Die großen Zeiten kommen so nicht wieder
Predigt am 16. Dezember 2018 (3. Advent) zu Psalm 44
Fünf Abschnitte hat das Buch der Psalmen, Untersammlungen sozusagen, und seit Psalm 42 sind wir jetzt im zweiten Teil. Hier gibt es einen etwas anderen Ton, es geht öfter um das ganze Volk Gottes, etwas weniger um Einzelne, aber das ist nur eine Verschiebung in den Nuancen. Der Psalm 44 jedenfalls hat von Anfang an das Volk Gottes mit seiner Geschichte im Fokus. Es ist ein langer Psalm, wir werden ihn deshalb abschnittsweise hören
4 Denn nicht mit ihrem Schwert nahmen sie das Land in Besitz und nicht ihr Arm hat ihnen Rettung gebracht; nein, deine Rechte war es, dein Arm und das Licht deines Angesichts; denn du hattest an ihnen Gefallen. 5 Du bist es, mein König, Gott! Gebiete rettende Taten für Jakob! 6 Mit dir stoßen wir unsere Bedränger nieder, in deinem Namen zertreten wir, die gegen uns aufstehn. 7 Denn ich vertraue nicht auf meinen Bogen, noch wird mein Schwert mir Rettung bringen; 8 nein, du hast uns vor unseren Bedrängern gerettet; du hast mit Schmach bedeckt, die uns hassen. 9 Wir rühmten uns Gottes den ganzen Tag und deinem Namen werden wir ewig danken.
Das ist eine Erinnerung an die großen Zeiten, die die Väter Israels erlebt haben. Die großen Zeiten liegen fast immer in der Vergangenheit, im Rückblick sind sie groß und entscheidend. Wenn man sie erlebt, fühlen sie sich nicht unbedingt so an. Hier denkt einer zurück an die Zeit, als Israel in das verheißene Land zog: ein Haufen heimatloser Gesellen, gerade erst von Mose zu einem Volk gemacht, geflohene Sklaven, die immer noch mit der alten Sklavenmentalität zu kämpfen hatten, die immer noch nicht richtig verstanden hatten, was das für ein Gott war, der sie da auf den Weg gebracht hatte.
Mit Gott im Rücken
Sie zogen in ein Land mit einer alten Kultur, und sie mussten sich erst dort behaupten. Sie mussten der Sogwirkung dieser Kultur widerstehen, damit sie nicht auch anfingen, Kinder als Opfer den Göttern darzubringen, wie es in manchen der einheimischen Religionen üblich war. Und sie mussten aufpassen, dass sie weiter ein freies Volk blieben, das nur Gott über sich hatte und nach seinem Gesetz lebte und lernte.
Es gab viele Kämpfe, es gab Verirrungen und Rückschläge, es gab die Überfälle von wilden Nomaden, am Ende musste König David die tödliche Bedrohung durch die Philister abwehren, aber am Ende hatten sie ihr Land, wie Gott es ihnen verheißen hatte.
Und im Rückblick sagt jemand: ja, es ist ganz deutlich, das alles war Gottes Werk. Wir allein hätten das nie und nimmer geschafft. Du hast uns den Sieg gegeben, Gott. Und daran wollen wir uns erinnern, wenn wir in Bedrängnis geraten: wir sind nur stark, wenn wir dich im Rücken haben. Es gibt keinen Grund, uns etwas darauf einzubilden: wenn du nicht so wärest, wie du bist, dann hätten wir das nicht geschafft.
Zeiten, an die man sich erinnert
An solche großen Zeiten erinnert man sich, man feiert Feste und richtet Gedenksteine auf. Man erzählt davon den Kindern und schreibt es auf. Auch Menschen und Familien haben solche Zeiten, an die man zurückdenkt: wie man nach dem Krieg wieder angefangen hat, geheiratet in einem selbstgeschneiderten Brautkleid aus irgendwoher organisiertem Stoff, mit selbstgebranntem Schnaps. Oder die kleine Wohnung, wo man zuerst mit den Kindern gewohnt hat. Die erste Arbeitsstelle, und wie man sich gegen den unmöglichen Chef behaupten musste. Oder die großen Zeiten der Christenheit, die Apostel, die Mission, die großen Männer und auch einige Frauen, von denen Pastoren gerne in Predigten erzählen. Der begeisterte Aufbruch in einer Gemeinde, wo alle sich verstehen und an einem Strang ziehen, wo man das Gefühl hat, demnächst bricht die große Erweckung aus.
Herbe Enttäuschungen
Aber dann kommt die Zeit, wo die Zeiten nicht mehr so groß und begeisternd sind, und wo es plötzlich Rückschläge gibt. Und jetzt merkt man, dass der 44. Psalm aus so einer Zeit stammt:
Der scheinbar unaufhaltsame Siegeslauf ist zu Ende. Gott hat sich zurückgezogen, und alle, die schon besiegt schienen, haben plötzlich wieder Oberwasser. Israels Nachbarn merken, dass dieses Volk nicht mehr unüberwindlich ist, und sie regen sich,sie dringen ein und plündern. Das Volk ist blamiert. Vielleicht hat das einer so geschrieben in der Zeit, als Israel in der hellenistischen Zeit nach 300 vor Christus schwach und verwundbar war, genau weiß man das nicht, aber in diese Zeit würde es gut passen.
Aber eine genaue Datierung ist nicht wichtig, denn das passiert eben auch, dass auf einmal die Niederlagen kommen, wo es bisher immer nur voran ging. Die Familie ist endlich in eine schönere Wohnung gezogen, aber jetzt wird jemand immer wieder krank, und mit den Kindern läuft es auch nicht rund. Europa war christianisiert, aber dann verwüsteten die wilden Wikinger die Küsten und bald auch die Ufer der großen Flüsse. Der begeisterte Aufbruch verheddert sich in den Alltagsproblemen. Warum räumt Gott nicht einfach die Probleme beiseite wie früher? Warum greift er nicht ein und lässt sein Volk wieder die Oberhand gewinnen? Warum lässt du uns diese Blamage erleben, Gott?
An Sünde lag es nicht!
Eine Erklärung könnte ja sein, dass sich Sünde eingeschlichen hat, dass sie von Gott abgefallen sind und er sie zur Besinnung bringen will. Die babylonische Gefangenschaft war so eine Reaktion Gottes auf die Irrwege der Könige von Israel und die Rückkehr der Götzen. In Babylon haben sie sich ihrer Verirrungen geschämt, haben bereut und erlebten nach 70 Jahren tatsächlich einen Neuanfang. Oder die Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg als Quittung für die Nazi-Verbrechen. Aber das ist kein Modell, das für alle Situationen passt. Es liegt nicht immer an unserer Sünde, wenn Gott sich zurückzieht. Hier im Psalm wird das jedenfalls bestritten:
Nein, sagt die Stimme, die wir hier hören: wir haben dich nicht verlassen. Wir sind dir treu geblieben. Es liegt nicht an unseren heimlichen Sünden. Das alles kommt gerade über uns, weil wir an dir festgehalten haben. Damals im hellenistischen Zeitalter kam die frühe Globalisierung über Israel. Heute würde man sagen: Coca-Cola, MacDonalds, H & M und Billigjobs breiteten sich aus. Und sie haben sich nach Kräften gewehrt, sind dem Gesetz treu geblieben, auch auf die Gefahr hin, als religiöse Hinterwäldler zu gelten.
Wach auf, Gott!
Aber es half alles nichts. Mit Gewalt wurde das Land für die neue Ordnung geöffnet, die Gerechten verschwanden in Lagern und Foltergefängnissen. Und sie schrien zu Gott: wir tun das doch für dich! Warum siehst du zu und tust nichts? Du weißt doch selbst, dass wir mit diesen Mördern nichts gemein haben. Schläfst du? Und so schreien sie zu Gott: Hilf uns!
Das ist die Stimme Israels, wie sie auch zur Zeit Jesu immer noch zu hören war. Zwischendurch hatte es auch bessere Zeiten gegeben, aber am Ende waren sie doch wieder hilflos in der Gewalt des römischen Imperiums, wehrlos immer neuen Steuern und Schikanen unterworfen und als Volk kurz davor, endgültig zerschlagen zu werden. Sie verstehen nicht, warum Gott sie schutzlos den Feinden überlässt. Sie können nur noch um Hilfe flehen. Er verbirgt sich vor ihnen, aber sie halten an ihm fest. Sie hören nicht auf, nach ihm zu rufen. Aber er bleibt stumm. Er scheint zu schlafen und sich nicht mehr zu interessieren.
Warum?
Wir wissen nicht, warum es solche Zeiten gibt, schon gar nicht, wenn wir mitten drin stecken. Warum ist die Christenheit im christlichen Europa so in der Defensive? Warum tut Gott seine Wunder höchstens im Verborgenen? Warum überzeugt er die Skeptiker nicht mit einem unwiderlegbaren Wunder?
Und nun ist das Beeindruckende daran, dass der Psalm diese Fragen an Gott richtet und mit einem Schrei nach ihm endet, und damit endet er wirklich. Der Psalm endet als offene Frage, ohne eine Lösung. Im Grunde ist dieser Psalm eine Zusammenfassung des ganzen Alten Testaments: die großen Taten Gottes – aber warum bleiben sie stecken? So endete auch das Leben Jesu am Kreuz als offene Frage: mein Gott, warum hast du mich verlassen? Aber weil sich diese Frage an Gott richtet, deshalb ist sie doch eine Hoffnung. Und auch auf den 44. Psalm gibt es so etwas wie eine Antwort. Wir haben sie schon vorhin in der Lesung gehört: das Lied des Zacharias, des Vaters von Johannes dem Täufer, der in seinem neugeborenen Kind schon den Anfang eines neuen Handelns des Gottes Israels sieht (Lukas 1,68-75):
Das ist so etwas wie eine Antwort auf Psalm 44: Ja, Gott greift jetzt ein, aber er tut es auf neue Weise, nicht so, wie es bei den Vätern war. Die großen alten Zeiten waren nicht falsch, aber sie kommen nicht wieder. Gott bleibt sich selbst treu, er hält seine Versprechen, aber das heißt nicht, dass er immer wieder zwanghaft nach dem gleichen Muster handelt. »Ich will ein Neues schaffen, gleich wächst es auf, begreift ihr‘s denn nicht?« heißt es schon bei Jesaja (43,19). Wer von Gott erwartet, dass er immer wieder nach den früheren Mustern reagiert, der begreift ihn nicht. Er ist der Gott der Väter, aber er handelt nicht immer wieder so wie damals. Auch Paulus zitiert die Stelle mit den Schlachtschafen aus Psalm 44, im Römerbrief in Kapitel 8, aber er sagt: darauf gibt es jetzt eine Antwort, und die lautet: nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes, wie sie in Jesus Christus Gestalt angenommen hat.
Gottes Handeln ändert sich
Mit Jesus hat etwas fundamental Neues begonnen. Dass Gott durch ihn sogar den Tod überwinden würde, davon gibt es im Alten Testament nur hier und da sehr vorsichtige Andeutungen, und wir verstehen sie erst im Rückblick. Aber auch nach Jesus bleibt Gott der Lebendige, der nicht auf ein Schema F festzulegen ist. Die großen alten Zeiten kommen auch für uns nicht zurück. Je stärker wir uns auf sie fixieren, um so wahrscheinlicher werden wir das Neue übersehen, das Gott schon längst wachsen lässt.
Wenn solch ein Psalm einfach mit einer offenen Frage endet, wenn Jesus mit einem schrecklichen Schrei stirbt, das soll unsere Gewissheiten zerbrechen, damit sie Gottes Handeln nicht im Weg stehen. Wir sollen bereit werden für das Neue, das er tut.
Das ist ja der Sinn des Advents: Gott kommt, und wir sollen vorbereitet werden, damit wenigstens einige das auch erkennen. Wenn nicht mehr 100% der Europäer Christen sind, dann soll das vorbereiten darauf, dass Gott einen neuen Weg im Sinn hat, den wir nicht vorausgesehen haben, und wir wissen nicht, wie lange das Warten noch dauert und ob wir das Neue noch selbst erleben werden.
Aufmerksam sein
Deswegen macht es Sinn, abzuwarten und getrost Ausschau zu halten. Im Großen wie im Kleinen. Die großen Zeiten kommen manchmal auf sehr leisen Sohlen, und man kann schon mitten drin sein, bevor man es sich versieht.
Es gibt die Zeiten, wo wir uns aufmachen sollen und etwas tun sollen, und wir legen ja im Leben sowieso nicht die Hände in den Schoß. Es gibt aber auch die Momente, wo Innehalten und Warten die größere Tat ist:
… hieß es im Psalm. Aus diesem Vertrauen heraus sollen wir manchmal handeln und manchmal auch nur gespannt und aufmerksam warten.