Wenn die Siegel gebrochen werden
Predigt am 5. April 2021 (Ostern II) zu Offenbarung 5,1-10
1 Jetzt sah ich, dass der, der auf dem Thron saß, in seiner rechten Hand eine Buchrolle hielt. Sie war innen und außen beschrieben und war mit sieben Siegeln versiegelt. 2 Und ich sah einen mächtigen Engel, der mit lauter Stimme rief: »Wer ist würdig, das Buch zu öffnen? ´Wer hat das Recht,` seine Siegel aufzubrechen?« 3 Aber da war niemand, weder im Himmel noch auf der Erde, noch unter der Erde, der das Buch öffnen konnte, um zu sehen, was darin stand; 4 keiner war zu finden, der würdig gewesen wäre, die Buchrolle aufzumachen und etwas von ihrem Inhalt zu erfahren. Darüber weinte ich sehr.
5 Doch einer der Ältesten sagte zu mir: »Weine nicht! Einer hat den Sieg errungen – der Löwe aus dem Stamm Juda, der Spross, der aus dem Wurzelstock Davids hervorwuchs. ´Er ist würdig,` das Buch mit den sieben Siegeln zu öffnen.«
6 Nun sah ich in der Mitte, da, wo der Thron war, ein Lamm stehen, umgeben von den vier lebendigen Wesen und den Ältesten. Es sah aus wie ein Opfertier, das geschlachtet worden ist, und hatte sieben Hörner und sieben Augen. (Die sieben Augen sind die sieben Geister Gottes, die in die ganze Welt ausgesandt sind.) 7 Das Lamm trat vor den hin, der auf dem Thron saß, um das Buch in Empfang zu nehmen, das er in seiner rechten Hand hielt.
8 Als es das Buch entgegengenommen hatte, warfen sich die vier lebendigen Wesen und die vierundzwanzig Ältesten vor ihm nieder. Jeder von den Ältesten hatte eine Harfe; außerdem hatten sie goldene, mit Räucherwerk gefüllte Schalen. (Das Räucherwerk sind die Gebete derer, die zu Gottes heiligem Volk gehören.)
9 Nun sangen die vier lebendigen Wesen und die Ältesten ein neues Lied; es lautete: »Würdig bist du, das Buch entgegenzunehmen und seine Siegel zu öffnen! Denn du hast dich als Schlachtopfer töten lassen und hast mit deinem Blut Menschen aus allen Stämmen und Völkern für Gott freigekauft, Menschen aller Sprachen und Kulturen. 10 Du hast sie für unsern Gott zu Königen und Priestern gemacht; und sie werden auf der Erde herrschen.«
Fast die Hälfte der Offenbarung des Johannes spielt im Himmel. Der Himmel ist die geheime Seite der Welt. Vom Himmel aus sieht man sieht man klar, was auf der Erde passiert, auch wenn es für uns noch gar nicht gut erkennbar ist. Im Himmel entfaltet sich die wahre Geschichte der Welt. Aber eben für uns noch verborgen.
Im Himmel sieht man klarer
Zu Ostern konnten Menschen schon einen Blick auf diese verborgene Geschichte werfen: Jesus ist auferstanden. Das ändert alles. Ein paar Wochen lang kam der auferstandene Jesus zu den Jüngerinnen und Jüngern, und sie wurden Zeugen dafür, dass sich im Verborgenen schon der große Wandel ereignet hat: der Tod ist besiegt. Die neue Welt hat begonnen.
In der Johannesoffenbarung setzt sich dieser Blick ins Verborgene fort, aber jetzt weitet sich der Horizont enorm. Jetzt geht es darum, was die Auferstehung für die ganze Welt bedeutet. Und nicht nur die Gegenwart und die Zukunft sind davon betroffen, sondern auch die Vergangenheit. Wie wir es vorhin in der Lesung aus Jesaja 25 gehört haben: Gott wird alle Tränen abwischen.
Die Schmerzenslast der Menschheitsgeschichte
Das sind eben auch die Tränen aus der Vergangenheit. Die Geschichte der Menschheit trägt mit sich eine gewaltige Last von Schmerz und Tränen. Auch die Vergangenheit wartet auf ihre Erlösung. So viele Kriege, so viel Gewalt, so viele Völkermorde, so viele grausam zu Tode gequälte Menschen – Tode wie den schrecklichen Tod Jesu am Kreuz hat es so viele gegeben. Und dann all die anderen Male, wo Menschen bitterlich geweint haben um einen Verlust, um zerbrochene Träume und Hoffnungen, vor Hunger und Schmerzen.
Es ist mühsam, an all das zu denken. Normalerweise wissen wir von davon, wir haben ein bisschen davon wohl auch selbst erlebt, aber wir reden nicht viel darüber und denken nicht so gerne daran. Diese ganze Last an Schmerz und Tod, die die Menschheit begleitet, die wird in den allermeisten Fällen nicht thematisiert. Wenn Menschen aus einem Krieg zurückkommen, dann sagen sie oft: ich will da nicht mehr drüber sprechen, das versteht sowieso keiner. Ich hab da Dinge gesehen, darüber kann und will ich nicht reden. Sie wollen es ihren Familien ersparen und sie wollen es sich selbst ersparen. Und sie verschließen ihre Lippen wie mit einem Siegel.
Aber was weggesperrt ist, das ist ja immer noch da. Und es kostet Kraft, die Erinnerungen auf Dauer wegzuschließen. Das Verborgene meldet sich in plötzlich aufblitzenden Erinnerungen, in Gedankenfetzen und in manchen Seiten des Charakters, über die sich andere Menschen dann wundern.
Wer wird Erlösung bringen?
Das Buch mit den sieben Siegeln, von dem die Offenbarung spricht, das ist diese geheime, versiegelte Geschichte der Menschheit. Gemeint ist also nicht ein schwer verständlicher Teil der Bibel. Sondern es geht um die verborgene Tiefengeschichte der Welt. Die ist in dem Buch mit den sieben Siegeln aufgezeichnet und wartet darauf, dass sie erlöst wird. Im Himmel wissen sie davon, aber sie fragen sich: wer kann das vollbringen? Das Buch – in Wirklichkeit ist es ja eine Schriftrolle – das Buch also müsste geöffnet werden, damit es seinen Frieden findet.
Sie kennen das aus Geistergeschichten: da ist in einem alten Schloss etwas Schreckliches geschehen, ein Mord oder ein Selbstmord, und nun irrt die arme Seele nachts ruhelos durch das Gemäuer und weiß nicht, wie sie zur Ruhe kommen soll. Sie wartet darauf, dass jemand kommt und sie endlich erlöst.
Und so wartet auch die ganze Schreckensgeschichte der Menschheit auf die Erlösung. Im Himmel wissen sie das und warten mit und fragen sich: wer hat die Kraft, sich an diese Aufgabe zu wagen? Wer ist würdig, wer hat das Format, diese Last auf sich zu nehmen? Wer schafft es, daran nicht zu zerbrechen oder zu verbittern?
Deshalb heißt es vom Seher Johannes: er weinte, weil es niemanden gab, der die sieben Siegel an diesem Buch öffnen konnte. Es ist einfach zu schlimm. Es ist ein schrecklicher, trauriger Moment, wo die Möglichkeit sichtbar wird, dass all diese Siegel nie geöffnet werden könnten. Aber dann kommt das Lamm und öffnet die Siegel, eins nach dem anderen. Und als moderner Mensch kann ich mich jetzt natürlich darüber aufregen, wie denn ein Lamm mit seinen Hufen die Siegel an einem Buch aufmachen kann. Aber das ist ein Bild, und wir müssen wieder lernen, Bilder zu lesen. Es ist ein Bild für Jesus, der sich als Einziger an die Gewalt- und Leidgeschichte der Menschheit herantraut.
Jetzt brechen die Siegel
Er hat sich am Kreuz selbst in diese Gewalt- und Todesgeschichte hineingestellt, hat sie auf sich genommen und getragen. Und deshalb kann das jetzt geheilt werden. Jesus hat ja selbst nichts zu dieser Schreckensgeschichte beigetragen, er war gewaltlos, er hat nicht zu denen gehört, die Leid ummünzen in Erbitterung, Empörung und neue Gewalt, und deshalb kann er dieses verschlossene Buch der Rätsel und Abgründe öffnen. Und dann bringt er das mit Gottes Verheißung für seine Welt zusammen. Er bringt die Auferstehungskraft Gottes auch in die Vergangenheit der Menschheit hinein. Er öffnet die Siegel, damit das Verschlossene endlich geheilt wird.
Jesus schreibt auch die Vergangenheit um. Auch die soll neu werden. Und das hat begonnen. Seit der Auferstehung Jesu werden in seinem Namen solche Siegel geöffnet. Menschen bekommen Mut, sich ihrer Vergangenheit zu stellen, ihre Schweigegelübde zu widerrufen und alles ins Licht des Auferstehungslebens zu stellen. Gott hat schon begonnen, das Vergangene zu erlösen und alle Tränen abzuwischen.
Denn vom Himmel her infiltriert Jesus die Erde. Er regiert sie durch seine Leute, die sich, von ihm inspiriert, herantrauen an die Dunkelheiten und Abgründe, mindestens ein Stück weit: an Siegel, mit denen die Lebenden sich plagen und an die Siegel, unter denen die Toten begraben liegen. Wenn die Siegel gebrochen und Menschen lebendig werden, wenn das alte Unrecht und die alten Schmerzen sich wieder melden, aber auch geheilt werden, dann wird auch die gelähmte Lebenskraft wieder frei wird. Bei Einzelnen wie bei ganzen Völkern.
Das Lamm mit dem Löwenherzen
Jesus, das Lamm, heißt beim Seher Johannes auch »der Löwe«, der Löwe von Juda. Und Löwen sind nicht zahm. Christen sind berufen, nicht nur sanfte Lämmer zu sein, sondern auch ihre Löwenseite zu entwickeln. Das ist heute ziemlich in Vergessenheit geraten. Christen sind dahin gesandt, wo andere lieber nicht hingehen und auch nicht gern dran denken. Aber in der Nachfolge Jesu können wir uns der dunklen Vergangenheit der Menschheit stellen, damit sie zu heilen beginnt.
Dafür wird Jesus gelobt: dass er eine neue Menschheit auf die Schienen gesetzt hat. Dass er den Anfang gemacht hat für eine neue Art, diese Welt zu regieren. Der himmlische Chor preist ihn nicht nur dafür, dass er vollbracht hat, was sonst keiner konnte. Er preist Jesus auch dafür, dass er Menschen aus allen Völkern und Kulturen mit der Auferstehungskraft ausrüstet, damit sie sein Werk auf der Erde fortsetzen. Königliche Menschen, priesterliche Menschen, die Heilung bringen und der Welt eine neue Richtung geben.
Solche Menschen sind Jesu Ruhm und Ehre. Und wenn du auch dabei bist, dann singen die himmlischen Chöre gleich noch etwas begeisterter.