Weihnachten hat klein angefangen
Predigt am 24. Dezember 2010 (Christnacht) mit Micha 5,1-4
Ich möchte heute Abend mit Euch zusammen ein Bild anschauen. Es stammt ursprünglich aus der englischen Kirche; in England haben sie einige Erfahrung damit, das Evangelium mit Pep und Selbstbewusstsein in die Öffentlichkeit zu tragen.
So ziemlich alle, die in den letzten ungefähr 30 oder 40 Jahren Kinder bekommen haben, haben irgendwann so ein Bild gesehen: die Ultraschallaufnahme ihres Kindes, wie es noch im Mutterleib verborgen ist. Und viele Großeltern haben auch so ein Bild ihres künftigen Großkindes gesehen. Kaum einer bleibt unberührt davon, wie klein so ein Kind ganz am Anfang ist, und trotzdem ist schon fast alles da. Und man denkt daran, dass man auch einmal so klein angefangen hat. So schutzlos und angewiesen darauf, dass andere einem Raum in ihrem Leben geben. Und trotzdem geht das Leben immer weiter.
Und als Gott in die Welt kommt, da ist er am Anfang auch so klein und schutzlos. Die Geschichte vom neugeborenen Kind in der Krippe hat das schon immer gesagt; dieses Ultraschallbild macht das noch viel deutlicher: Gott nimmt die Schutzlosigkeit auf sich, weil das eben der einzige Weg ist, wie er Mensch werden und in unsere Welt hineinkommen kann. Wir versuchen, so schnell wie möglich aus der Schutzlosigkeit herauszukommen und nicht mehr so verletzlich zu sein. Gott wählt freiwillig diesen Weg. Und Jesus wird nach den Maßstäben, nach denen wir normalerweise denken, sein ganzes Leben lang schutzlos bleiben. Am Ende seines Lebens hängt er dann auch wieder schutzlos und nackt am Kreuz. Aber schon am Anfang dieses Weges singen die Engel »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden!«.
Wenn Lukas das erzählt, dann möchte er uns an eine Stelle aus dem Propheten Micha (Kap. 5) erinnern, wo es heißt:
5 1 Aber du, Betlehem-Efrata, / so klein unter den Gauen Judas, aus dir wird mir einer hervorgehen, / der über Israel herrschen soll. Sein Ursprung liegt in ferner Vorzeit, / in längst vergangenen Tagen.
Viele von uns kennen diese Worte wahrscheinlich, weil sie oft zu Weihnachten vorgelesen werden. Weniger bekannt sind die Worte, die zwei Verse später stehen:
3 Er (also der kommende König) wird auftreten und ihr Hirte sein / in der Kraft des Herrn, / im hohen Namen des Herrn, seines Gottes. Sie werden in Sicherheit leben; / denn nun reicht seine Macht / bis an die Grenzen der Erde.
Und anschließend heißt es noch:
4 Und er wird der Friede sein.
Wie in der Weihnachtsgeschichte sind schon hier bei Micha die Gegend von Bethlehem, die Größe und Macht Gottes und der Friede auf Erden zusammengebracht. Als der Prophet Micha das schrieb, war Israel schutzlos den Angriffen der Großmacht Assyrien ausgeliefert. In den Zeiten von Lukas gab es Assyrien nicht mehr, aber Israel war das Opfer einer anderen Macht geworden, es war vom römischen Imperium unterworfen; und Lukas hätte sicher nichts dagegen, wenn Menschen zu anderen Zeiten hier den Namen der Macht einsetzen, unter der sie leben müssen.
In der Weihnachtsgeschichte taucht auch der Name dessen auf, der damals an der Spitze des römischen Imperiums stand, der Kaiser Augustus. Nur ein einziges Mal hören wir von ihm im Neuen Testament, nämlich hier. Er war damals schon seit einem Vierteljahrhundert Kaiser; seine Macht reichte tatsächlich fast bis an die Enden der damals bekannten Welt. Er regierte von Gibraltar bis Jerusalem und von Britannien bis zur Sahara. Er hatte etwas erreicht, was seit zwei Jahrhunderten kein anderer geschafft hatte: er hatte der ganzen römischen Welt Frieden gebracht. Auch bei den Römern spielte das Wort »Frieden« eine große Rolle. Aber dieser Frieden hatte seinen Preis. Der Preis wurde bezahlt von den unterworfenen Völkern in Form von Abgaben; er wurde bezahlt von den Sklaven aus aller Herren Länder; er wurde schließlich auch bezahlt von all denen, die sich diesem Reich nicht unterwerfen wollten, und die dann grausam bestraft wurden.
Mit diesem Hintergrund ist die Weihnachtsgeschichte keine romantische Landidylle mehr, mit rustikalen Hirten und Schafen, Ochs und Esel und niedlichen Engelchen. Die Worte, die Lukas gebraucht, zeigen, dass er hier zwei unterschiedliche Herrscher gegeneinander stellt, zwei Arten von Macht, zwei unterschiedliche Vorstellungen, was Frieden und Ehre sind.
Da ist der alte Herrscher in Rom, bei der Geburt Jesu ist er ungefähr sechzig Jahre alt. Er repräsentiert das Beste, was irdische Macht erreichen kann. Er hat dem Chaos ein Ende gemacht. Er weiß, wie wichtig Frieden und Sicherheit sind. Leider musste er einen Haufen Menschen töten, um diesen Frieden zu erreichen, und zum Schutz des Friedens müssen er und erst recht seine Nachfolger immer wieder töten. Das Reich muss zusammengehalten werden, und sei es mit Folter und Kreuz. Es gibt keine Alternative.
Im Gegensatz dazu: der junge König in Bethlehem. Kaum ist er geboren, steht er schon auf den Steckbriefen von König Herodes, dem örtlichen Vertreter des Kaisers. Er repräsentiert die gefährliche Alternative, die Alternative Gottes. Er steht für eine andere Art von Reich, eine andere Art von Macht, eine andere Art von Ehre, eine andere Art von Frieden. Ein Reich, das wehrlos den Waffen der imperialen Macht ausgeliefert ist und trotzdem nicht vernichtet werden kann. Eine Macht, die aus Gottes Segenspotential schöpft und ohne Gottes verborgene Kraft nichts bewirken will. Eine Herrlichkeit, die in den dunklen Zonen der Welt leuchtet: bei den heimatlosen Hirten, in den armen Vierteln der Städte, bei denen, die sich selbst nur wenig Hoffnung machen können. Ein Frieden, der nicht abhängig ist von Herrschaftsverhältnissen und Waffen.
Über große Distanz begegnen sie sich. Der alte Kaiser in Rom braucht nur den Finger zu heben, und schon muss tausende Kilometer weiter östlich ein junges Paar auf eine gefährliche Reise gehen. So weit reicht seine Macht. Aber Gott spielt mit dieser Macht wie ein Judokämpfer, der die Kraft des Gegners umlenkt und ihr eine andere Richtung gibt. Welche Ironie – Augustus selbst sorgt dafür, dass Jesus tatsächlich in Bethlehem geboren wird, und die Engel singen Gloria und Frieden. Und wenn dieses Kind erwachsen ist, dann handelt er selbst in dieser anderen Art von Macht, die riskant ist, die einen Preis kostet, die verletzlich macht, aber die stärker ist und einen besseren Frieden schafft als die besten Reiche, die aus der Logik der Macht heraus handeln.
Und Sie haben wahrscheinlich schon längst gesehen, dass dieses ungeborene Baby einen Heiligenschein trägt. Er soll zeigen, dass schon dieser winzige Mensch ein Träger der anderen Art von Macht und Ehre und Frieden ist. Die hat ihren Ursprung bei Gott, sie ist nicht berechenbar, sie folgt ihren eigenen Gesetzen, wir können sie nicht managen, wir können uns ihr nur anvertrauen. Indem Jesus sich konsequent der imperialen Macht verweigert, schafft er einen Raum, in dem Gottes Macht zum Zuge kommt. Soll man das »geistliche Energie« nennen? Inspiration? Heiliger Geist? Auf jeden Fall bewegt das etwas in den Menschen, es verbindet sie in neuer Solidarität, und es macht sie zu Verbündeten Gottes. Es setzt Kräfte frei, die vorher keiner kannte. Die andere Art von Macht ist so gefährlich, dass das Imperium gar nicht anders kann, als Jesus zu töten.
Und so wird der Tag kommen, an dem er auf einem Esel nach Jerusalem reitet, die Händler aus dem Tempel vertreibt, ein neues Gottesvolk an seinem Tisch gründet und qualvoll an einem römischen Kreuz stirbt. Lukas möchte, dass wir wissen: so wird Gottes Herrlichkeit auf Erden sichtbar, das meinten die Engel, als sie vom Frieden auf Erden sangen. Es war hochriskant, ganz auf diese alternative Art von Macht zu setzen. Wenn die nicht funktioniert, dann hat Jesus aufs falsche Pferd gesetzt. Dann können wir uns das ganze Christentum sparen. Moral gibt es an jeder Ecke, und ein bisschen anrührende Gefühle auch. Aber Jesus hat sich dem neuen Weg, den er gebracht hat, anvertraut bis zum letzten Atemzug, und Gott enttäuscht ihn nicht, er weckt Jesus von den Toten auf, und so bestätigt er seine Herrlichkeit.
Seit damals gibt es die Alternative zur Macht der Gewehre und Konten. Und wir müssen uns entscheiden, welcher Macht wir gehören wollen. Wir müssen uns entscheiden, ob Jesu Weg unser Weg werden soll. Und dann müssen wir immer noch damit kämpfen, dass wir durch und durch in den Selbstverständlichkeiten der herrschaftlichen Macht drin stecken. Das prägt unser Denken, das liefert uns unsere Selbstverständlichkeiten, das prägt unsere Ängste und Hoffnungen. Niemand käme auf die Idee, in ein Foto von uns einen Heiligenschein hinein zu montieren, weil wir eben im Lauf vieler Jahre gelehrt wurden, nur die Macht für real zu halten, die aus den Gewehrläufen und von den Kontoständen kommt.
Aber die Alternative Gottes ist in der Welt. So winzig hat sie begonnen, schutzlos und doch geborgen in der Obhut von Menschen, die Gottes Ruf hörten und folgten. Maria, die als Erste Jesus Raum gab in ihrem Leben, Josef, der Jesus in seine Familie aufnahm, die Hirten, die Jesus willkommen hießen, die Weisen aus dem Osten, die nicht mit Herodes paktierten, sondern wahrscheinlich Jesu Flucht nach Ägypten finanzierten. Eine bunt gemischte Schar von Menschen, jeder Einzelne unbedeutend und machtlos, aber miteinander bewahren sie die Hoffnung der Welt. Und so wird aus dem winzigen Anfang eine große Bewegung von Menschen, die diese Hoffnung leben und weitergeben und durch die Zeiten tragen und nicht vergessen lassen, dass es die Alternative Gottes gibt, die Alternative zur Macht aus den Gewehrläufen.
Und nun sind wir gerufen, diese Hoffnung zu leben, die real existierende Alternative zu sein, gerade in diesen Zeiten, in denen die Zukunft so unsicher ist. Dafür auf Sicherheit zu verzichten und unerwartete Bundesgenossen zu finden. Daran zu glauben, dass aus einem winzigen Anfang die neue Welt entsteht, dass aus einem Senfkorn ein großer Baum wird. Zu lernen, wie wir selbst aus dieser Kraft leben können, aus Gottes verborgenem Segen, mit seinem Heiligen Geist, der die Welt bewegt. Es fängt immer klein an. Aber da ist der Heiligenschein, das Zeichen dafür, dass auf dem Unscheinbaren Gottes Verheißung liegt. Und auch unser Leben soll in diesem Licht gelebt werden.