tod überlassen ohne Schutz. Von der Quelle des Lebens getrennt. Und alle Winterzeiten erinnern uns an diese Situation.
Aber können wir das vermeiden? Kann man mit einem guten und überlegten Leben den Winterzeiten aus dem Weg gehen? Wenn man sich die Psalmen und andere Stellen der Bibel ansieht, dann weiß man: das geht nicht. Auch für die Frömmsten und Besten kann es Winter werden. Klar tragen wir auch selbst Schuld an so etwas, und der Ministerpräsident vorhin in der Szene hat sich den größten Teil seines Winters selbst eingebrockt. Aber über andere kommt so etwas, und man kann ihnen nichts vorwerfen. Der Winter bricht ein, und man weiß nicht warum.
Was ist aber zu tun, wenn jemand das akut erlebt? Welche Perspektiven gibt es dann?
Das erste schreibt Paulus im Römerbrief (13,15): »Weint mit den Weinenden«. Man könnte auch sagen: Trauert mit den Trauernden. Als Hiobs Freunde ihn in seinem Elend besuchten, saßen sie erst 7 Tage bei ihm und sagten nichts. Als sie nachher redeten, bekamen sie Ärger mit Gott, er fand es nicht gut, was sie sagten, aber als sie mit Hiob schwiegen, da machten sie die beste Figur.
Man tut einem Menschen im Winter schon viel, wenn man nicht vor ihm wegläuft. Wir haben alle diesen Impuls, jemanden zu meiden, wenn er eine Zeit der Erstarrung durchmacht. Wir scheuen diese Erfahrung des erstarrten Lebens. Aber in dieser Situation ist man normalerweise sehr dankbar für die kleinste Freundlichkeit. Man nimmt das oft sehr intensiv wahr. Wir kennen das alle, dass wir nicht wissen, ob wir zu jemanden gehen sollen, der trauert, oder ob er nicht lieber allein gelassen werden will. Aber normalerweise sind Menschen in Winterzeiten dankbar für alle Zeichen der Anteilnahme. Und wenn wir sie aus Unsicherheit meiden, das tut ihnen normalerweise weh. Klar, man soll Menschen, die trauern, nicht mit oberflächlichem Geschwätz vollsülzen. Aber jemandem, der in einer Winterphase steckt, hilft oft schon einfach die geduldige und liebevolle Präsenz anderer Menschen. Auch dann, wenn Ratschläge und Aufmunterungen bei ihm nicht ankommen. Es reicht schon, wenn deutlich wird, dass wir uns nicht absetzen, sondern treu bleiben.
Natürlich braucht man in solchen Zeiten eigentlich auch Ratschläge und Hoffnung. Aber weil man dann oft einfach zu ist, sollte man über solche Ratschläge schon vorher nachdenken, damit man eine Orientierung hat, wenn der Winter wirklich kommt. Es ist viel leichter, wenn Menschen sich vorher schon damit beschäftigt haben. Das gehört zu den Grundlagen das christlichen Lebens, dass man rechtzeitig darüber nachdenkt, was einem in Bedrängnis hilft. Wenn es dann wirklich zu einem kommt, bleibt es immer noch schwer genug.
Also, um beim letzten zu bleiben: wenn Sie in winterliche Zeiten geraten, dann rechnen Sie damit, dass die anderen verunsichert sind. Verstehen Sie das und geben sie ein paar Zeichen, was Sie gerne von anderen hätten. Nicht alle werden diese Zeichen verstehen, aber den Gutwilligen helfen Sie damit. Vor allem: verkriechen Sie sich nicht. Halten sie an bestehenden Kontakten fest. Vielleicht müssen Sie jetzt nicht zu jeder Feier gehen, aber es hilft uns normalerweise, wenn wir mit anderen Menschen zusammen sind. Wenn Sie noch nicht in einer lebendigen christlichen Gruppe sind, wo man sich begegnen kann, wie man wirklich ist, dann suchen Sie sich spätestens in dieser Lage eine.
Menschen in einer Winterphase brauchen vor allem die Hoffnung auf zwei Dinge:
- Gott wird eines Tages aus dieser Zeit etwas Gutes hervorbringen, und:
- Der Moment wird kommen, wo es wieder einen Frühling gibt.
Wer in Winterzeiten lebt, der hat es schwer, an diese beiden Dinge zu glauben. Deswegen: setzen Sie sich rechtzeitig damit auseinander. Wenn wir noch einmal an die Szene vorhin denken: als Zuschauer konnten wir uns wahrscheinlich vorstellen, dass es für diesen zynischen Politiker eine Chance ist, wenn er so abstürzt. Vielleicht wird er ja dadurch verstehen, dass es nicht gut gehen kann, wenn man die Menschen um sich herum nur als Verlängerung des eigenen Ego betrachtet, wenn man sie nur nach ihrem Nutzeffekt einschätzt. Vielleicht fängt er nach dem Schock irgendwann an, darüber nachzudenken, was ihn eigentlich an der Macht reizt und wovor er da wegläuft. Und wenn er da weiterdenkt, dann hat sich dieser Absturz tatsächlich für ihn gelohnt. Und eines Tages sieht er das vielleicht selbst so. Und dann wird es vielleicht, nein ganz sicher für ihn auch einen Neuanfang geben, wahrscheinlich mit einer neuen Aufgabe, mit einer neuen Partnerin, mit vielen Verwundungen, die er immer spüren wird, aber er wird gelernt haben und glücklicher sein. Seine zweite Karriere wird bescheidener sein, aber er wird ein zufriedenerer Mensch sein. Wenn er sich nicht verschließt, sondern die Botschaft dieses Absturzes nach und nach für sich entschlüsselt.
Das alles können wir sehen und hoffen, wenn wir so eine Szene betrachten. Aber wer da selbst drinsteckt, der sieht das alles nicht. Der fürchtet eine Nacht, auf die kein Morgen folgt. Der versteht nicht, wieso das alles so ist. Und mancher gerät dann in die Versuchung, nicht durchzuhalten, sondern ganz aufzugeben.
Und vergessen wir nicht, bei dieser Szene ist es noch einigermaßen verständlich, wie das alles zusammenhängt. Der hat ja nur die Früchte seiner Lebenseinstellung geerntet. In anderen Fällen ist der Zusammenhang auch für Außenstehende nicht immer so leicht zu verstehen.
Trotzdem: die Glaubenserfahrungen der Bibel und vieler Menschen danach sagen uns, dass der Glaube in Winterzeiten in die Tiefe wächst. So ist es auch in der Natur: während alles draußen wie tot und erstarrt liegt, bereitet sich in den Wurzeln schon der Frühling vor. Keiner sieht es, keiner merkt es, aber es ist so. Der Winter braucht seine Zeit, man kann ihn nicht verkürzen, aber er ist nicht überflüssig. Und wenn die Zeit gekommen ist, dann wird der Frühling anbrechen. Wenn Menschen auf ihr Leben zurückblicken, dann sind es oft die Winterzeiten, in denen sich das größte Wachstum vorbereitet hat. Im Winter kann man weit schauen, da treten die Konturen klar zu Tage.
Denken Sie an den gekreuzigten Jesus: Drei Tage war er wie tot, aber dann kam die Auferstehung. Gott überlässt dem Tod niemals den Sieg. Selbst wenn am Ende eine Krankheit nicht geheilt wird und ein Mensch nicht mehr die Zeit hat, noch einmal neu anzufangen. Auch wenn es Schäden gegeben hat, die nicht mehr gutzumachen sind.
Gott wird eine neue Welt schaffen, und spätestens da beginnt der neue Frühling. Was hier in dieser Welt sich nicht mehr entfalten kann, das wird dort seine Früchte tragen. Es ist nie umsonst, das Richtige zu tun.
Ich gebe Ihnen eine kleine Geschichte weiter: die Ärzte hatten einer Frau noch drei Monate zum Leben gegeben. Sie verabschiedet sich von den Menschen, die ihr nahestanden, sie regelte ihre Angelegenheiten, auch ihre Beerdigung, und sie bat darum, dass sie beigesetzt werden wollte mit einer Gabel in der Hand. Das verstand man nicht, und sie wurde gebeten, zu erklären, warum sie mit einer Gabel in der Hand beerdigt werden wollte. Und sie sagte: Wenn wir früher in der Gemeinde manchmal zusammen gegessen haben, dann hieß es oft nach dem Essen: behalten Sie noch Ihre Gabel. Und dann wusste ich, dass noch etwas Leckeres kommt – nicht so ein Glibberzeugs, sondern was Leckeres wie Kuchen oder ähnliches. Da kam noch was Tolles hinterher. Und wenn ich jetzt mit einer Gabel in der Hand beerdigt werde, dann ist das ein Zeichen: Da kommt noch was Tolles hinterher. Das Schönste kommt noch.
Erinnern Sie sich also an die Gabel. Geben Sie die nie vorzeitig ab. Nach dem Winter des Todes wird der Frühling des Neuen Lebens kommen, schon hier unter uns, aber auf jeden Fall in der neuen Welt Gottes, in der alles noch viel heller und klarer sein wird, als wir es hier erleben.
Verschenken Sie Ihren Winter nicht. Und geben Sie die Gabel nicht zu früh ab. Auch wenn es sich oft anders anfühlt: einige der größten Geschenke macht Gott uns im Winter. Geben Sie nicht auf, bevor Sie die wirklich alle bekommen haben. Glauben Sie daran, dass Sie eines Tages dankbar sein werden dafür.