Gottes weltweite Minderheit
Predigt am 25. Juli 2021 zu Psalm 87,1-7
Ein Lied der Korachiter. Ein Psalm. Ein Gesang.
Seine Gründung auf heiligen Bergen – *
die Tore Zions liebt der HERR vor allen Städten Jakobs.
Herrliches sagt man von dir, *
du Stadt unseres Gottes:
»Ich zähle Ägypten und Babylon *
zu denen, die mich kennen!«
Mag einer im Land der Philister geboren sein, *
in Kusch oder Tyrus –
so gilt doch von Zion:/
Dort ist ein jeder gebürtig! *
Der Höchste selbst ist es, der dieser Stadt Bestand gibt.
Der Herr schreibt im Verzeichnis der Völker: *
Auch dieser ist dort gebürtig!
Und sie tanzen und singen: *
In dir sind alle meine Quellen!
Das ist ein Psalm, in dessen Mittelpunkt der Zionsberg in Jerusalem steht. Der Tempelberg, den Juden, Christen und Muslime als heilige Stätte ansehen. Was es bedeutet, dass eine Stätte »heilig« ist, darüber gibt es unterschiedliche Meinungen, aber es ist jedenfalls ein sehr besonderer Ort, der immer wieder im Mittelpunkt von Kämpfen gestanden hat, bis heute. Jerusalem ist keine Stadt wie jede andere, und der Tempelberg ist ihr Zentrum.
Anders als alle anderen?
Und das hängt damit zusammen, dass Gott diesen Ort »erwählt« hat. Das ist für moderne Menschen schwer zu verstehen: wieso ist dieser eine Berg anders als all die anderen Berge? Warum ist Jerusalem eine besondere Stadt? Warum hat Gott sich unter allen Völkern ein Volk, nämlich Israel, ganz besonders erwählt? Sind nicht alle Menschen, Städte und Berge gleich? Wieso macht Gott da einen Unterschied?
Aber wenn unsere Vorstellungen mit dem biblischen Denkmuster kollidieren, dann könnte es ja auch sein, dass wir falsch liegen. Wir sind ja nicht automatisch klüger, bloß weil wir moderne Menschen sind. Auf jeden Fall sollten wir versuchen, dieses ungewohnte Denkmuster erst einmal zu verstehen.
Und der Kern dieser für uns ungewohnten Denkweise ist: Gott will das Ganze, die ganze Welt erreichen auf dem Weg über einen kleinen Teil. Gott nimmt den Umweg über ein Volk, ein Land, eine Stadt, einen Berg, um so alle zu erreichen. Wir finden das spontan merkwürdig, aber vielleicht hilft uns der folgende Gedanke, da einen gewissen Zugang zu bekommen:
Ist es nicht eigentlich immer so, dass es einige wenige sind, die den Kurs für alle abstecken, und die anderen hängen sich an? Gibt es nicht in jeder Gruppe, in jeder Klasse, in der Politik oder auch in einem Ort einige wenige Schlüsselpersonen und Wortführer, nach denen sich die anderen meistens richten? Diese Schlüsselpersonen können gute oder schlechte Gedanken verbreiten, sie sind sich natürlich auch nicht immer einig, aber trotzdem ist es meistens eine überschaubare Zahl von Menschen, die das Klima bestimmen – und die anderen schließen sich da irgendwie an. Man kann das gut oder schlecht finden, aber es ist meistens so.
Gott begann neu mit Abraham
Von dieser Beobachtung her ist vielleicht Gottes Strategie mit seiner Welt etwas plausibler: Ganz am Anfang, nach der Erschaffung der Welt, nach dem Verlust des Paradieses, nach dem ersten Mord, nach der Sintflut, nach dem Turm von Babel, als also die Menschheit schon ziemlich viele Probleme angerichtet hatte, da schloss Gott mit Abraham und seinen Nachkommen einen Bund. Abrahams Familie war von da an auf ganz besondere Weise mit Gott verbunden. Sie wuchs zum Volk Israel heran, zum Volk der Juden, und durch diese Familie Abrahams beeinflusst Gott seitdem immer wieder die ganze Welt.
Durch Mose – auch einer aus der Familie Abrahams – gab Gott die 10 Gebote, und Jahrhunderte später wurde Jesus geboren: auch er ist Nachkomme Abrahams. Immer sollte sich durch Israel zeigen, wie Gott sich das Zusammenleben aller Menschen vorstellt. Israel sollte ein Modell sein, an dem sich die anderen orientieren können. Das hat nur selten richtig geklappt, oft wollte Israel seine Sonderrolle nicht und lieber sein wie alle anderen. Aber Gott hat an Abrahams Nachkommen festgehalten. Und seit Jesus sind auch Menschen aus allen Völkern in diese Familie hinein adoptiert worden. Und jetzt beeinflusst Gott all die anderen Völker nicht nur von außen, durch Israel, sondern auch von innen, durch die Minderheit der Christen in so ziemlich allen Ländern der Erde.
In Jerusaelm ist der Ursprung
Und nun endet dieser 87. Psalm mit den Worten: in dir sind alle meine Quellen! Also: dort in Jerusalem ist der Ursprung dieser weltweiten Bewegung, die inzwischen die ganze Menschheit durchdringt. Die ist wie der Sauerteig, von dem Jesus sprach, eine ursprünglich ganz kleine Menge, die aber am Ende das ganze Mehl durchsäuert. Und ganz ähnlich haben wir es vorhin in der Lesung gehört: »Ihr seid das Salz der Erde und das Licht der Welt.« Jesus sagt das zu seinen Jüngerinnen und Jüngern, aus denen später die Christenheit wurde. Auch das eine Minderheit. Aber diese Minderheit gehört jetzt auch zum Volk Gottes, durch das Gott die Welt erreicht.
Und über die ganze weltweit zerstreute Minderheit Gottes sagt der Psalm: die haben alle ihre wahre Heimat in Jerusalem! Als der Psalm entstand, da waren die Juden schon über die ganze Welt zerstreut. Viele lebten sogar in unterdrückerischen Imperien wie Ägypten oder Babylon, in heidnischen Metropolen wie Tyrus oder in weit entfernten Ländern in Afrika. Heute ist das alles noch bunter geworden. Juden und Christen sind über die ganze Welt verstreut.
Aber der Psalm sagt: eure Wurzeln sind immer noch in Jerusalem. Egal, wo ihr geboren seid: eure wahre Heimat ist dort auf dem Zion, da kommt ihr her, das ist eure wichtigste Zugehörigkeit. Und dann beschreibt der Psalm Gott mit einem Bild, als ob er eine Art Standesbeamter wäre, der sie alle in sein Register einträgt, egal wo auf der weiten Welt sie geboren sind, egal wo ihr Reisepass ausgestellt ist: ihr habt alle die Staatsangehörigkeit von Zion!
Der Gott der ganzen Welt hat seine Minderheit in aller Welt
Das heißt aber auch: ihr müsst euch nicht den Torheiten der Völker und Nationen verpflichtet fühlen, in denen ihr lebt. Nationen sind viel weniger wichtig als eure erste, grundlegende Zugehörigkeit zum Volk Gottes. Gott ist nicht der Stammesgott von Deutschland, Frankreich, Amerika, Russland oder von wem auch immer. Gott ist der Gott der ganzen Welt, und dafür steht ihr, die Minderheit unter allen Völkern.
Und wenn man den Psalm ganz genau anschaut, dann kann man gar nicht so genau sagen, ob am Ende vielleicht sogar jeder Mensch so eine Zugehörigkeit zum Zion haben wird. Das ist im Augenblick noch Zukunftsmusik, aber in dem Psalm bleibt das offen: vielleicht wird man das eines Tages wirklich von der ganzen Menschheit sagen können, dass sie alle ihre Wurzeln und ihre Zugehörigkeit im Zion haben. Sie können nicht alle dort leben, aber irgendwann wird Gott durch Abrahams Volk die ganze Menschheit erreicht haben.
Im letzten Buch unserer Bibel, in der Offenbarung des Johannes, wird in einem Bild beschrieben, wie ein neues Jerusalem aus dem Himmel auf die Erde herabkommt. Das ist nicht mehr das Jerusalem, um das es endlosen Streit und Konflikte gibt, sondern die Goldene Stadt, die Stadt des Friedens, von der das Wasser des Lebens ausgeht und der die Völker der Erde ganz freiwillig kostbare Geschenke bringen. Ein Ort der Heilung und Versöhnung. Und in diesem Neuen Jerusalem wird dann wirklich die ganze Menschheit Heimatrecht haben. Nicht alle müssen da wohnen, aber alle haben dann da ihre Wurzeln und alle sind dort im Geburtsregister eingetragen. Das ist die neue, vereinte Menschheit, in der die Völker nicht mehr miteinander Kriege führen, weil sie alle eine gemeinsame, universale Heimat haben.
Gottes Weg durch die Welt hat begonnen mit einem Mann und seiner Familie. Daraus wurde ein Volk, in dem schließlich auch Jesus geboren wurde. Daraus wurde Israel und die Christenheit. Aber auf diesem ganzen langen Weg hatte Gott immer die ganze Menschheit im Blick. Und er wird diesen Weg mit seiner heiligen Minderheit so lange weitergehen, bis am Ende die Welt erneuert ist. Dann wird die ganze Menschheit ihre wahre Heimat entdecken: in einem erneuerten Jerusalem, der Stadt Gottes, der Quelle des Segens für die ganze Erde. Und wir – als die heilige Minderheit Gottes – wissen schon heute, dass wir dort wirklich zu Hause sind.