Aufgewachsen mit Fluchterfahrung (Die Kindheit Jesu II)
Predigt am 5. Januar 2003 zu Matthäus 2,13-23
13 Nachdem die Sterndeuter wieder gegangen waren, erschien dem Josef im Traum der Engel des Herrn und sagte: »Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter und flieh nach Ägypten! Bleib dort, bis ich dir sage, dass du wieder zurückkommen kannst. Herodes wird nämlich das Kind suchen, weil er es umbringen will.« 14 Da stand Josef auf, mitten in der Nacht, nahm das Kind und seine Mutter und floh mit ihnen nach Ägypten. 15 Dort lebten sie bis zum Tod von Herodes.
So sollte in Erfüllung gehen, was der Herr durch den Propheten angekündigt hatte: »Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.«
16 Als Herodes merkte, dass die Sterndeuter ihn hintergangen hatten, wurde er sehr zornig. Er befahl, in Betlehem und Umgebung alle kleinen Jungen bis zu zwei Jahren zu töten. Das entsprach der Zeitspanne, die er aus den Angaben der Sterndeuter entnommen hatte.
17 Da ging in Erfüllung, was Gott durch den Propheten Jeremia angekündigt hatte: 18 »In Rama hört man Klagerufe und bitteres Weinen: Rahel weint um ihre Kinder und will sich nicht trösten lassen; denn sie sind nicht mehr da.«
19 Als Herodes gestorben war, erschien dem Josef in Ägypten der Engel des Herrn im Traum 20 und sagte: »Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter und kehre in das Land Israel zurück; denn alle, die das Kind umbringen wollten, sind gestorben.«
21 Da stand Josef auf, nahm das Kind und seine Mutter und kehrte nach Israel zurück. 22 Unterwegs erfuhr Josef, dass in Judäa Archelaus als Nachfolger seines Vaters Herodes König geworden war. Da bekam er Angst, dorthin zu ziehen. Im Traum erhielt er eine neue Weisung und zog daraufhin nach Galiläa. 23 Er kam in die Stadt Nazaret und ließ sich dort nieder.
So sollte in Erfüllung gehen, was Gott durch die Propheten angekündigt hatte: »Der versprochene Retter wird Nazoräer genannt werden.«
Dreimal hören in dieser Geschichte einen Hinweis auf die Schriften des Alten Testaments. Dreimal weist Matthäus darauf hin, wie das Schicksal des kleinen Jesus und die Geschichte des Gottesvolkes parallel laufen.
Da ist zuerst einmal Ägypten. Ägypten ist das Sinnbild für eine Gesellschaft, die von Sklaverei geprägt ist, das Haus der Knechtschaft. Aus Ägypten ist das Volk Israel geflohen. In Ägypten hat es schon einmal einen Kindermord gegeben, nämlich als der Pharao befahl, alle männlichen Säuglinge des Volkes Israel zu töten. Und so wie Mose auf wunderbare Weise überlebte, so überlebt auch Jesus. Und so wie Mose nach dem Tod des Pharao zurückkehren konnte. so kann auch Jesus nach dem Tod des Herodes wieder zurück. Soweit die Parallelen.
Aber nun gibt es eben einen großen Unterschied: Im verheißenen Land, im Land der Freiheit, sind jetzt ägyptische Zustände eingezogen. Im Volk Gottes herrscht ein Pharao namens Herodes. Und gerade im Haus der Sklaverei, in Ägypten, findet Jesus Schutz vor diesem israelischen Pharao. Es ist eine grausame Ironie, wie hier ausgerechnet Ägypten als schützende Zuflucht erscheint. Wie weit ist es mit dem Gottesvolk gekommen, dass man nach Ägypten fliehen muss, statt aus Ägypten nach Israel zu fliehen!
Man kann auch sagen: es gibt inzwischen keine weißen Flecken auf der Karte mehr. Es gibt keine Gegenden mehr, in denen ein Land der Freiheit gegründet werden kann. Überall ist schon ein Herrscher da, der mit Gewalt und Mord seine Position sichert. Nachfolger des Pharao ist der römische Kaiser mit seinen örtlichen Vasallen, zu denen Herodes gehört, und das Reich dieses römischen Pharaos ist ein Weltreich, dem man nicht entkommt. Man kann nicht mehr weglaufen wie zu Moses Zeiten. Auch wenn Jesus jetzt sein Leben rettet, am Ende wird er doch an einem römischen Kreuz sterben. Freiheit gibt es nur noch durch Auseinandersetzung mit dem Imperium, nicht mehr durch Flucht.
Und das könnte zutiefst deprimieren, sich deutlich zu machen: die Fluchtwege sind verstopft, niemand kann sich mehr dem Zugriff der Sklaverei entziehen, vor den Schwertern der selbsternannten Weltpolizisten gibt es keine Sicherheit mehr. Aber Matthäus zieht eine andere Schlussfolgerung: er zitiert das Wort des Propheten Hosea: »Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen«. Gott hatte damals einen Ausweg, und er hat ihn auch heute. Gott bleibt die Stimme, die uns aus der Sklaverei in die Freiheit ruft. Die Pharaos dieser Welt sterben, und Gott schafft Raum für seinen Sohn. Und am Ende ruft er ihn sogar aus dem Tod ins neue Leben. Der Ruf der Freiheit wird nicht verstummen. In Jesus sagt Gott ein für alle Mal Ja zu der Freiheitsgeschichte, die er in seinem Volk Israel begonnen hat, und die er nun auf die ganze Welt ausdehnen will.
Wir können heute nur schwer rekonstruieren, was diese Flucht nach Ägypten für das Kind Jesus bedeutet hat. Er muss ja ungefähr ein oder zwei Jahre alt gewesen sein, als seine Familie in Ägypten um Asyl nachsuchte. Und ein paar Jahre werden sie dort geblieben sein. Jesus hat also das Los von Flüchtlingskindern geteilt, die in einer Familie aufwachsen, die in Ungewissheit leben muss; weit weg von der Heimat; bedroht von Ausweisung und Abschiebung; ohne diese überschaubare Lebensperspektive, die für uns doch etwas sehr Beruhigendes hat: zu wissen, wann man mit der Schule fertig ist und wann man seine Ausbildung machen kann und in welchem Land man wahrscheinlich leben wird. Jesus hat das Los der Menschen geteilt, die geflohen sind vor dem Morden in ihrer Heimat und jetzt irgendwo in einem fremden Land leben, vielleicht in einem Lager oder einer Unterkunft, angewiesen auf die Solidarität ihrer Landsleute und die Freundlichkeit der Einheimischen. Wenn wir alle Jahre wieder von solchen Flüchtlingskatastrophen lesen und die Fotos der Kinder sehen, wie sie da irgendwo in Zelten leben müssen, dann sollen wir daran denken: Auch Jesus hat einmal so gelebt.
Kinder, die auf der Flucht aufwachsen müssen; haben nicht diese ganze Sicherheit, die wir auch von einer stabilen Gesellschaft bekommen, und stattdessen müssen ihre Familien ihnen Halt und Zuversicht geben, so gut es geht. Und Josef bekommt ja von dem Engel die Hoffnung, dass es auch noch einmal andere Zeiten geben wird, Zeiten, wo sie wieder zurück können in ihre Heimat. Aber das ist eine Hoffnung, für die man Glauben braucht, Glauben, der sich auf Gottes Hilfe verlässt.
Jesus hat sich später selbst als einen Heimatlosen bezeichnet, der keinen Platz sein eigen nennt, wo er nachts sein Haupt niederlegen kann. Und trotzdem ist es gerade Jesus, der uns eine Heimat zeigt, die nicht an Orte und Länder gebunden ist, und in der man trotzdem leben kann. Jesus hat von unserer wirklichen Heimat bei Gott gewusst, und dass wir jetzt schon dort zu Hause sein können. Und ich glaube, dass es zu Gottes Vorbereitung gehört hat, dass Jesus für einige Jahre das Schicksal eines Flüchtlings hat erleben müssen. Und wenn wir uns daran erinnern, dass er in einer Familie aufgewachsen ist, die über Generationen von David abstammte, in einer Familie, die über viele Jahrhunderte israelischer Geschichte den Glauben festgehalten hat, und die in Ägypten mit der Verheißung lebte: Gott wird helfen, es werden noch andere Tage kommen – dann kann man sich vorstellen, dass Jesus damals zuerst etwas davon gelernt hat, was es bedeutet, aus Gottes Verheißung zu leben.
Wir alle erleben schon früh Enttäuschungen und Verletzungen. Es sind nicht immer diese dramatischen Erfahrungen von Todesgefahr, Flucht und Heimatlosigkeit. Aber auch in einer äußerlich stabilen Familie können sich Kinder wie Fremde fühlen und mit dem Gefühl leben: ich bin hier nicht zu Hause.
Und bei jeder Enttäuschung ist wieder die Frage: wie reagieren wir darauf? Welche Schlüsse ziehen wir daraus? All diese Ereignisse tragen auf den ersten Blick in sich die Botschaft: Gott hat nichts zu sagen in der Welt, du bist auf dich gestellt, sieh zu, dass du dich irgendwie durchschlägst. Aber da ist immer noch die andere Stimme, die uns sagt: ich habe dich gerufen, ich habe dich aus Ägypten gerufen, du bist mein Sohn und meine Tochter, und ich will nicht, dass du im Haus der Knechtschaft leben musst. Vertraue mir, ich rufe dich heraus aus deinem Ägypten und gebe dir ein neues Land, in dem du in Freiheit leben kannst. So wie Jesus auch in einem besetzten und unterworfenen Land ein Reich der Freiheit aufgerichtet hat, und wie die Christenheit im Weltreich des römischen Pharaos Oasen der Freiheit gelebt hat, gegen die das Imperium mit all seiner Macht trotzdem nicht ankam.
Das zweite Zitat aus dem Alten Testament hören wir nach der Geschichte von dem Massaker, das Herodes unter den Kindern von Bethlehem anrichten lässt. Und wir kennen heute immer noch die Bilder von den Massengräbern, die wieder einmal irgendwo entdeckt werden, die Bilder von den Menschen, die gerade noch voll Leben und Hoffnung waren und jetzt daliegen, hinweggerafft, Frauen und Kinder ebenso wie Männer, Alte und Junge, zum Opfer gefallen der Wut, der Angst und dem Hass. Und Matthäus zitiert dazu einen Vers aus dem Propheten Jeremia, der die Verschleppung der Menschen aus Nordisrael durch die Assyrer miterlebt hat, eine Vision der Stammmutter Israels, Rahel, wie sie den Elendszug der Verschleppten ihres Volkes sieht und weint um ihre verlorenen Kinder.
Und Matthäus will damit sagen: ja, auch das gehört zur Geschichte Jesu, die grauenvolle Realität der Massaker. Dem ist Jesus damals gerade noch einmal entkommen, aber am Ende wird die Gewalt auch ihn einholen. Jesus lebt in der wirklichen Welt und er hat es zu tun mit der wirklichen Welt in ihrer Grausamkeit, nicht mit Religion, nicht mit einer jenseitigen Realität, in die man sich flüchten könnte, damit man für eine Zeit die grausame Welt vergisst. Und wenn man das Jeremia-Zitat weiterliest, dann merkt man, wie Gott sagt: das werde ich rückgängig machen. Da ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Es kommt der Tag, an dem die Geschichte noch einmal aufgerollt wird, und all die namenlosen Opfer der Massaker sind vor Gott nicht vergessen. Bei ihm haben sie eine Zukunft, an der auch die Mörder nichts ändern können.
Und schließlich hören wir zum dritten Mal einen Rückbezug auf die prophetische Überlieferung: »Er soll Nazarener/Nazoräer genannt werden.« Dieses Wort ist schwer zu verstehen, weil es kein wörtliches Zitat aus dem Alten Testament ist. Man weiß nicht genau, woran Matthäus hier denkt. Sicher ist aber, dass Nazarener oder Nazoräer später eine abwertende Bezeichnung für die Christen gewesen ist. Sie spielt an auf die Herkunft Jesu aus einer Stadt in Galiläa. Und Galiläa war eben kein jüdisches Kernland, sondern so eine fragwürdige Provinz. Man hat schon Jesus und dann seinen Anhängern diese Herkunft vorgeworfen. Da klingt mit: das sind Hinterwäldler, das sind halbe Heiden, das sind ungebildete Menschen. Am nächsten käme es bei uns vielleicht, wenn man Leute als Ostfriesen beschimpfen würde, aber das trifft es auch nicht, vor allem, weil wir alle ja wissen, dass Ostfriesen in Wirklichkeit genauso klug oder dumm sind wie alle anderen. Aber damals glaubten sie wirklich daran, dass die Leute aus Galiläa nur Juden zweiter Klasse waren.
Und Matthäus sagt: ja, dazu stehen wir, dass Jesus aus einer Ecke des Landes kommt, über die sie in der Hauptstadt die Nase rümpfen. Und ich glaube, es ist der Anklang an ein anderes Wort, das ihn dazu ermutigt. Nazoräer klingt fast wie Nasiräer, und das ist das Fachwort für einen ganz besonders Gottgeweihten. Simson z.B., der Israel Luft verschaffte gegen die grausamen Philister, von dem heißt es, dass er von Mutterleibe an ein Gottgeweihter war (Richter 13,5.7), und da steht in der griechischen Übersetzung ein Wort, das fast genauso klingt wie Nazarener/Nazoräer.
Matthäus sagt also: spottet nur darüber, dass Jesus aus dieser verachteten Ecke des Landes kommt, das musste so sein, weil es zeigt, dass Gott nicht an unsere Vorurteile gebunden ist, wenn er Menschen beruft, und in diesem Spottwort über die Christen steckt eine Wahrheit: wir gehören in besonderem Maß zu Gott, denn wir gehören zu dem Gottgeweihten Jesus.
Auch hier wieder die Frage, was man macht mit einer problematischen Ausgangslage. Aus der verachteten Provinz zu stammen – ist das etwas, wegen dem man sich schämt? Oder sagt man: ja, da komme ich her, aber durch Gott bin ich, was ich bin? Wir haben immer wieder gesehen, wie entscheidend die Frage nach der Deutung ist, die wir dem geben, was uns begegnet. Es gibt keine reinen Tatsachen. Alles, was uns begegnet, trägt auch immer Botschaften mit sich, aber welcher Botschaft glaube ich?
Wenn Gottes Wort eine Situation beleuchtet, dann kann sie ganz anders werden. Wenn Jesus, das Wort Gottes, in unser Leben hineinkommt, dann kann unsere Biografie neu geschrieben werden. Dann kann man an der Hand Jesu noch einmal durch sein Leben gehen, durch alle belastenden Situationen, und ihn bitten: zeige du mir, wie das in deinen Augen aussieht, Mit dir zusammen will ich mich dem noch einmal stellen! Und dann ist eine Grundlage da, auf der die Ereignisse eine neue Bedeutung bekommen können.
So ist das Leben Jesu von Anfang an ein Leben gewesen, das von der Kraft des Wortes Gottes her durchdrungen war. Matthäus will deutlich machen: Jesus hat von Anfang an gelernt, die Welt von Gott her zu sehen, nicht von seinen Verletzungen und Enttäuschungen her, obwohl es Anlässe genug dafür gegeben hätte. Wenn Menschen sich mit einer schweren Kindheit entschuldigen, das hätte Jesus allemal gekonnt. Aber er hat in allem zur Freiheit des Wortes Gottes gefunden. Und für uns ist er das Wort Gottes, das lebendige Wort, das durch ein ganzes Leben der Freiheit und der Liebe zu uns spricht. Dieses Wort will auch uns dazu bringen, dass wir am Ende sagen können: ja es stimmt, nichts kann uns abschneiden von der Liebe Gottes, und darin liegt unsere vollkommene Freude.