Menschheitliche Solidarität
Predigt am 21. Oktober 2018 zu Psalm 38
1 Ein Psalm Davids, zum Gedenkopfer.
2 HERR, strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm!
3 Denn deine Pfeile stecken in mir, und deine Hand drückt mich.
4 Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe wegen deines Drohens
und ist nichts Heiles an meinen Gebeinen wegen meiner Sünde.
5 Denn meine Sünden gehen über mein Haupt;
wie eine schwere Last sind sie mir zu schwer geworden.
6 Meine Wunden stinken und eitern wegen meiner Torheit.
7 Ich gehe krumm und sehr gebückt; den ganzen Tag gehe ich traurig einher.
8 Denn meine Lenden sind ganz verdorrt; es ist nichts Gesundes an meinem Leibe.
9 Ich bin matt geworden und ganz zerschlagen; ich schreie vor Unruhe meines Herzens.
10 Herr, du kennst all mein Begehren, und mein Seufzen ist dir nicht verborgen.
11 Mein Herz erbebt, meine Kraft hat mich verlassen, und das Licht meiner Augen ist dahin.
12 Meine Lieben und Freunde scheuen zurück vor meiner Plage,
und meine Nächsten halten sich fern.
13 Die mir nach dem Leben trachten, stellen mir nach;
und die mein Unglück suchen, bereden, wie sie schaden wollen;
sie sinnen Arges den ganzen Tag.
14 Ich bin wie taub und höre nicht, und wie ein Stummer, der seinen Mund nicht auftut.
15 Ich muss sein wie einer, der nicht hört und keine Widerrede in seinem Munde hat.
16 Aber ich harre, HERR, auf dich; du, Herr, mein Gott, wirst antworten.
17 Denn ich denke: Dass sie sich ja nicht über mich freuen!
Wenn mein Fuß wankte, würden sie sich hoch rühmen wider mich.
18 Denn ich bin dem Fallen nahe, und mein Schmerz ist immer vor mir.
19 Denn ich bekenne meine Missetat und sorge mich wegen meiner Sünde.
20 Aber meine Feinde leben und sind mächtig; die mich ohne Grund hassen, derer sind viele.
21 Die mir Gutes mit Bösem vergelten, feinden mich an, weil ich mich an das Gute halte.
22 Verlass mich nicht, HERR, mein Gott, sei nicht ferne von mir!
23 Eile, mir beizustehen, Herr, meine Hilfe!
Als wir vor zwei Wochen auf den 37. Psalm gehört haben, da hat es noch ganz anders geklungen:
33 Aber der HERR lässt ihn nicht in seiner Hand und verdammt ihn nicht, wenn er verurteilt wird.
Also: du musst möglicherweise etwas warten, aber am Ende wirst du sehen, dass Gott die Gerechten beschützt und die Intrigen und Vorwürfe der Frevler scheitern.
In diesem 38. Psalm ist diese Zuversicht so fast nicht mehr da, sondern wir hören nur noch ein verzweifeltes Gebet um Hilfe:
23 Eile, mir beizustehen, Herr, meine Hilfe!
Hier betet jemand, der kurz davor ist, endgültig unterzugehen. Er ist schwer krank, nicht im übertragenen Sinn, sondern er beschreibt ja seine stinkenden Wunden, sein überlastetes Herz, seine Kraftlosigkeit, und dass er sogar dabei ist, sein Augenlicht zu verlieren. Vermutlich hat er Aussatz, eine ansteckende Krankheit, die nach und nach den ganzen Körper zerfrisst. Genaueres kann man schlecht sagen, weil auch dieser Psalm eine Gebetsvorlage ist, in der sich viele verschiedene Menschen wiederfinden können.
Unglück als Strafe
Deswegen kann man auch nichts Näheres dazu sagen, was die speziellen Sünden sind, von denen dieser Mensch immer wieder spricht. Denn von Anfang an erlebt er sein Unglück als einen Angriff Gottes auf ihn, den er durch sein eigenes Verhalten auf sich gezogen hat. »HERR, strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm!« sagt er. Dahinter steckt die Überzeugung, dass schwere Krankheit oder Unglück allgemein eine Strafe Gottes sind. Das war damals eine weit verbreitete Überzeugung. Und ich glaube, das begegnet uns auch heute, dass Menschen manchmal den Impuls haben, zu sagen: geschieht ihm recht! Endlich bekommt er mal die Quittung für all den Schaden, den er schon angerichtet hat!
Und wir kennen das als selbstverständliche Überzeugung auch aus dem Neuen Testament. Als Jesus und die Jünger einem von Geburt an Blinden begegnen, da fragen sie Jesus: wer ist an seiner Blindheit schuld, seine eigenen Sünden oder die seiner Eltern? Das ist für sie eine interessante Frage, weil einer, der blind zur Welt gekommen ist, eigentlich ja noch gar keine Sünden begangen haben kann. Aber sie gehen trotzdem von der selbstverständlichen Voraussetzung aus, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen Sünde und dieser Behinderung. Erst Jesus stellt diesen Zusammenhang in Frage und sagt: weder noch! Weder der Blinde selbst noch seine Eltern sind schuld an seiner Behinderung. Und dann heilt er die Augen des Mannes. Oder, wie wir es vorhin in der Lesung (Markus 1,40-44) gehört haben: Da kommt ein Aussätziger zu Jesus, und wir hören nichts davon, dass Jesus die Schuldfrage thematisiert. Stattdessen heißt es: er hatte Mitleid mit ihm, rührte ihn an und heilte ihn.
Eine schwierige Frage …
Wie muss man diesen Widerspruch verstehen zwischen Jesus und denen, die sagen: selber schuld! Krankheit ist die Strafe für deine Sünde! ? Und die können sich dabei ja durchaus auf Bibeltexte berufen, z.B. auf diesen Psalm 38. Andererseits ist klar, dass auf diese Weise kranke oder behinderte Menschen ganz schrecklich belastet werden, wenn sie auch noch selbst schuld an ihrem Unglück sein sollen. Wie kommen wir raus aus diesen ganzen Widersprüchen?
Zunächst müssen wir sagen: ja, es gibt einen grundlegenden Zusammenhang zwischen Krankheit und Sünde. Im Paradies gab es keine Krankheit, und in der neuen Welt wird es sie auch nicht mehr geben. Krankheit ist ein Zeichen dafür, dass wir uns von den Lebensquellen Gottes abgeschnitten haben, und deshalb sind wir anfällig dafür, dass unsere Körper aus dem Takt kommen. Und wenn Jesus die Verbindung zu Gottes Leben wieder herstellt, dann werden Menschen gesund.
Aber: das heißt nicht, dass eine konkrete Krankheit auch auf eine konkrete Sünde eines Menschen zurückgehen muss. Das kann im Einzelfall so sein. Wenn jemand viel zu schnell fährt und bei einen Unfall schwer verletzt wird, dann ist der Zusammenhang ziemlich deutlich. Aber man kann auch eine Lunge haben, die vom Feinstaub und Stickoxid aus Automotoren kaputtgeht, und dann kann man es dem Menschen ja kaum als Sünde anrechnen, dass er in der Innenstadt an einer Hauptverkehrsstraße gewohnt hat. Oder der Blindgeborene, dem Jesus begegnet, der kann ja wohl schlecht als ungeborenes Kind irgendetwas Schreckliches getan haben, für das er nun büßen muss.
Eine Rätsel, das auch Jesus nicht löst
Nein, wir müssen es ganz anders sagen: wer krank ist, an dem zeigt sich auf eine spezielle Weise die Trennung zwischen der ganzen Menschheit und Gott, und wir können nicht sagen, warum die sich ausgerechnet an diesem einen Menschen genau so zeigt. Wieso die einen bis ins hohe Alter gesund bleiben, und die anderen ihr Leben lang von einem Krankenhausaufenthalt zum nächsten gehen, das ist ein Rätsel, das wir nicht lösen können. Warum den einen Menschen von einem Tsunami alles kaputt gemacht wird, und andere erleben so was nie im Leben, diese Frage ist nicht zu beantworten. Warum die einen in Ländern geboren werden, wo Gewalt und Unterdrückung herrschen, und andere in Ländern mit Demokratie und einem Rechtsstaat, dafür gibt es keine Erklärung. Warum der Klimawandel zuerst vor allem die Länder trifft, die ihn am wenigsten verursacht haben, das verstehe ich auch nicht.
Auch die Jünger haben von Jesus auf solche Fragen keine Antwort bekommen. Denn schon die Frage ist verkehrt. Ja, das gibt es, dass die einen scheinbar immer das große Los ziehen, und die anderen bekommen eine Niete nach der anderen, aber die richtige Frage ist: wie können wir solidarisch sein mit denen, die ganz besonders die Kluft zwischen Gott und Menschheit zu spüren bekommen? Wie können wir Menschen beistehen, die eine Krankheit nach der anderen bekommen? Wie können wir dafür sorgen, dass Krieg, Gewalt und Unterdrückung nicht mehr so viele Menschen treffen, so dass sie manchmal sogar davor in bessere Länder fliehen? Wie können wir endlich mal in unserem Land ernst machen mit der Reduzierung des CO2-Ausstoßes?
Also: ja, es gibt einen Zusammenhang zwischen Sünde und Unglück jeder Art, das haben die Menschen des Alten Bundes schon richtig gesehen. Manchmal ist dieser Zusammenhang sogar nachvollziehbar, aber meistens bleibt er ein Rätsel. Aber dieses Rätsel ist nicht das Problem.
Mitfühlen statt Distanzierung
Im Gegenteil, wenn wir öfter mit Grund sagen könnten »Selber schuld!«, das würde unser Herz bloß hart machen. Wir würden dann gerade nicht das Mitleid empfinden, das Jesus hatte, als der Aussätzige vor ihm niederkniete und ihn um Hilfe bat. Wir würden so ein Wissen nutzen, um uns zu entsolidarisieren. Wir würden eine Ausrede haben, um zu sagen: das ist nicht mein Problem! Sieh selbst zu, wie du damit zurecht kommst!
Das Problem ist also nicht, dass wir keine Erklärung für die undurchschaubare Verteilung von Glück und Unglück haben. Das Problem ist, dass wir am liebsten die allein im Regen stehen lassen würden, die von irgendeinem großen Unglück betroffen sind.
Im 38. Psalm tauchen solche Leute ja auch auf. Der Kranke hat Feinde, die sich freuen, dass es ihm schlecht geht. Vielleicht spekulieren sie darauf, dass sie sich sein Land aneignen können. Wenn einer schwer krank war und sein Feld nicht bearbeiten konnte, dann musste er einen Kredit auf sein Land aufnehmen, um zu überleben. Und wenn er am Ende tot ist und seine Familie nicht zahlen kann, dann ist das Land weg. Oder irgendwelche Verwandten lauern schon darauf, dass sie der Witwe das Erbe streitig machen können.
Und die haben dann dabei sogar noch ein gutes Gewissen, weil sie sagen: wir vollstrecken ja bloß die Strafe, die Gott über diesen Menschen verhängt hat! Irgendeine verborgene Sünde wird es da schon geben, sonst würde es ihm ja nicht so schlecht gehen. Also, lasst uns sein Fell versaufen, er hat es bestimmt verdient!
Gott ist Zuflucht
Und der Kranke sagt: früher habe ich denen zu Weihnachten großzügig Umschläge mit vielen Euros gegeben, und das ist der Dank? Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr! Gott hilf mir, steh mir bei! Du bist mein einziger, wirklicher Freund! Hilf mir, bevor es zu spät ist! Ich weiß, ich trage auch meinen Anteil an der Schuld der ganzen Menschheit, manches könnte ich auch konkret benennen, aber steh mir doch bei gegen diese Leute! Die haben doch keinen blassen Schimmer von der Schuld, die wir alle gemeinsam zu tragen haben!
Die entscheidende Frage ist, ob Menschen bereit sind, in die Solidarität der Menschheit einzutreten und ihren Teil an der gemeinsamen Schuld zu übernehmen, unabhängig davon, wie groß ihr persönlicher Anteil ist. Wirklich zu beziffern ist der sowieso nicht. Wenn man das versucht, dann landet man bloß wieder bei einer mickerigen Moral.
Jesus solidarisiert sich
Wie es anders geht, das sieht man natürlich wieder an Jesus. Jesus hat keinen Anteil an der kollektiven Menschheitsschuld, und trotzdem ist er bei denen gewesen, die einen besonders großen Anteil daran zu tragen hatten. Und er hat das Kreuz auf sich genommen, diese stärkste Konzentration des gemeinsamen, selbstverschuldeten menschlichen Unglücks. Er ist freiwillig in die Solidarität der Sünder eingetreten, obwohl er selbst keiner war.
Wie viel mehr sollten wir uns dann zu allen stellen, die einen besonders großen Anteil an den Folgen der menschlichen Irrwege zu tragen haben! Deswegen haben wir zum Glück eine kollektive Krankenversicherung, wo die meistens Gesunden mittragen an den Lasten derer, die weniger Glück mit ihrer Gesundheit haben. Deswegen steht in unserem Grundgesetz, dass wir ein Sozialstaat sind, in dem Menschen geholfen werden soll, wenn sie mehr belastet sind als andere. Deswegen ist es aber auch so schlimm, wenn Menschen sich in der Festung Europa verschanzen wollen gegen das Unglück in vielen anderen Teilen der Welt. Ich bin überzeugt: Das würde Gott uns in der Tat nicht auf die Dauer durchgehen lassen!
Der persönliche Anteil
Und im Rahmen dieser allgemeinen Solidarität der Sünder werden wir dann auch fragen, was wohl unser ganz persönlicher Anteil an dem menschlichen Unheil sein könnte. Aber solange da noch nicht die Strafgesetze ins Spiel kommen, muss das wohl in den meisten Fällen jeder für sich selbst fragen. Sünde kann man nicht nach einem Punktesystem berechnen wie die Verkehrssünderpunkte in Flensburg. Sünde hat ganz viel mit unseren emotionalen Grundmustern zu tun, mit unserer individuellen Klugheit, unserer Erziehung und dem Milieu, in dem wir leben. Die Verleumdung des Einen kann in Gottes Augen schlimmer sein als der Mord der Anderen. Und zum Glück hat Gott sich das Gericht darüber selbst vorbehalten.
Statt darüber nachzudenken, aus welchem Grund es einige Menschen schwerer haben als andere, sollten wir deshalb lieber dankbar sein, wenn uns bisher viele Schicksalsschläge erspart geblieben sind. Und wir sollten wie Jesus ein großes Herz voll Mitleid haben, und in seinen Spuren Gottes Segen zu denen bringen, die ihn im Augenblick mehr als andere brauchen.