Offen für alles? Die Qual der Wahl
Predigt im Besonderen Gottesdienst am 27. Oktober 2002 zu Matthäus 25,14-30
Am Anfang des Gottesdienstes war eine Szene zu sehen, in der ein Mann sein Leben auf einem Zaun sitzend verbrachte und sich erfolgreich jedem Engagement – sei es bei Fußball, Partnerin oder Gemeinde – entzog.
14 »Es ist wie bei einem Mann, der verreisen wollte. Er rief vorher seine Diener zusammen und vertraute ihnen sein Vermögen an. 15 Dem einen gab er fünf Zentner Silbergeld, dem anderen zwei Zentner und dem dritten einen, je nach ihren Fähigkeiten. Dann reiste er ab.
16 Der erste, der die fünf Zentner bekommen hatte, steckte sofort das ganze Geld in Geschäfte und konnte die Summe verdoppeln. 17 Ebenso machte es der zweite: Zu seinen zwei Zentnern gewann er noch zwei hinzu. 18 Der aber, der nur einen Zentner bekommen hatte, vergrub das Geld seines Herrn in der Erde.
19 Nach langer Zeit kam der Herr zurück und wollte mit seinen Dienern abrechnen. 20 Der erste, der die fünf Zentner erhalten hatte, trat vor und sagte: ‚Du hast mir fünf Zentner anvertraut, Herr, und ich habe noch weitere fünf dazuverdient; hier sind sie!‘ 21 ‚Sehr gut‘, sagte sein Herr, ‚du bist ein tüchtiger und treuer Diener. Du hast dich in kleinen Dingen als zuverlässig erwiesen, darum werde ich dir auch Größeres anvertrauen. Komm zum Freudenfest deines Herrn!‘ 22 Dann kam der mit den zwei Zentnern und sagte: ‚Du hast mir zwei Zentner gegeben, Herr, und ich habe noch einmal zwei Zentner dazuverdient.‘ 23 ‚Sehr gut‘, sagte der Herr, ‚du bist ein tüchtiger und treuer Diener. Du hast dich in kleinen Dingen als zuverlässig erwiesen, darum werde ich dir auch Größeres anvertrauen. Komm zum Freudenfest deines Herrn!‘
24 Zuletzt kam der mit dem einen Zentner und sagte: ‚Herr, ich wusste, dass du ein harter Mann bist. Du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst ein, wo du nichts ausgeteilt hast. 25 Deshalb hatte ich Angst und habe dein Geld vergraben. Hier hast du zurück, was dir gehört.‘ 26 Da sagte der Herr zu ihm: ‚Du unzuverlässiger und fauler Diener! Du wusstest also, dass ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und sammle, wo ich nichts ausgeteilt habe? 27 Dann hättest du mein Geld wenigstens auf die Bank bringen sollen, und ich hätte es mit Zinsen zurückbekommen! 28 Nehmt ihm sein Teil weg und gebt es dem, der die zehn Zentner hat!
29 Denn wer viel hat, soll noch mehr bekommen, bis er mehr als genug hat. Wer aber wenig hat, dem wird auch noch das Letzte weggenommen werden. 30 Und diesen Taugenichts werft hinaus in die Dunkelheit draußen! Dort gibt es nur noch Jammern und Zähneknirschen.«
Erinnern Sie sich noch, wo in dieser Szene am Anfang des Gottesdienstes der Robert Schulz mal so richtig energisch geworden ist? Genau, ganz zum Schluss, als er sagte: ich lasse mich nicht festlegen! Ich nicht! Da wird sogar Robert entschieden!
Und wenn man daran denkt, was der im Laufe seines Lebens für Strategien entwickelt hat, um sich nicht festlegen zu müssen – Arbeit wechseln, Gemeinde wechseln – erstaunlich, wieviel Energie er dafür aufwendet! Wenigstens an diesem einen Punkt engagiert er sich richtig: für seine Freiheit, sich nicht festzulegen!
Ganz unfreiwillig zeigt er damit, dass Menschen es nicht vermeiden können, mit Energie für oder gegen etwas zu sein. Wir sind so geschaffen, dass wir nicht darum herum kommen. Menschen können gar nicht leben, ohne sich zu entscheiden. Wer sich nicht zwischen Schach und Fußball entscheiden kann, entscheidet sich fürs Zaunsitzen. Wer sich nicht für Daria entscheiden kann, entscheidet sich fürs Single-Dasein.
Der Trick dabei ist aber: Man erlebt das nicht als Entscheidung, obwohl es faktisch eine ist. Robert erlebt es so, dass es eben einfach so gekommen ist. In Wirklichkeit hat er dafür gesorgt, dass er weder Fußball noch Schach gespielt hat.
So ist das im Leben: Faktisch entscheiden wir uns pausenlos dafür, eine Sache zu tun oder auch sie nicht zu tun. Wir könnten in jedem Augenblick unseres Lebens etwas völlig anderes tun. Aber bewusst wird uns das nur selten. Normalerweise erleben wir nur wenige Entscheidungssituationen im klaren Bewusstsein, dass dies eine Weichenstellung ist. Und wer auf dem Zaun sitzt, hat das Gefühl, dass er sich nicht entscheidet – obwohl er sehr entschieden dafür sorgt, dass sein Leben unbenutzt verstreicht.
Es ist ja auch gut, dass wir nicht in jedem Moment neu nachdenken müssen, sonst kämen wir überhaupt nicht mehr zum Leben. Es ist sinnvoll, dass vieles nicht jeden Tag wieder neu zur Diskussion steht. Es ist gut, dass man nicht jeden Tag wieder neu überlegen muss, ob man sich für den richtigen Beruf oder die richtige Wohnung entschieden hat. Aber das sollte uns schon klar sein, dass wir fast alles in unserem Leben anders machen könnten als wir es tun.
Was passiert aber nun mit Menschen, die sich weigern, eine bewusste Entscheidung, wofür auch immer, zu fällen? Sie verschenken den Spielraum, den sie haben, und sie sorgen dafür, dass irgendjemand oder irgendetwas anderes für sie die Entscheidungen fällt. Sie verschenken ihren Spielraum und damit ihr Leben.
Gott hat uns unser Leben zum aktiven Gebrauch geschenkt. Er hat uns einen Verantwortungsbereich gegeben, den wir ausfüllen sollen. Wir, niemand anders, auch Gott nicht.
Das Gleichnis von den drei Angestellten, das wir vorhin gehört haben, veranschaulicht das. Jeder bekommt seinen Verantwortungsbereich zugeteilt, seine Aufgabe. Der Bereich ist unterschiedlich groß, aber jeder hat einen Bereich. Der Chef gibt allgemeine Richtlinien, aber dann müssen sie allein überlegen, was sie mit dem Geld machen. Und zwei von den Angestellten nutzen ihren Verantwortungsbereich sehr effektiv. Übertragen könnte man sagen: die krempeln die Ärmel auf und machen was aus ihrem Leben.
Aber der dritte, der sitzt auf dem Zaun.
Der Zaun ist ja nicht nur ein Sinnbild für Passivität, es ist auch ein Bild für jemanden, der alles besser weiß, aber nichts besser macht. Und dieser dritte Angestellte, der sitzt auf seinem Zaun und meckert. Was hat er bloß für einen Chef! Der lässt ihn schuften und streicht am Ende den Gewinn ein! Das ist doch eine Gemeinheit!
Liebe Freunde, wieviele Menschen sitzen auf dem Zaun und beklagen sich über die Ungerechtigkeit der Welt! Ja, wenn die Welt besser wäre, dann würden sie sich natürlich viel mehr einbringen, aber in dieser ungerechten Welt und mit diesen vielen anderen, die so unfair sind, da ist das doch sinnlos!
Und sie schrecken davor zurück, sich festzulegen, und kommentieren stattdessen die Welt aus sicherem Abstand. Und gerade so leben sie mit Sicherheit an ihrer Berufung vorbei. Wir sind nicht für 1000 Möglichkeiten geschaffen, sondern für einen konkreten Weg, den wir tatsächlich gehen. Und wir bekommen unser individuelle Leben dadurch, dass wir viele andere Möglichkeiten nicht nutzen.
Es ist interessant, dass die Hirnforscher herausgefunden haben, dass die Entwicklung des menschlichen Gehirns genau so funktioniert: durch Weglassen. Am Anfang hat ein Baby in seinem Kopf noch unzählig viele Verbindungen zwischen den einzelnen Hirnzellen. Aber im Laufe des ersten Lebensjahres sterben ganz viele davon ab. Sie gehen ein, weil sie nicht benutzt werden, und im Gehirn bleiben nur die Schaltungen übrig, die auch benutzt werden. Nur die Bewegungen und Sinne, die immer wieder gebraucht werden, nur die hinterlassen Spuren im Gehirn. Alle anderen Möglichkeiten sind ursprünglich auch da, aber damit ein Mensch eine echte Person wird, damit er Strukturen im Kopf entwickelt, dazu müssen die anderen Möglichkeiten buchstäblich absterben. Nur so sind wir mal der Mensch geworden, der wir sind.
Und das geht natürlich weiter. Das ganze Leben ist ein Prozess, in dem die Auswahlmöglichkeiten von Jahr zu Jahr weniger werden. Welche Erfahrungen wir im Kindergarten machen, welchen Schulabschluss wir bekommen, welchen Beruf wir ergreifen, bei welchem Partner wir bleiben, ob und wieviel Kinder wir haben, wie hoch unsere Rente sein wird – das alles lässt sich irgendwann nicht mehr revidieren. Natürlich kann man im Einzelnen immer noch viel bewegen. Es gibt viele Beispiele von Leuten, die mit 60 noch mal angefangen haben zu studieren, oder noch mal ein großes Projekt angepackt haben. Aber das sind ja gerade Beispiele dafür, dass Menschen nicht auf dem Zaun sitzen, nicht über verschüttete Milch jammern, sondern die Chancen ihres wirklichen Lebens voll ausnutzen.
Je mehr wir zu diesem einen Leben, das wir haben, Ja sagen, um so größer ist der Gewinn, den wir da rausholen können. Die beiden ersten Angestellten im Gleichnis Jesu haben ihre Chancen voll genutzt. Dazu haben sie sicher auch viel Fantasie aufgewendet und gut nachgedacht, sie haben nach der besten Geschäftsidee gesucht, aber dann haben sie zugegriffen und ihre Chance genutzt. Nicht in 100 möglichen Leben sollen wir etwas bewirken, sondern in dem einen wirklichen Leben, das wir haben.
Der Sitzplatz auf dem Zaun ist das Symbol für ein Leben, das nicht aus vollem Herzen gelebt wird, sondern mit gebremster Kraft. Wir sind dafür geschaffen, aus vollem Herzen zu leben, uns einzusetzen und zu verschenken. Es ist besser, sich falsch zu entscheiden, als sich gar nicht zu entscheiden. Falsche Entscheidungen kann man meist auch wieder rückgängig machen, und normalerweise merkt man es nach einiger Zeit, wenn man auf dem falschen Weg ist. Wenn man sich gar nicht entscheidet, erkennt man viel schlechter, was man da tut.
Unser Herz erreicht nicht seine vollen Möglichkeiten, wenn wir nur vorsichtig und zurückhaltend leben. Für den Robert Schulz in der ersten Szene ist es eine schreckliche Perspektive, wenn ihm jemand sagt: Vielleicht hat Gott große Dinge mit Ihnen vor. Aber genau das ist ja die einzige Perspektive, die uns nicht unterfordert. Dafür sind wir geschaffen. Nur das passt wirklich zu uns.
Sie müssen einfach mal das Leben von Menschen beobachten, die sich dieser Herausforderung nicht stellen. Gehen Sie hin und schauen Sie es sich über einen längeren Zeitraum an! Was wird aus Menschen, die sagen: ach, das ist mir alles zu groß und zu gefährlich, ich rühre hier lieber in meinem kleinen Topf, ich sehe fern und mache mal einen Ausflug, ich tue ab und zu was Gutes und warte ab, wie mein Leben wohl zu Ende geht? Sie müssen mal darauf achten, was für einen riesigen Stellenwert dann im Lauf der Zeit die ganzen Wehwehchen bekommen, die kleinen Eitelkeiten und Verletztheiten, und vor allem Ruhe und Sicherheit! Wie wichtig es dann plötzlich wird, dass der Rasen gepflegt ist und das Mittagessen pünktlich auf dem Tisch steht! Und wie wichtig es am Ende wird, dass auf dem Grab kein Unkraut wächst!
Wir kommen eben nicht davon los, dass unser Herz dazu geschaffen ist, aus vollem Herzen mit Gott zusammenzusein. Und wenn wir diesen Zentralplatz im Herzen nicht Gott geben, dann werden andere Dinge enorm wichtig. Aber was glauben Sie, wenn Sie mal tot sind und auf ihr Leben zurückblicken, was werden Sie dann bedauern: dass Sie zu wenig ferngesehen haben? Dass Sie immer mit einem dreckigen Auto rumgefahren sind? Dass Sie die Wohnung zu selten tapeziert haben?
Das sind jetzt natürlich sehr plakative Fragen, aber wir werden vor allem eines Tages bedauern, dass wir nicht viel entschiedener unser Herz an das neue Leben gehängt haben, das Jesus mit uns leben will. Die einen werden sagen: warum habe ich da immer nur vor gestanden und habe viele Bücher gelesen und habe mich noch mal über den Islam informiert und über den Dalai Lama und über die Gurken-Lachs-Diät und nicht einfach zugegriffen bei dem, was ich im Grunde von Jesus wusste?
Und die anderen werden sagen: warum habe ich das, was ich von Jesus geglaubt habe, nicht entschieden in mein Leben umgesetzt, warum habe ich so viel Angst davor gehabt, was andere sagen könnten? Warum habe ich dieser Pflanze des Glaubens so wenig Luft und Licht gegeben, dass sie sich nie richtig entfalten konnte? Warum habe ich mich nicht getraut, aus meiner Haut herauszukommen? Warum habe ich immer erst die vielen anderen Dinge gemacht, die anstanden? Ich wusste es doch alles, aber ich habe viel zu wenig davon erlebt.
Das Leben immer wieder in dieser Perspektive von hinten zu sehen, ist unheimlich hilfreich. Es aktiviert uns, wenn wir gucken: wo laufen die Linien meines heutigen Lebens eigentlich hin? Wir haben dieses eine Leben, kein anderes. In diesem Leben will Gott uns begegnen. Und wir sollen es mit vollem Herzen leben. Glück hat etwas mit einem vollen Herzen zu tun. Und niemand kann glücklich werden, der das Leben vom Zaun aus betrachtet. Da kann man allenfalls zufrieden sein, und selbst das ist sehr fraglich.
Wir sind nun mal so eingerichtet, dass wir nicht offen für alles mögliche sein sollen, sondern in einem realen Leben aus vollem Herzen in Jesu Spuren gehen.