Freude, die von innen kommt
Predigt am 26. März 2006 zu Philipper 1,12-21
12 Ich lasse euch aber wissen, liebe Brüder: Wie es um mich steht, das ist nur mehr zur Förderung des Evangeliums geraten. 13 Denn dass ich meine Fesseln für Christus trage, das ist im ganzen Prätorium und bei allen andern offenbar geworden, 14 und die meisten Brüder in dem Herrn haben durch meine Gefangenschaft Zuversicht gewonnen und sind um so kühner geworden, das Wort zu reden ohne Scheu.
15 Einige zwar predigen Christus aus Neid und Streitsucht, einige aber auch in guter Absicht: 16 diese aus Liebe, denn sie wissen, dass ich zur Verteidigung des Evangeliums hier liege; 17 jene aber verkündigen Christus aus Eigennutz und nicht lauter, denn sie möchten mir Trübsal bereiten in meiner Gefangenschaft. 18 Was tut’s aber? Wenn nur Christus verkündigt wird auf jede Weise, es geschehe zum Vorwand oder in Wahrheit, so freue ich mich darüber.
Aber ich werde mich auch weiterhin freuen; 19 denn ich weiß, dass mir dies zum Heil ausgehen wird durch euer Gebet und durch den Beistand des Geistes Jesu Christi, 20 wie ich sehnlich warte und hoffe, dass ich in keinem Stück zuschanden werde, sondern dass frei und offen, wie allezeit so auch jetzt, Christus verherrlicht werde an meinem Leibe, es sei durch Leben oder durch Tod. 21 Denn Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn.
Dies ist ein Brief aus dem Gefängnis. Und es ist gleichzeitig der Brief, in dem Paulus das Wort „Freude“ häufiger benutzt als in allen anderen Briefen. Das ist kein Widerspruch. Freude hat viel mehr zu tun mit den Zuständen im Inneren eines Menschen als mit seiner äußeren Lage. Ob du dich freust, das hat zuerst damit zu tun, wie du die Welt siehst, ob du einen Hang zum Unglücklich-Sein hast oder ob du leichten Zugang zur Freude hast. Und Paulus hat einen guten Zugang zur Freude. Er hat schon immer in einer herzlichen Beziehung mit Jesus gelebt, und die ist im Gefängnis anscheinend noch fester und lebendiger geworden. Paulus hat mal geschrieben, dass er mit Jesus auch im Leiden Gemeinschaft hat, weil Jesus ja auch gefangen war und getötet wurde. Und anscheinend ist diese Gemeinschaft in solchen Umständen besonders stark.
Als wir im Februar hier den Bonhoeffer-Gottesdienst hatten, da haben wir einen Text von ihm gehört, wo es heißt: „Das erste was die Schrift über die Freude sagt, ist beschlossen in dem Liedanfang: ‚Jesu meine Freude‘. Das ist der Grundton der biblischen Überlieferung. … Gott will uns durch Jesus Christus froh machen.“ Und das funktioniert auch im Gefängnis, auch wenn einer nicht weiß, wie es mit ihm ausgehen wird.
Natürlich ist niemand von den äußeren Umständen unabhängig. Auch Paulus hat das bestimmt nicht toll gefunden, wenn er auf schmutzigem Stroh auf dem kalten Fußboden schlafen musste, und wenn er morgens mit wunden Handgelenken aufgewacht ist, weil die Ketten sich in die Haut eingeschnitten haben. Das ist für niemanden schön oder auch nur romantisch. Aber ob man davon sein Denken bestimmen lässt, ob das die Weltsicht prägt, das ist die Frage. Können uns böse Erfahrungen so überfluten und beherrschen, dass wir daneben nichts anderes mehr sehen?
Ich will ja nicht behaupten, dass jeder selbst schuld ist, wenn er unglücklich ist. Ein ganz großer Teil unserer Denkmuster stammt nicht von uns selbst, sondern wir bekommen sie von unseren Eltern und der Kultur, in der wir leben. Und man kann nicht einfach mal beschließen: „diese Gedanken tausche ich jetzt aus“. Die stecken ja wirklich in uns drin, und man kann sich nicht einfach so davon verabschieden – schon deswegen, weil sie uns so vertraut sind, dass wir sie für völlig selbstverständlich halten. Wenn einer sein Leben lang bei jedem Wehwehchen gejammert und geklagt hat, damit Mama (oder irgendwer anders) kommt und sagt: ach du armes Kind, wie schlimm bist du wieder dran! – dann wird ihm das völlig normal vorkommen. Und er muss erst ganz andere Erfahrungen machen, bis er vielleicht merkt: ach, das geht ja auch anders Das ist nicht die einzige Möglichkeit, mit Frustration umzugehen. Ich habe das jetzt ein bisschen karikiert – in Wirklichkeit sind das manchmal ganz schlimme und massive Blockaden in unseren Köpfen, die kriegt man nicht mit einem Fingerschnipsen weg. Wer in so was drinsteckt, der hat es manchmal ganz schwer, da herauszukommen, weil das sich da einfach bestimmte Automatismen im Kopf ganz tief eingebrannt haben. Nicht, dass jemand nur mit Mühe oder Stück für Stück da herauskommt, darf man ihm vorwerfen. Nur wenn jemand gar nicht erst anfängt und sich in seiner Gefängniszelle im Kopf gemütlich einrichtet, oft mit Hilfe anderer, dann kann man nur noch sagen: dann sieh zu, wie du mit den Folgen hinkommst!
Und es gibt natürlich auch große Gemeinheiten und schlimmes Unrecht, und die sind nicht irgendwie damit entschuldigt, dass einer die ja mit Jesus besser ertragen könnte.
Also, es geht nicht darum, zu behaupten, dass jeder an seinem Unglück selber schuld ist. Aber wir sollten wissen, dass es nicht in erster Linie die äußeren Verhältnisse selbst sind, die uns glücklich oder unglücklich machen, sondern es ist unsere Reaktion auf diese Umstände. Wie wir das aufnehmen, wie wir darüber denken. Und wir haben nicht nur eine Möglichkeit zur Reaktion, sondern es gibt immer mehrere. Es gibt immer Wahlmöglichkeiten. Wer sagt: ich konnte nicht anders, ich musste in dieser Situation das und das tun, der täuscht sich.
Man kann an Paulus sehen: wie wir schlechte Zeiten und unangenehme Erfahrungen wegstecken, das hat viel mehr mit unserem Lebenskonzept zu tun als mit der äußeren Wirklichkeit. Wie oft erzählen Leute, die in armen Ländern gewesen sind, hinterher: „Die Armut da kann man sich überhaupt nicht vorstellen, aber noch viel erstaunlicher ist, wie fröhlich und freundlich die Menschen dort trotzdem immer noch sind.“ Im Vergleich dazu geht es uns hier viel besser, und trotzdem laufen so viele Menschen mit mürrischem Gesicht durch die Gegend und sind schon bei kleinen Problemen unzufrieden oder empört.
Vielleicht gibt es ja Gründe für diesen Unterschied, aber sie liegen nicht in den äußeren Verhältnissen, sondern zuerst in den Gedanken, in den Weichenstellungen, die wir in unserem Kopf vornehmen.
Paulus hat für sich die Grundentscheidung getroffen, dass er alles in seinem Leben mit Christus zusammenbringt. Aber es ist nicht bei einer Grundentscheidung geblieben, sondern er hat das eingeübt und praktiziert, Tag für Tag, in einem langen Apostelleben, in dem er mehr als einmal die Gefängnisse von innen kennengelernt hat. Aber ob es solche schwerwiegenden Erfahrungen waren oder eher normale Tage: er hat alles in Beziehung gesetzt zu Jesus und seinem Auftrag, und das ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen, und deshalb funktioniert es jetzt auch in solchen Belastungssituationen. Unsere Entschlüsse und Entscheidungen haben nur dann Bestand und Kraft, wenn sie Tag für Tag ins Leben umgesetzt werden und sich mit unserer Person verbinden. Dann funktioniert so eine Prägung auch noch unter dem Druck einer Gefängnissituation. Und obwohl Paulus eingesperrt ist, in Gedanken spannt er seine Verantwortung trotzdem immer noch weit aus, hin zu all seinen Gemeinden, wie er es ein Leben lang gewohnt gewesen ist. Er lässt sich nicht auf diese Zelle begrenzen. Er fühlt sich nicht als Opfer der Umstände, sondern er nutzt jede Chance, um zu gestalten. Er betet, er spricht mir Freunden – das geht zum Glück. Und er schreibt Briefe an die, zu denen er nicht hinkommt.
Es gibt ja diesen Spruch, dass man lernen soll, sich über die kleinen Dinge zu freuen. Wenn man das auf Paulus übertrüge, dann würde das vielleicht bedeuten, dass er in seiner Zelle ein paar Blumen pflanzt und sich über jede neue Blüte freut. Vielleicht funktioniert das ja manchmal, aber bei Paulus war es anders. Er hat sich nicht an den kleinen Dingen gefreut, sondern an den großen. Er hat sich seinen Horizont nicht auf seinen kleinen Lebensbereich einengen lassen, auf die Frage, was es zu Essen gibt und wie sein Befinden ist. Und das hat ihn stark gemacht. Dazu braucht man Disziplin, und man darf dem Selbstmitleid keine Chance geben.
Natürlich wird Paulus auf diese Weise auch verletzlich. Gerade weil er so stark verbunden ist mit der Verbreitung des Evangeliums, deshalb treffen ihn dann auch Rückschläge und Gefahren so sehr. Er hat immer Feinde gehabt, auch unter den Christen. Er war vielen zu radikal, er hat immer für Unruhe gesorgt. Und jetzt, wo er im Gefängnis sitzt, da sind sie froh, dass er aus dem Verkehr gezogen ist und es scheint Leute gegeben zu haben, für die das eine willkommene Gelegenheit war, den paulinischen Einfluss zurückzudrängen und ihre eigene Fraktion der Christenheit zu stärken. Die schmerzhaftesten Verletzungen stammen immer aus den eigenen Reihen.
Paulus deutet das nur an, deshalb ist es für uns manchmal schwer zu verstehen, aber er konnte in so einem Brief, von dem man nicht wusste, wem er in die Hände fallen würde, nicht klarer schreiben.
Andererseits sorgt die Gefangenschaft des Paulus auch dafür, dass das Evangeluim gestärkt wird. Er scheint mit den Regierungsangestellten und den Soldaten ins Gespräch gekommen zu sein, und sie haben gemerkt: Moment, das ist nicht einer der üblichen Unruhestifter, dem Mann scheint es um etwas anderes zu gehen – was ist das, dass der sich dafür sogar einsperren lässt, und warum trägt er dieses Schicksal mit Würde und Freude? Erzähl doch mal, warum bist du eigentlich hier, fragen sie.
Und all das verfehlt auch nicht seine Wirkung auf die örtlichen Christen. Die scheinen jetzt durch Paulus begriffen zu haben, dass Glaube nicht ein nettes Hobby unter anderen ist, sondern dass es da um ernste, wichtige, lebensentscheidende Dinge geht. Und sie werden durch ihn an die Kraft Gottes erinnert, die auch in ihnen steckt, und sie trauen sich, in dieser Kraft das Evangelium weiterzugeben. Durch Paulus merken sie wieder, dass sie zur wichtigsten Bewegung der Welt gehören, sie sind die Leute, auf die es ankommt, sie – und wir – haben die entscheidende Aufgabe zu erfüllen. Kennen wir das nicht auch, dass die Menschen dann aufmerksam werden, wenn es um echte Weltveränderung und Lebensveränderung geht und nicht bloß um ein paar religiöse Schnörkel am Leben?
Da, wo der Glaube an Jesus bei seiner Sache ist, da hören die Menschen hin. Es geht darum, dass die Größe und Herrlichkeit von Jesus Christus sichtbar wird an Paulus und an anderen. Paulus schreibt wörtlich: an meinem Leibe soll das sichtbar werden. Leib, Materie, darum geht es. Dass die materielle Welt Gottes Art und seine Größe widerspiegelt. Alle geistlichen Mächte und Einflüsse wollen sich in der materiellen Welt verwirklichen. Es ist verrückt: in der christlichen Tradition haben wir viel zu oft den Glauben vergeistigt, verinnerlicht, und die äußere Welt geringgeschätzt. Aber Gott geht es gerade darum, sich in dieser Welt zu verwirklichen – den bösen Geistern übrigens auch.
Mitten zwischen diesen ganzen Chancen und Gefahren steht Paulus, und er sieht, wie Gott alles so fügt, dass es der Ausbreitung des Evangeliums dient. Auch die Aktivitäten seiner Feinde tragen letztlich dazu bei, dem Evangelium Bahn zu brechen, denn sie geben es ja weiter trotz ihrer schlechten Motive. Gott kann auch das gebrauchen, was aus schlechten Motiven heraus gemacht wird. Und wenn Menschen erstmal mit dem Evangelium infiziert sind, dann kann man das nicht mehr unter Kontrolle halten, es entwickelt eine Eigendynamik, die auch der nicht kontrollieren kann, der es verkündigt hat.
Paulus hat dort im Gefängnis eine Zeit ganz besonderer Vertrautheit mit Gott, wie man sie in ungefährlichen Tagen vielleicht gar nicht so entwickelt. Und er sieht für sein Schicksal und für das Evangelium, dass Gott die Dinge in der Hand hält und durch alle menschlichen Irrtümer und Bosheiten hindurch seine Sache voranbringt. Das ist kein Grund, unsorgfältig zu werden – Gott arbeitet lieber mit unserer Klugheit als mit unserer Verwirrung zusammen, er schätzt unseren guten Willen mehr als unsere Bosheit. Aber es ist gut zu wissen, dass er auch von menschlicher Konfusion nicht aus dem Konzept gebracht wird.
Mag sein, dass Paulus sterben muss, mag sein, dass er noch gebraucht wird: er wird mit Jesus leben, und er wird mit Jesus sterben. Hauptsache, sein Weg wird von Jesus gestaltet. Hauptsache, diese Gemeinschaft besteht. Hauptsache, von Jesus her kommt die Freude in sein Leben, die ihm keiner rauben kann.
Das ist die Haltung, mit der wir gerüstet sind für die guten und für die bösen Tage, für alles, was uns vielleicht noch begegnen wird. Das ist die Haltung, die wir einüben müssen, so dass sie uns in Fleisch und Blut übergeht. Wir wissen nicht, wieviel Zeit uns dafür noch gegeben ist und wann die Probe kommt. Also lasst uns daran gehen, uns zu üben – das ist die wichtigste Sache der Welt.