So kennen wir Gott eher nicht
Predigt am 24. Mai 2020 zu Psalm 76,1-13
2 Gott gab sich zu erkennen in Juda, *
sein Name ist groß in Israel.
3 Sein Zelt erstand in Salem, *
seine Wohnung auf dem Zion.
4 Dort zerbrach er die blitzenden Pfeile des Bogens, *
Schild und Schwert, die Waffen des Krieges. [Sela]
5 Von Licht umstrahlt erscheinst du, *
herrlich von den Bergen des Raubes her.
6 Zur Beute wurden die beherzten Krieger, /
sie sanken hin in den Schlaf, *
allen Helden versagten die Hände.
7 Vor deinem Drohen, Gott Jakobs, *
erstarrten Wagen und Rosse.
8 Du, ja Furcht erregend bist du. *
Wer kann bestehen vor deinem Zorn seit jeher?
9 Vom Himmel her ließest du das Urteil hören, *
die Erde geriet in Furcht und verstummte,
10 da Gott sich erhob zum Gericht, *
um zu retten alle Gebeugten der Erde. [Sela.]
11 Selbst der Grimm des Menschen muss dir danken, *
du gürtest dich mit denen, die dem Grimm entkommen sind.
12 Macht Gelübde und erfüllt sie dem HERRN, eurem Gott! *
Ihr alle ringsum, bringt Gaben dem, der Furcht erregt.
13 Er bricht den Hochmut der Fürsten, *
Furcht erregend ist er für die Könige der Erde.
Hier in diesem Psalm lernen wir Gott von einer Seite kennen, die in der Verkündigung der Kirchen meistens nicht so im Mittelpunkt steht. Gott zerbricht Raketen und Kanonen, er stoppt die Panzer, er bringt Furcht und Schrecken über die Mächtigen der Erde. Er kommt zum Gericht, um den Armen zu ihrem Recht zu verhelfen.
Gott kann zornig werden – Jesus auch
Wahrscheinlich würden an dieser Stelle viele sagen: mit so einem Gott fühle ich mich unbehaglich, der ist mir zu wild, zu bedrohlich, zu einschüchternd. Wir haben eine lange Tradition hinter uns, in der Gott gezähmt wurde, verharmlost, zu einem »lieben« Gott gemacht, der unserer Seele Ruhe und Frieden gibt. D.h. natürlich: unser Bild von Gott wurde verharmlost, Gott selbst konnten Menschen natürlich nicht ändern! Aber der Schritt vom Alten zum Neuen Testament wurde oft so gedeutet, dass uns im Alten Testament ein zorniger, bedrohlicher Gott begegnet, während dann Jesus im Neuen Testament einen netten, harmlosen Gott verkündet, vor dem man sich nicht ernsthaft fürchten muss.
Wer das glaubt, der übersieht dann auch bei Jesus die Seiten, wo er gar nicht nett und harmlos ist, sondern wo er kämpft, wo er zornig ist, wo er zu Menschen sagt: ihr Heuchler! Ihr habt keine Ahnung von Gott! Natürlich ist das dann in Menschengestalt übersetzt, weil Jesus eben Gott, wie er sich in die Gestalt eines Menschen übersetzt hat. Aber wenn Jesus die Dämonen in Angst und Schrecken versetzt, wenn er Petrus anschreit: weg, du Satan!, wenn er die Geschäftemacher mit der Peitsche aus dem Tempel vertreibt und die religiösen Würdenträger immer wieder als Lügner, Betrüger und Mörder charakterisiert: das ist der wilde Gott von Psalm 76, übersetzt in den Menschen Jesus von Nazareth.
Als er stirbt, da verdunkelt sich der Himmel und die Erde bebt. Bei seiner Auferstehung erstarren die Wachen vor Schreck und die Drahtzieher im Hintergrund rödeln hektisch, um diese Wendung der Geschichte zu vertuschen. Und es ist ein Alptraum für sie, als dann zu Pfingsten die Botschaft von der Auferstehung Pilger aus der ganzen Welt mit Hoffnung infiziert. Im Leben wie im Sterben: Jesus, der die Menschen heilte, sensibel mit Verängstigten umging und die Gefesselten befreite, er stand gleichzeitig im Zentrum von Konflikten und erschütterte die Welt. Wenn es in Psalm 76,13 von Gott heißt:
Furcht erregend ist er für die Könige der Erde.
dann ist Jesus die getreue Übersetzung dieses Gottes in Menschengestalt.
Wollen wir wirklich einen harmlosen Gott?
Und wir müssen uns fragen lassen, ob wir uns denn wirklich so einen harmlosen, netten Jesus wünschen, wie er den Wunschträumen bürgerlicher Theologen entsprungen ist. Denn so ein netter Jesus, und der harmlose Gott, den er verkörpern würde, der bewegt auch kaum noch was. Mit so einem zurechtgestutzten, zahmen Gott wären wir komplett aufgeschmissen in dieser Welt, die von Konflikten zerrissen ist, in der die Armen ohne Schutz vor den Zerstörungen sind, die sie selbst am wenigsten verschuldet haben. Und auch wir hier im gut aufgestellten Deutschland gehen auf Zeiten zu, in denen die Schutzschirme löcherig werden und unsere Sicherheiten noch ganz anders ins Wanken kommen werden. Da wird uns dieser Westentaschen-Gott, vor dem niemand Angst haben muss, wenig nützen. Wenn schon, dann brauchen wir einen Gott, der gewohnt ist, mit Konflikten umzugehen und sich da einzumischen, wo die Mächte aufeinanderprallen, die unsere Welt erschüttern. Wir sollten das Alte Testament ernst nehmen, weil wir da so einen Gott finden. Und es ist ja die Heilige Schrift, die Jesus gelesen hat, in der er lebte, und die ihm immer Orientierung gegeben hat.
In unserem Psalm spiegeln sich ganz alte Vorstellungen von einem Kampf der Chaosmächte gegen Gott. Gott hat sie schon ganz am Anfang gebändigt, als er die Welt dem Chaos abgerungen hat. Aber sie sind noch nicht besiegt, sondern sie versuchen immer wieder neu, die gute Schöpfung Gottes ins Chaos zu stürzen. Und das tun sie vor allem, indem sie die Welt mit Krieg überziehen, indem sie tödliche Waffen entwickeln und auf die Menschen loslassen. Damals waren das Brandpfeile, Schwerter und Schilde sowie die Streitwagen: die Produkte einer hochentwickelten Kriegstechnologie, die für Normalmenschen eine furchtbare Bedrohung waren. Und in dieser alten Vorstellungswelt wird diese ganze Kriegsmaschinerie auf den Gottesberg losgelassen, den Zion, aber am Ende stürzt sie das in ihr eigenes Verderben. Gott erschreckt die Feinde so, dass ihnen die ganze Technologie nichts nützt, ihre Kraft weicht von ihnen, und Gott zerbricht ihre Waffen.
Gott orientiert sich an den Armen
Und das Ganze tut er, weil ihm die Armen und Gebeugten am Herzen liegen. Gott schaut, wenn er die Menschheitsgeschichte betrachtet, konsequent nach unten, zu denen, die unter die Räder kommen, die sich nicht wehren können und auf allen Seiten zum Kanonenfutter werden. Und er wird die Mächtigen der Erde richten nach dem Maßstab, ob sie den Verdammten dieser Erde gerecht geworden sind. Gott erhebt sich, um die Gebeugten zu retten und den Hochmut der Mächtigen zu brechen. Diese Arroganz der Macht ist das große Ärgernis in Gottes Augen, diese Haltung: »soll ich meines Bruders Hüter sein?« Was gehen mich seine Probleme an, seine Krankheiten, seine Schulden, sein Scheitern? Wer die Macht hat, der kann die Probleme den anderen zuschieben, kann sich selbst abschirmen auch gegen die Folgen seines eigenen Handelns.
Diesem Kalkül schiebt Gott einen Riegel vor. Er sieht nicht tatenlos zu, wie sich die Macht alles unterwirft. Er offenbart sich in Israel.
Das ist die eigentliche Wurzel des Antisemitismus: es ist die Feindschaft der Mächtigen gegen den Gott, der sich in Israel ein Volk geschaffen hat, der unter den Völkern sein Zeichen aufgerichtet hat. Gott offenbart sich und stört damit immer wieder die Pläne derer, die über die Waffen gebieten. Jerusalem wird hier mit einem alten Namen »Salem« genannt, und das schreibt sich auf Hebräisch mit den gleichen Buchstaben wie das Wort für »Frieden«: Schalom. Jerusalem, die Stadt des Friedens, über der Gott wacht.
Wir wissen natürlich, dass Jerusalem oft im Zeichen heftiger Konflikte stand und steht, und das nicht nur durch fremde Schuld. Aber festzuhalten bleibt, dass es Gott um Frieden geht, und der kann erst kommen, wenn die Waffen vernichtet sind. Das hört nicht jeder gern.
Den Psalm von Jesus her lesen
Und nun müssen wir eben auch sehen, welche Wendung dieser Psalm bekommt, wenn man ihn mit Jesus zusammendenkt: wie verändert sich dann der Blick auf diese alten Verse? Wie gesagt, es kann nicht darum gehen, Gottes Entschiedenheit und seinem Zorn über die Chaosmächte durch Jesus die Spitze abzubrechen. Aber der Angriff auf die Könige der Erde und ihre Arroganz wird anders geführt, als sich das die Menschen vor Jesus vorgestellt haben. Deswegen haben wir vorhin die Verse aus dem letzten Kapitel des Matthäusevangeliums gehört. Da sagt Jesus den Jüngern, dass Gott ihm alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben hat. Aber dann beauftragt er sie, zu allen Völkern zu gehen, und er wird mitkommen. Er wird dabei sein, so wie die Stärke der Heiligen Stadt daher kam, dass Gott in ihrer Mitte wohnt. Und auf diesem Weg durch die Welt, auf den Jesus seine Jünger schickt, wird er überall den Mächtigen das Fußvolk abspenstig machen, so dass ihnen die Arroganz vergeht.
Jetzt ist das Rätsel gelöst: Gott erhebt sich zum Gericht, er kommt und hilft den Armen durch die Jünger und Jüngerinnen Jesu hindurch, er kommt, wenn sie sich auf den Weg durch die Welt machen. Das haben die alten Sänger dieses Psalms noch nicht gewusst, wie das denn gehen würde. Sie haben nicht damit gerechnet, dass Gott Menschen so stark in sein Werk hineinzieht und erst Jesus und dann seine Jünger so intensiv daran beteiligt.
Gott kooperiert
Das war und ist ein Riesenwagnis Gottes, weil er es dann auch immer mit menschlichem Versagen, mit menschlicher Verwirrung und Bosheit zu tun bekommt. Und er hat ja auch enorme Fähigkeiten, Menschen so auszutricksen, dass sie sein Werk am Ende auch mit ihren bösen Werken voranbringen. Aber lieber arbeitet er natürlich mit unserer Klarheit und unserer Stärke zusammen, mit unserem guten Urteil und unseren besten Kräften.
Deswegen ist es so eine Katastrophe, wenn Gott zu einem harmlosen, netten Gott umgedeutet wird. Dann werden nämlich die Christen auch harmlos und nett und schwach und können ihrer Aufgabe nicht mehr gerecht werden. Wenn wir keinen leidenschaftlichen Gott mehr vor Augen haben, wie sollten wir dann Leidenschaft entwickeln? Wie sollten wir Mut bekommen, wie sollten wir Konflikte durchstehen, wie sollten wir dann etwas wagen auch ohne Versicherung und ohne wohlgeordnete Abläufe? Wie sollte Gott unsere Richtung korrigieren, wenn wir uns gar nicht erst bewegen?
Christen sind Leute, die nicht immer erst um Erlaubnis fragen, weil sie einen Auftrag von höherer Instanz haben. Die Stärke, das Selbstbewusstsein, die Zielgerichtetheit – das ist alles geliehen, oder sagen wir besser: verliehen. Wir bekommen es nicht auf Vorrat, wir werden es bekommen, wenn es nötig ist. Aber die Situationen, wo es nötig ist, die müssen wir schon selbst aufsuchen, oder wenigstens: erkennen und annehmen. Dann haben wir eine Chance, dass die Menschen in uns etwas von Jesus erkennen. Das ist das Beste, was man über einen Christen sagen kann: wenn in ihm etwas von Jesus zu erkennen ist. Und dann werden sich die einen hoffentlich enorm freuen, und den anderen wird hoffentlich der Schreck in die Glieder fahren.