Die Wahrheit soll wahr werden
Predigt am 29. Juli 2018 zu Psalm 27
1 Von David.
Der HERR ist mein Licht und mein Heil; *
vor wem sollte ich mich fürchten?
Der HERR ist meines Lebens Kraft; *
vor wem sollte mir grauen?
2 Wenn die Übeltäter an mich wollen, mich zu verschlingen, *
meine Widersacher und Feinde, müssen sie selber straucheln und fallen.
3 Wenn sich auch ein Heer wider mich lagert, *
so fürchtet sich dennoch mein Herz nicht;
wenn sich Krieg wider mich erhebt, *
so verlasse ich mich auf ihn.
4 Eines bitte ich vom HERRN,/ das hätte ich gerne: *
dass ich im Hause des HERRN bleiben könne mein Leben lang,
zu schauen die schönen Gottesdienste des HERRN *
und seinen Tempel zu betrachten.
5 Denn er deckt mich in seiner Hütte zur bösen Zeit, /
er birgt mich im Schutz seines Zeltes *
und erhöht mich auf einen Felsen.
6 Und nun erhebt sich mein Haupt *
über meine Feinde, die um mich sind;
so will ich opfern in seinem Zelt mit Jubel, *
ich will singen und Lob sagen dem HERRN.
7 HERR, höre meine Stimme, wenn ich rufe; *
sei mir gnädig und antworte mir!
8 Mein Herz hält dir vor dein Wort: /
»Ihr sollt mein Antlitz suchen.« *
Darum suche ich auch, HERR, dein Antlitz.
9 Verbirg dein Antlitz nicht vor mir, /
verstoße nicht im Zorn deinen Knecht! *
Denn du bist meine Hilfe;
verlass mich nicht und tu die Hand nicht von mir ab, *
du Gott meines Heils!
10 Denn mein Vater und meine Mutter verlassen mich, *
aber der HERR nimmt mich auf.
11 HERR, weise mir deinen Weg *
und leite mich auf ebener Bahn um meiner Feinde willen.
12 Gib mich nicht preis dem Willen meiner Feinde! *
Denn es stehen falsche Zeugen wider mich auf und tun mir Unrecht.
13 Ich glaube aber doch, /
dass ich sehen werde die Güte des HERRN *
im Lande der Lebendigen.
14 Harre des HERRN! *
Sei getrost und unverzagt und harre des HERRN!
In diesem Psalm finden wir einige der ganz starken Vertrauensworte der Bibel:
Der HERR ist mein Licht und mein Heil; *
vor wem sollte ich mich fürchten?
Der HERR ist meines Lebens Kraft; *
vor wem sollte mir grauen?
Das klingt richtig herausfordernd: kommt her, ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt! Glaubt bloß nicht, dass ihr mir Angst machen könnt! Mit Gott im Bunde nehme ich es mit euch allen auf!
Und es ist wieder die Situation, wo ein Mensch gemobbt und verleumdet wird, wo sich sogar seine eigenen Eltern unter dem Druck der öffentlichen Hetze von ihm abwenden, aber der Tempel des Herrn ist seine Zuflucht, da bekommt er so etwas wie Asyl und vertraut fest darauf, dass Gott ihm zu seinem Recht verhelfen wird.
Wieder hören wir nicht genau, was diesem Menschen ursprünglich vorgeworfen wurde. Wahrscheinlich war dieses Gebet lange im Tempel im Gebrauch, gerade für solche Gelegenheiten, und so sind die Bezüge auf die Ursprungssituation nicht festgehalten worden, damit sich viele andere Menschen auch darin wiederfinden können – und das tun sie.
Verwundbar durch Mobbing
Es gehört ja zu den wirklich schlimmen Erfahrungen von Menschen, wenn sie von anderen systematisch schlecht geredet werden. Wenn es eine feste Struktur von Menschen gibt, die sich gegenseitig darin bestätigen, dass du blöd oder fies oder oder lieblos oder verlogen oder betrügerisch oder hässlich oder was auch immer bist, und wenn die das dann auch noch gemeinsam in der Öffentlichkeit verbreiten, das kann eine richtige Bedrohung sein.
Wir sind alle darauf angewiesen, dass wir mit den anderen Menschen kooperieren. Niemand ist eine Insel. Kaum jemand ist so unabhängig, dass es ihm egal sein kann, was die anderen über ihn denken. Wenn alle über dich sagen, dass du ein schrecklicher Mensch bist, oder dass du nichts wert bist, dann fragst du dich eines Tages, ob die nicht vielleicht Recht haben könnten. Genauer: in so einer Drucksituation kann man das gar nicht mehr vernünftig fragen und abwägen, sondern das sickert in einen ein, das schiebt sich in dein Denken, und du musst schon irgendwo Rückhalt haben, wenn du das abwehren willst. In so einer Lage ist man dankbar für jedes kleine Zeichen von Freundlichkeit und Unterstützung. Aber wenn jetzt sogar schon die Eltern sich vom Sohn oder der Tochter abwenden, dann gibt es eigentlich niemanden mehr, der ihn unterstützt.
Asyl im Tempel
Aber es gibt ja noch den Tempel. Gott hat in Israel eine Instanz eingerichtet, zu deren Aufgaben es ausdrücklich gehörte, in solchen Fällen dem Angegriffenen einen Schutzraum zu bieten, wo er wieder zu sich selbst kommen konnte, und wo er in einem unabhängigen Verfahren rehabilitiert werden konnte.
Wir wissen leider sehr wenig Genaues darüber, wie das damals vor sich gegangen ist. Aber es scheint da einen geistlich geprägten Weg gegeben zu haben, mit Opfern und Gebeten, mit einer Nacht, die dieser Mensch im Tempel zubrachte, und irgendwie geschah dabei auch Seelsorge, und am Ende war er wieder hergestellt und konnte aufs Neue seinen Platz in der Welt einnehmen.
Und die entscheidende Rolle spielte dabei eben der Tempel, aber nicht nur als reines Gebäude, sondern als unabhängige Einrichtung mit Traditionen des Nachdenkens und Urteilens, mit Opferritualen und vor allem mit dem ganzen Personal an Priestern und Leviten, die das getragen haben. Es war ja eine Gesellschaft, wo die allermeisten Menschen von Früh bis Spät einfach nur damit zu tun hatten, ihre Nahrung zu erarbeiten. Und da ist so eine Institution, in der konzentriert nachgedacht wird, wo Gedanken produziert und weitergegeben werden, wo man über viele Generationen hinweg Erfahrungen im Umgang mit Menschen zusammenträgt und bewahrt – so eine Institution ist in solch einer Gesellschaft ein ganz einmaliges und auch mächtiges Zentrum.
Ein Schutzraum für die Wahrheit
Wir haben heute keinen Tempel mehr, aber die Aufgabe der Menschen Gottes ist geblieben: Räume zu schaffen, die unabhängig sind von dem Sog der Stimmungen. Orte zu schaffen, wo man sich sein Urteil unabhängig vom Druck der öffentlichen Meinung bildet, weil man miteinander Übung darin hat, die Geister zu unterscheiden. Gesprächszusammenhänge aufrecht zu erhalten, wo Manipulation und Tricksereien schnell durchschaut werden. So wie die Kardinäle bei der Papstwahl in einem abgetrennten Bereich isoliert werden, ohne Telefon und Kontakt zur Außenwelt, mit festen Gebräuchen und Gottesdiensten, damit sich unter Ihnen eine ganz eigene, unabhängige Dynamik entwickeln kann, die nicht von außen gesteuert oder beeinflusst wird.
Natürlich sind alle menschlichen Institutionen fehleranfällig, das Konklave zur Papstwahl ebenso wie die Diskussion in einer x-beliebigen Gemeinde in Hintertupfingen. Auch da kann es Mobbing und Hetze gegen Menschen geben. Aber das ist immer noch besser als eine Welt, wo es diese unabhängigen Institutionen gar nicht gibt, wo die Religion sowieso in der Hand der Mächtigen ist und immer den Starken Recht gibt. Es muss solche Orte geben, wo Menschen, die angegriffen werden, Schutz finden.
Und das gilt für Mobbing am Arbeitsplatz, in der Schule und in der Nachbarschaft genauso wie für öffentliche Verleumdungen. Wir erleben ja zur Zeit einen konzentrierten Angriff auf die Wahrheit von ganz unterschiedlichen Seiten aus. Wir haben den amerikanischen Präsidenten, der sich die Wahrheit hemmungslos so zurechtbiegt, wie er sie braucht, heute so und morgen so, und sich noch nicht mal schämt dafür; und fast die Hälfte der Amerikaner scheint das nicht zu stören. Und ein Haufen kleinerer Machthaber tut es ihm nach. Wir haben die russischen Propagandaapparate, die sich im Internet als besorgte Bürger verkleiden, ihre Lügen gegenseitig bestätigen, und den Eindruck verbreiten, sie seien Volkes Stimme. Und wir haben einen Haufen Menschen, die überhaupt nicht mehr wissen, was sie glauben sollen, und es aufgegeben haben, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen. Und natürlich freut das die Mächtigen, denn wenn Menschen gar nichts mehr glauben, dann können die wirklichen Drahtzieher, die genau wissen, was sie wollen, ungestört ihren Geschäften nachgehen.
Unter akutem Druck
Hier im Psalm fühlt sich ein Mensch sicher, weil er das feste Zutrauen hat, dass Gott hinter ihm steht und ihn schützen wird. Ich habe keine Angst vor euch! sagt er immer wieder. Und dann gibt es in Vers 7 so etwas wie einen Bruch. Es scheint so zu sein, dass er jetzt tatsächlich in den Tempel geht und dort Zuflucht sucht. Und da wird der Ton seines Betens ängstlicher. Jetzt ist es nicht mehr so selbstverständlich, dass Gott ihm helfen wird. Er bittet inständig: »Herr höre mich und antworte mir!«. Er argumentiert: »Du hast doch selbst gesagt, dass wir dein Antlitz suchen sollen, und das tue ich jetzt. Also verbirg dein Antlitz nicht vor mir, wende dich nicht ab von mir!«
Versteht, es gibt die Wahrheiten über Gott, die wir glauben, die man auf bunten Spruchkarten verschenkt oder die man als Konfirmations- oder Taufspruch bekommt. Auch so ein Satz wie »Der Herr ist mein Licht und mein Heil – vor wem sollte ich mich fürchten?« gehört dazu. Und die Sätze sind richtig. Du kannst auf Gott dein Leben bauen. Du kannst davon ausgehen, dass er so ist. Viele Menschen haben ihn so erlebt und können das bestätigen.
Aber es ist eine Sache, das zu glauben, und es ist eine andere, sich in der akuten Drucksituation darauf zu verlassen, dass das jetzt auch wirklich funktionieren wird. Wenn wir akut in Probleme kommen, dann müssen wir uns diese ganzen Gewissheiten noch einmal neu erringen. Im Ernstfall funktioniert das nicht so glatt wie auf den Spruchkarten; und man fühlt sich auch nicht so heroisch, wie es die schönen Fotos da signalisieren. Im Ernstfall kommst du zu Gott und die Angst sitzt dir im Nacken und du sagst zu ihm, wie es hier im Psalm steht: Bitte lass mich nicht fallen! Bitte lass jetzt nicht auch noch meine beste Freundin auf Distanz gehen! Bitte schütz mich vor der BILD-Zeitung. Schick mir doch ein paar Leute, die zu mir halten und nicht die ganzen Lügen glauben. Bitte sende mir wenigstens ein paar freundliche Worte!
Eine Zeit der Unsicherheit
Und dann passiert – nichts. Und jemand wartet und wartet und fragt sich: hab ich aufs falsche Pferd gesetzt? Waren es vielleicht alles nur leere Worte über Gott, auf die ich mich verlassen habe? Könnte es sein, dass alles nicht stimmt? Ich mag überhaupt nicht dran denken, dass mein letzter Halt auch noch wegbrechen könnte!
Versteht ihr, all die großen Wahrheiten über Gott, all die Konfirmationssprüche und Spruchkarten und auch die Psalmen der Bibel, die stehen nicht einfach ein für allemal fest. Wenn es ernst wird, dann muss sich die jeder erst selbst erkämpfen. Das ist keine Lehrbuchweisheit, die immer funktioniert. Es sind eher Versprechen: »Suche dort, und du wirst etwas finden, wenn du lange genug gräbst«. Man weiß noch nicht mal wie lange man graben muss, Der eine muss graben und graben und steht kurz vor dem Aufgeben, die andere kratzt ein bisschen und findet einen Schatz. Es gibt kein Schema F bei Gott.
Diese Zeit des Asyls im Tempel, die Zeit, die einer im Gebet zubringt, wenn er gemobbt wird, das ist eine Zeit der Unsicherheit, weil man nicht weiß, wie es ausgehen wird. Gott hilft, aber man weiß vorher nicht, wie. Es dauert und dauert. Es ist keine schöne Zeit. Und sie dauert immer länger, als man dachte.
Endlich ein gutes Wort
Hier im Psalm steht am Ende ein Satz, den vielleicht ein Priester zu dem Beter spricht: Harre des Herrn! Sei getrost und unverzagt und harre des Herrn! Das ist noch nicht die endgültige Lösung. Vielleicht gibt es in der Welt, wie wir sie kennen, sowieso immer nur vorläufige Lösungen. Aber es ist eine Bestätigung: du bist auf dem richtigen Weg. Bleib dabei! Halte durch!
Die Psalmen sind die Dokumente solchen Durchhaltens. Sie sind Zeugnisse davon, wie Menschen tatsächlich Hilfe gefunden haben, wie Gott tatsächlich geschützt und geholfen hat. In ihnen stecken die Erfahrungen vieler Generationen. Sie sind wahr. Und trotzdem müssen wir sie uns immer erst selbst aneignen, bis sie unsere Erfahrungen werden, bis es unsere Wahrheit ist.
Auch Jesus musste kämpfen
Selbst bei Jesus kann man das sehen, wie er mit großer Entschlossenheit auf die Konfrontation mit dem Machtzentrum in Jerusalem zugeht, klar sieht, was auf ihn zukommt – aber dann, bevor er verhaftet wird, da kämpft er im Gebet in Gethsemane darum, dass er das Vertrauen in Gott und seinen Weg behält. Und am Kreuz kämpft er darum, an Gott festzuhalten unter grausamen Schmerzen. Und es dauert und dauert. Und dann stirbt er, und wieder passiert erst einmal gar nichts. Es dauert und dauert. Am Ende ist er auferstanden, aber es ist gut, dass die Bibel weder in den Psalmen, noch in der Geschichte Jesu verschweigt, wie Menschen darum kämpfen müssen, dass die großen Wahrheiten auch in ihrem Leben wahr werden. Im Lauf des Lebens wird man geübter darin, aber manchmal bekommen wir auch immer schwierigere Aufgaben.
Auch Jesus musste bis zuletzt lernen und darum kämpfen, die großen Wahrheiten über Gott zu seiner eigenen Wahrheit zu machen. Am Ende ist es ihm gelungen. Und das ist die entscheidende Ermutigung für uns: es soll auch uns gelingen.