Der Zion und das real existierende Jerusalem
Predigt am 3. Februar 2019 zu Psalm 48,1-15
1 Ein Lied. Ein Psalm. Von den Korachitern.
2 Groß ist der HERR und hoch zu loben in der Stadt unseres Gottes.
3 Sein heiliger Berg ragt herrlich empor; er ist die Freude der ganzen Erde.
Der Berg Zion liegt weit im Norden; er ist die Stadt des großen Königs.
4 Gott ist in ihren Palästen, als sichere Burg erwiesen.
5 Denn siehe: Könige traten zusammen, gemeinsam rückten sie näher.
6 Sie sahen auf, da erstarrten sie; sie waren bestürzt und flohen.
7 Dort packte sie Zittern wie Wehen eine Gebärende.
8 Mit Sturm aus dem Osten zerbrichst du die Schiffe von Tarschisch.
9 Wie wir es gehört, so haben wir es gesehen in der Stadt des HERRN der Heerscharen,
der Stadt unsres Gottes. Gott macht sie fest auf ewig. [Sela]
10 Wir haben, Gott, deine Huld bedacht inmitten deines Tempels.
11 Wie dein Name, Gott, so reicht dein Ruhm bis an die Enden der Erde; deine Rechte ist voll von Gerechtigkeit.
12 Der Berg Zion freue sich, die Töchter Judas sollen über deine Urteile jubeln.
13 Umkreist den Zion, umschreitet ihn, zählt seine Türme!
14 Betrachtet seine Wälle, geht in seinen Palästen umher, damit ihr einem späteren Geschlecht erzählen könnt:
15 Ja, das ist Gott, unser Gott für immer und ewig. Über das Sterben hinaus wird er selbst uns leiten.
Auch dieser Psalm gehört in den Umkreis der Zionstraditionen Israels, so wie der 46. Psalm, auf den wir am vergangenen Sonntag gehört haben. Das Lied »Ein feste Burg« ist sozusagen die Aktualisierung der Zionstradition in der Reformation.
Ein besonderer Ort
Der Berg Zion ist die Stelle, wo König Salomo in Jerusalem den Tempel gebaut hat. Heute finden sich dort die Reste des Tempels, der zu Jesu Zeit dort stand, insbesondere die Klagemauer, und die Moschee, die man den »Felsendom« nennt. Bis heute ist diese Erhebung für Juden, Christen und Muslime ein ganz besonderer Ort. Die Juden erinnern sich dort an den zerstörten Tempel, die Christen denken daran, dass Jesus dort im Tempel gepredigt und die Tische der Geldwechsler umgestoßen hat, die Muslime glauben, dass Mohammed von dort aus seine Himmelfahrt angetreten hat, in deren Verlauf er den alten Propheten und Jesus begegnet ist.
Für drei Weltreligionen ist der Zion, der alte Tempelberg, der Ort, an dem heiligste Überlieferungen haften. Und deshalb gibt es dort auch so schnell Konflikte, die bis heute immer wieder ausbrechen, weil dieser Ort mit Kernbereichen des Glaubens verbunden ist. Aber so unterschiedlich diese Religionen auch sind, sie haben gemeinsam, dass sie Gott nicht abstrakt und allgemein mit der Welt zusammenbringen, sondern sie alle sagen auf ihre je besondere Weise: Gott hat sich mit einem bestimmten geografischen Ort verbunden, mit bestimmten Menschen, deren Namen man kennt, und er hat das in bestimmten Augenblicken der Geschichte getan, die man – jedenfalls prinzipiell – im Kalender markieren kann. Ein Ort ist nicht wie der andere, sondern es gibt Orte und Zeiten, die eine ganz besondere Verbindung mit Gott haben.
Das hat Israel gründlich gelernt, als sie nach Babylon verschleppt waren. Damals haben sie sich zurückgesehnt nach Zion: »Wir saßen an den Wassern von Babylon und weinten, wenn wir an Zion dachten« (Ps. 137,1) – Sie kennen das auch aus dem Lied »By the rivers of Babylon«. Da war »Zion« schon eine Bezeichnung für ganz Jerusalem, nicht nur für den Tempelberg. Außerdem hat man den Berg Zion mit dem Berg identifiziert, auf dem Abraham einen Altar baute, um dort seinen Sohn Isaak zu opfern – was Gott dann zum Glück im letzten Moment verhindert hat. Diese Geschichte ist auch für Muslime eine sehr wichtige Geschichte. Da hat also der Zionsgedanke zeitlich auch nach hinten einen Anschluss gefunden.
Gott bindet sich selbst
Und schließlich kann man in unserem Psalm sehen, wie sich diese Zionsthematik nach hinten mit einem weiteren Gedanken verbunden hat, nämlich mit dem Symbol des Gottesberges, auf dem die Stadt Gottes steht. Denn wenn es in unserem Psalm in Vers 3 heißt »der Berg Zion, weit im Norden, die Stadt des großen Königs«, dann ist das eigentlich merkwürdig: Jerusalem liegt in der Mitte Israels, und von Babylon aus gesehen sogar eher im Süden. Aber man hat da ein Motiv aufgenommen, das bei vielen Völkern bekannt ist: der Gottesberg im Norden – bei den Griechen war das der Olymp.
Die Juden haben also damit ausgedrückt: wenn ihr Heidenvölker euch vorstellt, dass Himmel und Erde sich auf einem bestimmten Berg begegnen, dann liegt ihr damit gar nicht so schief, nur findet sich dieser Berg nicht irgendwo im hohen Norden, sondern es ist der Berg Zion, und hier bei uns könnt ihr ihn sehen. Und die Stadt des großen Königs, die Stadt des höchsten Gottes, die nach euren Vorstellungen auf diesem Berg liegt, das ist Jerusalem. Bei uns wohnt Gott, das ist die Mitte der Welt. Deshalb hat man auch später auf mittelalterlichen Landkarten Jerusalem im Zentrum eingezeichnet und die anderen Länder und Meere darum herum gruppiert.
Und immer wieder zeigt sich darin ein biblisches Grundprinzip: Gott hat sich zuerst mit bestimmten Orten und Zeiten verbunden, er ist nicht überall und nirgends, sondern man findet ihn zuerst an besonderen Orten: in Jerusalem auf dem Zion, oder in Bethlehem in der Krippe liegend, oder im Abendmahl, oder eben in Jesus. Gott ist erst ortsgebunden, menschengebunden, und erst von da aus wird dann deutlich, dass der Gott von Zion auch der Gott der ganzen Erde ist, der Schöpfer der Welt. Er ist zuerst der Vater Jesu Christi, und dann im zweiten Schritt auch der Vater aller, die zu Jesus gehören. Und schließlich auch der Vater des Lebens überhaupt.
Ein Freibrief ist das aber nicht
Aber das bedeutet auch immer eine Gefahr: wenn Gott sich an diesen Ort bindet, dann können wir denken, wir hätten ihn jetzt auch in gewisser Weise in der Hand. Die Juden haben deshalb manchmal geglaubt, Jerusalem sei militärisch uneinnehmbar, weil es ja Gottes Stadt ist. Schon als der Prophet Jeremia davor warnte, dass Jerusalem wegen seines Unglaubens zerstört werden könnte, bekam er zu hören: aber hier ist doch der Tempel des Herrn! Wir sind hier völlig sicher. Uns kann nichts passieren!
Tatsächlich ist Jerusalem durch seine Lage auf dem Berg ziemlich geschützt, und es war schon in der alten Zeit stark befestigt. Jerusalem hat vielen starken Feinden widerstanden und wenn es erobert wurde, dann nur nach einer langen Belagerung, wenn die Stadt völlig ausgehungert war. Aber immer wieder sagten die Propheten, und so meint es auch dieser Psalm: glaubt nicht, das wäre ein Freibrief, durch den ihr Gott in der Hand hättet. Im Entscheidenden ist diese Stadt nicht durch ihre Mauern und Türme stark, sondern durch Gott, wenn er in ihr wohnt. Und wenn ihr ihn vertreibt, wird euch auch der Tempel des Herrn nichts nützen!
Die prophetische Korrektur
Vorhin haben wir ja in der Lesung (Matthäus 23,37- 24,2) gehört, wie auch Jesus da genau in der Linie der Propheten gestanden hat: Er hatte im Tempel sehr kritisch über die Priester und die herrschenden Kreise gesprochen. Und als er den Tempel verließ, da zeigten seine Jünger noch einmal auf die gewaltigen Bauwerke, als ob sie sagen wollten: wir verstehen deine Kritik und teilen sie, aber so als Bauwerk ist dieser Tempel doch eine tolle Sache, das musst selbst du zugeben! Und Jesus antwortet ihnen nur: Das alles wird ein Trümmerfeld werden!
Und tatsächlich ist es so gekommen: zum ersten Mal 500 Jahre vor Jesus – da haben die Babylonier Jerusalem erobert und zerstört, und 40 Jahre nach Jesus die Römer. Und das war jedes Mal ein tiefer Schock für alle, die sich auf tote Steine verlassen, statt auf den lebendigen Gott. Deswegen muss man bei einem solchen Psalm, der die Stadt Jerusalem preist für ihre Schönheit und ihre Stärke, immer auch die prophetische Korrektur mithören: Gott ist die Stärke dieser Stadt, ihre Mauern und Türme sind ein Zeichen seiner Macht, und sie nützen nichts, wenn ihr Gott aus der Stadt vertreibt. Und der Psalm selbst macht das auch ausdrücklich deutlich, wenn er sagt »Gott macht diese Stadt fest auf ewig (v. 9).« Oder wenn es zum Schluss heißt: »Gott selbst wird uns leiten (v. 15).«
Zion und Jerusalem
Weil aber Menschen das leicht vergessen und lieber auf sichtbare Mauern vertrauen als auf den unsichtbaren Gott, deshalb gibt es auch eine dunkle Geschichte Jerusalems, auf die Jesus anspielt, wenn er sagt: »Jerusalem, Jerusalem, du tötest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt sind!« Gerade in der Stadt Gottes gibt es eine Geschichte davon, wie sich Gottes Volk verschließt gegen sein lebendiges Wort. Sie töten die Propheten, die mit Gottes lebendigem Wort zu ihnen kommen, weil sie Gott nur als den toten Götzen kannten, der ihnen tote Steine als Schutz gibt.
Es gibt also eine Art Unterschied zwischen Zion, der Stadt des lebendigen Gottes auf Erden, und Jerusalem, der Hauptstadt Israels, in der oft unfähige Könige und bestechliche Priester regiert und die Menschen in die Irre geführt haben. Beide überschneiden sich, sie haben den gleichen geografischen Ort, sie hängen zusammen, aber im Extremfall können sie fast ganz auseinanderfallen und fast nichts mehr miteinander zu tun haben. Jerusalem wird zerstört, aber der Zion ist weiterhin Sehnsuchtsort, an den man täglich denkt. In der Offenbarung des Johannes kommt dann endlich das himmlische Jerusalem vom Himmel auf die Erde herab, und dann werden beide deckungsgleich.
Schönheit und Pracht können sinnvoll sein, müssen aber nicht
Dieses merkwürdige Ineinander findet man immer wieder in der Geschichte des Gottesvolkes: Gott bindet sich an Menschen und das, was sie tun, aber wir haben ihn damit nicht in der Hand. Nimm z.B. den Petersdom in Rom, oder irgendeine andere prächtige Kirche, oder auch einen bescheidenen Bau wie unsere Kirche, in der wir uns heute versammelt haben: das sind alles Orte, die Menschen gebaut haben, weil sich dort Himmel und Erde begegnen sollen. Und das passiert auch. Gott kommt zu solchen Orten und sie helfen ihm, Menschen zu begegnen. Schönheit und Pracht dieser Gebäude sind natürlich sehr unterschiedlich, aber sie sollen jedes Mal etwas von Gott widerspiegeln, von seiner Schönheit und Größe, von seiner Macht und Herrlichkeit. Manche kriegen das natürlich architektonisch gesehen besser hin als andere. Aber manchmal gelingt das einem Kirchlein wie unserem besser als dem – sagen wir – riesigen Berliner Dom. Weil eben der künstlerische, ästhetische Wert immer nur Mittel zum Zweck ist und nie Selbstzweck. Die künstlerisch hochwertigste Kirche nützt nichts, wenn da nur Unsinn erzählt wird. Und umgekehrt.
Das gilt auch für andere Orte, an denen Gott und Welt sich begegnen sollen: die Bibel ist Gottes authentische Selbstvorstellung, sie hat unzähligen Menschen Gott nahegebracht, aber man kann mit der Bibel auch so umgehen, dass Menschen eher von Gott abgeschreckt werden. Das Abendmahl hat Jesus uns hinterlassen, damit wir alle in Reichweite, in jeder Küche, einen Ort haben können, wo Jesus in unserer Mitte ist, uns zur Gemeinde macht und mit uns redet. Man kann aber auch aus dem Abendmahl so ein starres, prunkvolles heiliges Ritual machen, dass normale Leute gar nicht auf den Gedanken kommen, das wäre die Art, wie Jesus in ihr alltägliches Leben kommt. Die Taufe ist ein ganzheitliches Erlebnis, in dem wir spüren können, dass Gott sich ganz persönlich mit uns verbinden will – aber wir können sie auch so missverstehen, als habe man damit eine garantierte Platzkarte für den Himmel erworben.
Stereoskopisch schauen
Es gibt Zeiten, in denen muss man betonen, dass Gott nicht auf bestimmte Orte und Zeiten angewiesen ist, sondern auch ganz unabhängig davon zu uns reden kann. Zu anderen Zeiten muss man betonen, dass er sich mit konkreten Orten und Zeiten in unserer Welt verbindet, mit dem Sonntag, mit dem Gottesdienst, mit der Gemeinde. Überlegt selbst, was wohl im Augenblick eher dran ist. Wir müssen sozusagen stereoskopisch schauen, das ganze Bild sehen, damit wir uns nicht auf eine Seite und zu einer Sichtweise verirren. Erst am Ende der Zeiten wir die Wahrheit klar und eindeutig sichtbar werden, ohne alle Zweideutigkeiten und Ambivalenzen. Bis dahin müssen wir lernen, dem Gott vom Zion zu vertrauen, aber ihn in Jerusalem zu suchen (oder eben in unserer Nikolai-Kirche).
Und keinen von den beiden Zugängen soll man verachten oder geringschätzen.