Gottes Hilfe ist nah
Predigt am 27. Oktober 2019 zu Psalm 71,1-24
Dieser Psalm gehört zu den längeren Psalmen. Deshalb ein paar Hinweis für das Hören vorneweg, damit alle den roten Faden behalten können:
Wir hören die Stimme eines Mannes, der schon älter ist. Wir müssten ihn uns heute vorstellen als mindestens 80jährigen. Er war jemand, an dem sich viele andere orientiert haben. An ihm ist vielen anderen klar geworden: auf Gottes Wegen zu gehen, das lässt das Leben gelingen. Und er selbst sieht das auch so.
Aber jetzt hat er den Höhepunkt seiner Kraft überschritten. Auch starke, gerade Menschen werden irgendwann alt, und dann sind sie nicht mehr so leistungsfähig wie früher, sie haben weniger Mittel, mit denen sie wirken und sich verteidigen können. Ja, er hat sich im Leben oft wehren müssen, er war anderen ein Dorn im Auge, gerade weil an ihm der gute Weg Gottes so deutlich als Alternative sichtbar wurde. Aber Gott hat dafür gesorgt, dass alle Intrigen gegen ihn scheiterten.
Jetzt, wo er alt wird, wittern seine Feinde Morgenluft. Jetzt muss es doch endlich gelingen, dieses lebendige Symbol für Gottes Treue zu zerstören! Jetzt muss es doch einen Weg geben, wie man seinen Ruf zerstören oder ihn anderweitig ruinieren kann! Und sie treffen sich und überlegen, wie die Falle aussehen könnte, die man ihm stellt.
Er merkt das natürlich und weiß, dass er für diesen Kampf nicht mehr so gut ausgerüstet ist wie früher. Aber er tut das, was er in solchen Situationen schon immer getan hat. Das Geheimnis seiner Stärke war: er wendet sich an Gott. Er vertraut darauf, dass Gott auch jetzt Wege findet, um ihm beizustehen – so wie er das schon sein ganzes Leben lang erlebt hat. Und darum bittet er: dass er das letzte Stück seines Lebenswegs so behütet wird, wie er das schon sein Leben lang kannte. Und er bittet, dass an ihm auch die nächste Generation Gottes Treue erkennen kann und dass auch Kinder und Enkel im Vertrauen auf diesen treuen Gott der Hilfe ihr Leben führen.
Jetzt, denke ich, kann ich den Psalm vorlesen, und Sie werden sich darin zurechtfinden:
lass mich nicht zuschanden werden in Ewigkeit!
2 Reiß mich heraus und rette mich in deiner Gerechtigkeit!*
Neige dein Ohr mir zu und hilf mir!
3 Sei mir ein schützender Fels,*
zu dem ich allzeit kommen darf!
Du hast geboten, mich zu retten,*
denn du bist mein Fels und meine Festung.
4 Mein Gott, rette mich aus der Hand des Frevlers,*
aus der Faust des Bedrückers und Schurken!
5 Denn du bist meine Hoffnung, Herr und GOTT,
meine Zuversicht von Jugend auf.
6 Vom Mutterleib an habe ich mich auf dich gestützt,/
aus dem Schoß meiner Mutter hast du mich entbunden,*
dir gilt mein Lobpreis allezeit.
7 Ich bin für viele wie ein Zeichen;*
denn du bist meine starke Zuversicht.
8 Mein Mund ist erfüllt von deinem Lobpreis,*
den ganzen Tag von deinem Glanz.
9 Verwirf mich nicht, wenn ich alt bin,*
verlass mich nicht, wenn meine Kräfte schwinden!
10 Denn meine Feinde haben gegen mich geredet,*
die auf mich lauern, haben sich gemeinsam beraten.
11 Sie sagen: Gott hat ihn verlassen./
Verfolgt und ergreift ihn!*
Für ihn gibt es keinen Retter.
12 Gott, bleib doch nicht fern von mir!*
Mein Gott, eile mir zu Hilfe!
13 Alle, die mich bekämpfen,*
sollen scheitern und untergehn.
Über sie komme Schmach und Schande,*
weil sie mein Unglück suchen.
14 Ich aber will allezeit hoffen,*
all deinen Lobpreis noch mehren.
15 Mein Mund soll von deiner Gerechtigkeit künden,/
den ganzen Tag von deinen rettenden Taten,*
denn ich kann sie nicht zählen.
16 Ich komme wegen der Machttaten GOTTES, des Herrn,*
an deine Gerechtigkeit allein will ich erinnern.
17 Gott, du hast mich gelehrt von Jugend auf*
und bis heute verkünde ich deine Wunder.
18 Auch wenn ich alt und grau bin,*
Gott, verlass mich nicht,
damit ich von deinem machtvollen Arm der Nachwelt künde,/
den kommenden Geschlechtern von deiner Stärke,*
19 von deiner Gerechtigkeit, Gott, die bis zum Himmel reicht!
Du hast Großes vollbracht.*
Gott, wer ist wie du?
20 Du ließest mich viel Angst und Not erfahren,/
du wirst mich neu beleben,*
du führst mich wieder herauf aus den Tiefen der Erde.
21 Bring mich zu Ehren!*
Du wirst mich wieder trösten.
22 Dann will ich dir danken mit Harfenspiel*
und deine Treue preisen,
mein Gott, du Heiliger Israels!*
Ich will dir auf der Harfe spielen.
23 Meine Lippen sollen jubeln,/
ja, dir will ich singen und spielen*
und meine Seele, die hast du losgekauft.
24 Auch meine Zunge soll von deiner Gerechtigkeit reden den ganzen Tag,*
denn alle, die mein Unglück suchen, sind vor Scham errötet und gescheitert.
Alt zu werden ist wahrscheinlich die letzte große Herausforderung des Lebens. Je älter du wirst, um so weniger lässt sich noch ändern. Die meisten Entscheidungen sind gefallen. Jetzt stellt sich heraus, ob sie klug oder töricht waren. Das Leben als Gesamtkunstwerk ist fast vollendet, und man kann schon andeutungsweise absehen, wie es am Ende wohl aussehen wird.
Die Möglichkeiten schwinden
In der Jugend ist das anders. So lange man jung ist, denkt man: was kostet die Welt? Ich werde ein tolles Leben führen, dafür werde ich sorgen! Deshalb gibt es dann diese Phasen in der Jugend, wo man sehr streng über die Älteren urteilt.
Eigentlich ist das eine gute Sache! Wo kämen wir hin, wenn die jungen Leute nicht mehr sagen würden: ich werde die Fehler meiner Eltern bestimmt nicht machen! Ich mache es anders als sie, wenigstens an dem und dem Punkt! Das ist die große Chance der Menschheit, dass die Kinder die Fehler der Eltern sehen und es besser machen wollen. Und manchmal schaffen sie es auch, aber manchmal fallen sie auch auf der anderen Seite vom Pferd oder machen sogar die gleichen Fehler wie die Eltern in etwas anderer Form.
Wer aber schon gefühlt die erste Lebenshälfte hinter sich und dabei einen aufmerksamen Geist bewahrt hat, der beginnt irgendwann, vorläufige Bilanz zu ziehen: sind meine Träume und Ambitionen in Erfüllung gegangen? Kann ich jetzt noch erreichen, was ich mir vorgenommen habe? Mancher sucht sich dann noch einmal einen neuen Beruf oder einen neuen Lebenspartner, andere wandern zu Fuß den Jakobsweg oder kaufen sich das teure Auto, das sie schon immer haben wollten.
Aber mit jedem Jahr werden die Möglichkeiten weniger, und am Ende geht es vor allem darum, das Leben, wie es nun einmal war, mit Anstand zu Ende zu bringen. Selbst ein ziemlich zerschossenes Leben kann noch einmal Glanz bekommen, wenn einer es mit Anstand zu Ende bringt. Es gibt genügend Menschen, die es in ihren letzten Lebensjahren noch geschafft haben, zu Fehlern zu stehen, sie sogar manchmal noch wieder gut zu machen, sich mit anderen zu versöhnen, sich mit dem Leben zu versöhnen, sich von ihrer Bitterkeit zu verabschieden und dafür zu sorgen, dass sie Frieden hinterlassen und keinen Streit. Manchmal geschieht das sogar noch in den letzten Tagen (obwohl man sich nicht darauf verlassen sollte). Aber bis zum letzten Atemzug ist immer noch Hoffnung. Und es kann am Ende für die Nachkommenden sehr ermutigend und wichtig sein, wenn sie sagen können: wenigstens zum Schluss ist da noch etwas gut geworden!
Die Früchte eines Lebens
Der Beter des 71. Psalms hat aber kein Leben hinter sich, auf das er mit Bedauern zurückblicken müsste. Die Früchte seines Lebens sind deutlich. Er war für viele Glaubende ein Orientierungspunkt, ein Ankermann sozusagen. Wenn Sie genau hinschauen, dann finden Sie überall solche Ankermänner und -frauen, an denen sich andere orientieren. Manche haben eine offizielle Position, sind Ärztin oder Seelsorger, Chef oder Amtsleiterin, Schriftstellerin oder Bundespräsident. Andere wirken einfach durch die Art, wie sie sind, auch ohne Titel und Würden, prägen ihre Familie, sind wichtig für das Klima im Ort oder im Büro. Wir orientieren uns meistens an solchen Schlüsselpersonen, und deshalb haben die so eine große Verantwortung.
Deshalb ist die Enttäuschung so groß, wenn sich bei einer solchen Ankerperson herausstellt, dass die eine verborgene dunkle Seite hatte: irgendwann fliegt auf, dass sie sich hat bestechen lassen, Steuern hinterzogen hat, Angestellte ausgebeutet oder schikaniert hat, für Missbrauch und Schlimmeres verantwortlich ist. Und so suchen auch Feinde des Beters von Psalm 71 nach irgendeiner Sache, die sie ihm anhängen oder mit der sie sein Bild beschmutzen können.
Die Feinde wittern Morgenluft
Für sie wäre es unerträglich, wenn sein Leben so stark zu Ende geht, wie er immer gelebt hat. Sie wollen dieses Zeichen zerstören, das er darstellt: das Zeichen dafür, dass ein Leben mit Gott gelingt auch gegen alle Widerstände und Anfeindungen. Und deshalb machen sie auf jede Weise Druck, um ihn wenigstens auf den letzten Metern stolpern zu lassen oder ihn von seinem Weg abzubringen.
Wir erleben das ja heute auch, dass der Druck auf solche Schlüsselpersonen sehr groß werden kann, gerade, wenn sie politische Ämter haben. Der Vorsitzende der thüringischen CDU hat im Wahlkampf jetzt jede Menge Hassbotschaften und Morddrohungen bekommen, die ihn zermürben sollten. »Wenn du deinen Wahlkampf nicht stoppst, bekommst du eine Kugel in den Kopf«, solche Sachen. Und er ist fest geblieben und hat gesagt: jetzt gerade! Aber wir können uns vorstellen, was das für Kraft kostet, unter solch einem Druck fest zu bleiben. Auch der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke war anscheinend solch ein Zeichen dafür, dass man als staatlicher Funktionsträger menschlich sein und sich für Flüchtlinge einsetzen kann, und gerade deshalb ist er ermordet worden.
In so einer ähnlichen Lage könnte damals auch der Beter des 71. Psalms gewesen sein. Und ihm ist klar: Anfeindungen, die ich früher einfach vom Tisch gewischt habe, die stecke ich jetzt nicht mehr so leicht weg. Ich bin älter geworden; ich habe weniger Macht. Ich mache mehr Fehler; meine Finger sind langsamer, ich bin nicht mehr so schlagfertig; mein Gedächtnis lässt nach; viele alte Freunde, auf die ich mich immer verlassen konnte, sind schon lange nicht mehr da. Zum Lesen muss ich die Brille nehmen, und bald brauche ich einen Rollator, wenn ich auf die Straße gehe. Mit viel weniger Hilfsmitteln als früher muss ich diesen Kampf bestehen.
Gott, der starke Verbündete
Aber dann wird ihm klar: ich habe mich doch schon immer nicht auf meine Fähigkeiten allein verlassen, sondern ich habe immer damit gerechnet, dass Gott von seiner Seite aus das tun wird, was ich nicht schaffe. Ich habe auf seine Leitung und Inspiration vertraut. Er hat mich sicher durch alle Katastrophen hindurch gebracht, in denen ich sonst gescheitert und versunken wäre. Er war immer die Hoffnung meines Lebens. Und das bleibt er erst recht jetzt, wo ich mich auf meine Kräfte immer weniger verlassen kann.
Und deswegen sagt er: Sei DU meine Zuflucht, Herr! Sei die Burg, in der ich geschützt bin! Du hörst auf mich, du bist treu, das war immer so, und das wird auch jetzt wieder so sein, irgendwie. Ich weiß noch nicht, wie du helfen wirst, aber du wirst es tun. Du wirst nicht zulassen, dass sie mich, das Zeichen deiner Treue, zerstören.
Denn darum geht es: ob ich mein Leben so zu Ende bringe, wie ich es immer gelebt habe, oder ob ich am Ende an Gott irre werde und scheitere. Auch jetzt noch schauen viele auf mich und möchten wissen: trägt ihn das auch noch auf der letzten Wegstrecke, oder ist Gott nur was für Leute, denen es gut geht und die ihre Probleme schon selber regeln können?
Die Qual der Unsicherheit
Das war ja auch bei Jesus die Frage: würde er auf der letzten Wegstrecke seinem Vater im Himmel treu bleiben? Oder würde er zerbrechen auf dem Weg zum Kreuz auf Golgatha? Bei Jesus war es nicht die Schwäche des Alters, die er tragen musste, sondern es war das Kreuz, an dem er zu Tode gefoltert wurde. Das ist noch viel, viel schlimmer als die Mühen des Alters, aber die Frage bleibt: wird da einer unter dieser großen äußeren Belastung zerbrechen, oder wird Gott ihn auch jetzt noch da hindurchgeleiten? Wird es an ihm auch so noch zu erkennen sein, dass Gott wirklich die Hilfe ist, auf die er sich immer verlassen hat?
Das ist die Spannung des Glaubens: du bist eigentlich ganz sicher, dass auf Gott Verlass ist, aber dann dauert es und dauert, bis die Hilfe wirklich kommt. Und du hängst dazwischen und fragst dich: hast du vielleicht doch auf ein Phantom vertraut? Hast du ihn möglicherweise falsch verstanden? Ist er vielleicht doch nicht so treu, wie du immer dachtest? Oder ist er zu schwach?
Und dann fangen die Zweifel an, die gar nicht mit intellektuellen Zweifeln zu tun haben, sondern die ganz einfache Frage: hilft er wirklich? Und man hat das Gefühl, dass die Herausforderungen im Lauf des Lebens nicht einfacher werden, sondern im Gegenteil immer heftiger, so als ob Gott sagen würde: glaub nicht, dass du schon angekommen bist! Bei mir gibt es keinen Ruhestand, ich möchte bis zum letzten Tag immer weiter mit dir unterwegs sein, damit ich dich immer mehr zu dem Menschen machen kann, zu dem ich dich berufen habe!
Durchbruch des Lobes
Und hier im Psalm erleben wir, wie sich einer immer stärker durchringt zu der Gewissheit: ja, du bist mein Gott, du wirst zu mir halten bis zuletzt, wie du zu Jesus gehalten hast und zu den Propheten und Aposteln, und wie du es auch in meinem Leben immer wieder getan hast – im viel kleineren Maßstab. Als alter Mensch hat man nämlich auch einen großen Vorteil: man kann auf viel mehr Erfahrungen mit Gottes Treue zurückschauen.
Und dann bricht aus ihm das Lob Gottes heraus und er sagt: ich weiß, du lässt mich nicht zuschanden werden! Ich werde noch von deiner Treue erzählen können, und auch die künftigen Generationen sollen es noch von mir hören – so wie ich es früher von meinen Vorfahren gehört habe. Was ich erlebt habe, das soll nicht mit mir vorbei sein, sondern es soll lebendig bleiben und durch die Generationen weitergegeben werden, damit andere in derselben Lage sich verstanden fühlen und sagen: ja, Gott ist derselbe durch alle Jahrhunderte hindurch! Ich erkenne in dem Psalm seine Handschrift, wie ich sie aus meinem eigenen Leben kenne!
Und er fängt an zu singen und sagt: das wird für den Rest meines Lebens meine Aufgabe: von deiner Treue zu erzählen. Wer ist wie du, Gott? Du bist unvergleichlich!