Vom Garten zur Stadt
Predigt am 16. Oktober 2016 zu Offenbarung 22,1-5 (Predigtreihe Offenbarung 38)
1 Der Engel zeigte mir auch einen Strom, der wie Kristall glänzte; es war der Strom mit dem Wasser des Lebens. Er entspringt bei dem Thron Gottes und des Lammes 2 und fließt die breite Straße entlang, ´die mitten durch die Stadt führt`. An beiden Ufern des Stroms wächst der Baum des Lebens. Zwölfmal ´im Jahr` trägt er Früchte, sodass er jeden Monat abgeerntet werden kann, und seine Blätter bringen den Völkern Heilung. 3 In dieser Stadt wird es nichts mehr geben, was unter dem Fluch ´Gottes` steht. Der Thron Gottes und des Lammes wird in der Stadt sein, und alle ihre Bewohner werden Gott dienen und ihn anbeten. 4 Sie werden sein Angesicht sehen und werden seinen Namen auf ihrer Stirn tragen. 5 Es wird auch keine Nacht mehr geben, sodass man keine Beleuchtung mehr braucht. Nicht einmal das Sonnenlicht wird mehr nötig sein; denn Gott selbst, der Herr, wird ihr Licht sein. Und ´zusammen mit ihm` werden sie für immer und ewig regieren.
Wir sind heute im letzten Kapitel der ganzen Bibel angekommen. Die Bibel beginnt mit der Erschaffung der Welt und mit dem Paradies; sie endet mit der neuen Schöpfung und der Goldenen Stadt. Die Geschichte Gottes mit den Menschen beginnt in einem wunderschönen Garten, aber ihr Ziel ist eine wunderschöne Stadt. Es ist also nicht so, dass wir – wenn es gut geht – am Ende wieder das Paradies haben, sondern Gottes Plan ist etwas noch viel Großartigeres: eine Verbindung von Schöpfung und Kultur. Mitten durch die Stadt fließt der Strom mit dem Wasser des Lebens, der direkt vom Thron Gottes kommt. Und während es im Paradies nur einen einzigen Baum des Lebens gab, wird jetzt der ganze Fluss gesäumt von Bäumen des Lebens. Und so großartig Sonne und Mond in der ersten Schöpfung waren, jetzt stellt es sich heraus, dass sie nur Hinweise waren auf die viel größere Herrlichkeit Gottes. Jetzt, wo Gottes Glanz die Stadt erfüllt, werden Sonne und Mond nicht mehr gebraucht.
Mehr als das Paradies
Die ganze erste Schöpfung in all ihrer Herrlichkeit – jetzt stellt sich heraus, dass sogar sie nur ein Vorläufer und Platzhalter für etwas war, das noch viel wunderbarer ist, für etwas, wofür es in der Welt, die wir kennen, nur unzureichende Vergleiche gibt. Jetzt, wo Himmel und Erde nicht mehr getrennt sind, sondern zusammenfinden, wenn der Himmel nicht mehr die verborgene Seite der Welt ist, sondern zugänglich, jetzt zeigt sich, was Gott schon immer wollte, als er die Welt schuf: Geschöpfe, die mit ihm leben und sein Leben teilen – beinahe auf Augenhöhe, nur wenig geringer als Gott (Psalm 8,6).
Auch wenn die Menschen sich nicht von Gott abgewandt hätten, dann wäre das Paradies trotzdem nicht die Endstation gewesen. Wir wissen nicht, wie es gelaufen wäre, aber Gott hätte Adam und Eva nicht auf Dauer als Naturmenschen in einem Garten gelassen. Das Paradies war nie das endgültige Ziel dieser Welt, und die Hochzeit von Himmel und Erde ist nicht der Plan B, zu dem Gott erst gegriffen hat, als sein erster Plan durch die Menschen zu scheitern drohte.
Kein Zurück zum Ursprung
Das ändert sehr viel an unserer Art, über die Welt nachzudenken. Menschen, egal ob christlich oder weniger christlich, stellen sich oft vor, dass es am Anfang der Welt so etwas wie ein goldenes Zeitalter gegeben hat, und danach ist alles schlechter geworden. »Zurück zur Natur!« war eine bekannte Parole aus der frühen Neuzeit. Das schwingt immer noch mit, wenn wir davon sprechen, dass etwas »natürlich« ist: z.B. natürliche Ernährung, Naturmedizin oder natürliche Gartengestaltung. Wir können ein bestimmtes Verhalten natürlich nennen und genauso Baumaterialien. Damit meinen wir, dass etwas nicht von Menschenhand verändert worden ist, sondern noch so, wie es ursprünglich mal war: bevor Menschen daran rumgebastelt haben. In der Regel ist das eine Illusion – es gibt heute eigentlich nichts rein Natürliches mehr, das von menschlicher Kultur unberührt wäre.
Vor allem aber ist es ein Missverständnis, sich am Ursprung zu orientieren, am Anfang, am Paradies, und glauben, wir müssten eigentlich dorthin zurück, in die Zeit, als alles noch so natürlich war, selbstverständlich, ursprünglich. Aber das war nie Gottes Ziel mit der Welt. Gott hat die Verbindung von Himmel und Erde im Sinn, etwas, was es noch nie gab, das neue Jerusalem, die Goldene Stadt, in der bisher noch keiner war. Die eigentliche »Natur« der Welt wird sich erst noch enthüllen. Und wir müssen gut überlegen, was aus dem Paradies für uns ein Leitbild sein kann und was nicht. Ein Beispiel: Ja, es ist richtig, dass wir in Frieden mit den anderen Geschöpfen leben sollen, z.B. den Tieren. Aber das heißt nicht, dass wir im Dschungel leben müssten, oder nur in Hütten aus Ästen und Blättern wie die »Naturvölker«.
Das Beeindruckende an der Goldenen Stadt ist gerade, dass hier Kultur und Natur integriert sind: mitten in der Stadt, entlang der Hauptstraße, wachsen die Bäume des Lebens am Strom des Lebens. Natur und Kultur sind in Wahrheit keine Gegensätze. Die Beschreibung der Goldenen Stadt ist auch eine Gegengeschichte zum Turm zu Babel, von dem wir vorhin in der Lesung (1. Mose 11,1-9) gehört haben. Unsere Städte gleichen eher dem Turm, sie verdrängen die Natur und vergiften die Welt, aber das muss nicht so sein. Babylon ist durch die ganze Bibel hindurch, bis zur Offenbarung, das Gegenbild einer Gesellschaft, wie Gott sie will. Aber das heißt nicht, dass Städte überhaupt eine Fehlentwicklung sind.
Gutes ohne Gott?
Am Turm von Babel sieht man deutlich, was passiert, wenn Menschen Gottes Ziele auf eigene Faust und auf ihre Art ansteuern: der Turm zu Babel ist erbaut auf dem Fundament der Angst und des Misstrauens gegen Gott. »Wir wollen uns selbst einen Namen machen, damit wir nicht auf der Erde verloren gehen« – das war das Motiv der Erbauer. Im neuen Jerusalem tragen die Menschen den Namen Gottes auf ihrer Stirn. Sie wissen, wo sie hingehören. Sie müssen sich nicht selbst mit Mühe und Arbeit eine unwirtliche Heimat schaffen.
Das ist immer das Grundmuster der Sünde: dass man etwas Gutes, was Gott für uns wirklich vorgesehen hat, ohne Gott erreichen will: nicht zu Gottes Zeitpunkt und nicht auf Gottes Wegen. Das Grundmuster ist der Griff nach den verbotenen Früchten vom Baum der Erkenntnis. Die Menschen sollten die wirklich haben, aber erst, wenn es soweit ist. Und genauso ist es mit Reichtum, Macht, Liebe, Wissen, Kultur – all das sollen wir wirklich bekommen, aber es wird alles schief, wenn wir versuchen, es ohne Gott auf den falschen Wegen zu bekommen. Dann gerät alles durcheinander, dann werden Gegensätze unüberbrückbar.
Vom Ziel her denken
Wenn wir heute überlegen, was uns Orientierung geben kann, dann müssen wir nicht so sehr zurückschauen ins Paradies, sondern nach vorn zum neuen Jerusalem. Und dann werden wir dort viele Züge des Paradieses entdecken, aber neu, in verwandelter, erweiterter Form. Ein Beispiel: Arbeit gab es schon im Paradies, Adam und Eva sollten den Garten bebauen und bewahren. Arbeit ist nichts Schlechtes. Und so ist auch die Goldene Stadt kein Museum, wo die Menschen den ganzen Tag die Edelsteine an den Toren und Mauern bestaunen. Die Stadt ist eine lebendige Gemeinschaft, die in ihre ganze Umgebung ausstrahlt.
Versöhnung von Zentrum und Peripherie
Es gibt einen lebhaften Austausch: von der Stadt aus fließt der Strom des Lebens und bewässert die Welt. Die Blätter vom Baum des Lebens sind zur Heilung der Völker bestimmt, und Heilung ist hier sicher in umfassendem Sinn gedacht, körperlich und seelisch. Heilung für die ganze Welt geht von der Goldenen Stadt aus. Es gibt also nicht nur die Stadt, sondern auch das Umland. Und die Könige der Erde bringen ihre Schätze in die Stadt. Es gibt keinen Kampf um die Ressourcen mehr, es wird nicht mehr Beute gemacht, sondern man tauscht sich aus mit Schenken und Geben.
In der ganzen Bibel, und erst recht in der Offenbarung waren die fremden Nationen immer eine Bedrohung. Sie versuchten Israel zu zerstören, sie bedrohten die Christen. Aber jetzt hat sich das geändert. Jetzt haben die Völker verstanden, dass Gott von Jerusalem aus die Welt beschenken will. Jetzt wird es wahr, dass die Völker zum Zion kommen, Geschenke bringen und sich dort Weisung holen.
Das transformierte Paradies
Aus dem Paradies geblieben ist der Frieden unter allen Geschöpfen. Geblieben ist auch der Segen, der nun wieder für alle sichtbar die Welt durchströmt, in Gestalt des Stromes, der vom Wasser des Lebens gespeist wird. Geblieben ist die Freude, die Vielfalt der Schöpfung und ihre Schönheit, die Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen. Aber das Ganze ist jetzt nicht mehr beschränkt auf zwei Menschen, sondern jetzt gibt es eine zahlreiche Menschheit. Und jetzt wird das Potential dieser Menschheit voll ausgeschöpft. Ihr Erfindungsgeist und ihre Kreativität, ihre Großzügigkeit und ihr Fleiß, ihre Freude und ihre Begeisterung für Gott – das wird jetzt nicht mehr im Dienst von Krieg und Gewalt eingezwängt und entstellt, sondern es kann sich jetzt im Frieden alles voll entfalten. Die falschen Alternativen sind weg: Natur und Kultur, Technik und Kunst, Stadt und Land, wir und die anderen, Menschenliebe und Gottesliebe, all das sind jetzt keine Gegensätze mehr, sondern es passt zusammen, es ist alles versöhnt, was durch menschliches Misstrauen zu einem misstrauischen Gegeneinander wurde.
Daran sollen wir uns orientieren. Wir sollen vom Ende her denken, vom Ziel der Schöpfung her. Wir sollen von den versöhnten Gegensätzen her denken und dann auch von da her handeln. In der Gemeinde soll jetzt schon etwas präsent sein von der neuen Schöpfung. Sie hat ja in Jesus schon begonnen. Aber so, wie aus Adam und Eva eine große Menschheit werden sollte, so ist auch Jesus nur der Anfang einer erlösten neuen Menschheit. Aus ihm soll ein großes Volk werden, und das soll jetzt schon der Ort sein, wo der Himmel immer wieder mal die Erde berührt.
Vorzeichen der kommenden Herrlichkeit
Und deswegen hat sich im Volk Gottes schon immer etwas gezeigt von der neuen Schöpfung. Wenn Juden und Christen gut waren, dann waren sie immer eine Bildungsbewegung, wo man gelernt hat, miteinander nachgedacht und diskutiert hat. Im Gespräch mit den biblischen Geschichten haben Menschen ihre eigene Geschichte entdeckt. Die Vernunft blüht auf, wo Menschen im Vertrauen auf Gott leben. Kunst und Schönheit haben da ihren Ort. Man muss nur an die Klöster des frühen Mittelalters denken, die so etwas wie Entwicklungshilfe-Stationen für ein geschundenes Europa waren. Christen haben Kranke gepflegt und medizinisches Wissen gesammelt. Ein großes Beziehungsnetz entsteht, wo man sich austauscht, ohne ständig nachzurechnen, ob man genug zurückbekommt. Und wenn es gut ging, dann ist vom Volk Gottes Heilung ausgegangen, Segen und Freude. Und manchmal haben die anderen das auch bemerkt und haben es dankbar angenommen, haben das Volk Gottes gesegnet und beschenkt. Ja, immer wieder ist auch das passiert.
Die Offenbarung bringt uns da mehr voran als der Blick zurück ins Paradies. Ja, auch den brauchen wir, du musst wissen, wo du herkommst und was deine Wurzeln sind, du musst wissen, was in deiner DNA steht. Aber noch wichtiger finde ich diesen Blick nach vorne, der uns mit Hoffnung und Zuversicht erfüllt. Es ist nicht dieser immer etwas depressive Blick zurück, zum verlorenen Paradies, sondern wir schauen aus nach der neuen Welt, in der noch keiner war, die Gott aber heraufführen wird. Und diese neue Welt sprengt alle Selbstverständlichkeiten, die bisher galten. Es ist unvorstellbar, was da noch auf uns wartet. Und diese Haltung hilft uns, Augen dafür zu bekommen, wie jetzt schon etwas von der neuen Welt unter uns aufblühen kann. Auch wenn es für viele unvorstellbar ist.