Es wird keine »normalen« Zeiten mehr geben
Predigt am 28. November 2004 (1. Advent) zu Matthäus 24,1-14
1 Jesus verließ den Tempel und wollte weggehen. Da kamen seine Jünger zu ihm und wiesen ihn auf die Prachtbauten der Tempelanlage hin. 2 Aber Jesus sagte: »Ihr bewundert das alles? Ich sage euch, hier wird kein Stein auf dem andern bleiben. Alles wird bis auf den Grund zerstört werden.«
3 Dann ging Jesus auf den Ölberg und setzte sich dort nieder. Nur seine Jünger waren bei ihm. Sie traten zu ihm und fragten ihn: »Sag uns, wann wird das geschehen, und woran können wir erkennen, daß du wiederkommst und das Ende der Welt da ist?«
4 Jesus sagte zu ihnen: »Seid auf der Hut und laßt euch von niemand täuschen! 5 Viele werden unter meinem Namen auftreten und von sich behaupten: ‚Ich bin der wiedergekommene Christus!‘ Damit werden sie viele irreführen. 6 Erschreckt nicht, wenn nah und fern Kriege ausbrechen! Es muss so kommen, aber das ist noch nicht das Ende. 7 Ein Volk wird gegen das andere kämpfen, ein Staat den andern angreifen. In vielen Ländern wird es Hungersnöte und Erdbeben geben. 8 Das alles ist erst der Anfang vom Ende – der Beginn der Geburtswehen.«
9 »Dann werden sie euch an die Gerichte ausliefern, euch misshandeln und töten. Die ganze Welt wird euch hassen, weil ihr euch zu mir bekennt. 10 Wenn es soweit ist, werden viele vom Glauben abfallen und sich gegenseitig verraten und einander hassen. 11 Zahlreiche falsche Propheten werden auftreten und viele von euch irreführen. 12 Und weil der Ungehorsam gegen Gottes Gesetz überhand nimmt, wird die Liebe bei den meisten von euch erkalten.
13 Wer aber bis zum Ende standhaft bleibt, wird gerettet. 14 Aber die Gute Nachricht, daß Gott schon angefangen hat, seine Herrschaft aufzurichten, wird in der ganzen Welt verkündet werden. Alle Völker sollen sie hören. Danach erst kommt das Ende.«
Gott kommt und klopft an die Tore seiner Welt. Und im ganzen Haus hört man das Pochen, die ganze Welt hallt wider von diesem Klopfen. Jesus und seine Gemeinde sind der geheime Dreh- und Angelpunkt der Weltgeschichte. In allen Irrungen und Wirrungen der Geschichte geht es am Ende um die Frage, ob Jesus, dem Herrn der Welt, die Tür geöffnet wird und er willkommen geheißen wird. Und Jesus bereitet seine Jünger darauf vor, damit sie nicht verwirrt sind, wenn es kommt. Sie sollen die Dinge richtig sehen.
Da ist z.B. der Tempel, aus dem Jesus gerade herausgeht, um ihn nie wieder zu betreten. Die Jünger sind beeindruckt von diesem riesigen Baukomplex. Der wäre auch heute noch beeindruckend, aber damals, wo die Menschen sonst nur die kleinen Häuser kannten, in denen sie wohnten, wirkte er überwältigend. Mal abgesehen von den Kunstschätzen, mit denen er geschmückt war. Natürlich, dazu baut man ja auch solche Gebäude, damit die Menschen beeindruckt sind. Und die Jünger lassen sich beeindrucken: »Also, mal abgesehen davon, dass die Priester dich dort auf den Tod nicht ausstehen können, aber das Gebäude an sich ist doch toll!« Aber Jesus bleibt unbeeindruckt. »Davon wird kein Stein auf dem anderen bleiben« sagt er.
Und das stimmt. Das Volk Israel, dessen Führungsschicht mehrheitlich Jesus abgelehnt hat, ist 40 Jahre später einen anderen Weg gegangen, den Weg des militärischen Aufstandes. Sie hatten am Anfang sogar Erfolge, aber dann kamen die römischen Legionen, schlugen erbarmungslos zu und machten alles platt. Der Tempel wurde zerstört, so wie Jesus es vorhergesehen hatte. Wäre das Land stattdessen den Weg Jesu mitgegangen, dann wäre die ganze Weltgeschichte anders verlaufen.
Das kennen wir genauso im kleinen. Wie viele Menschen suchen sich auf allen möglichen Wegen Hilfe, bezahlen vielleicht sogar einen Haufen Geld an irgendwelche Helfer, wenn sie ihnen nur viel versprechen, aber stattdessen einfach den Weg Jesu konsequent mitzugehen, das darf auf keinen Fall sein. Nach dem Motto: so schlecht geht es uns noch nicht, dass wir Jesus um Hilfe bitten müssten.
Die Auseinandersetzung mit der Botschaft Jesu bringt eine ganz enorme Dynamik in die Welt. Egal, ob die Menschen sie annehmen oder ablehnen, da werden gewaltige Kräfte freigesetzt, und sie gestalten die Welt, im Guten wie im Bösen. Manchmal übernehmen die Menschen vom Evangelium den Fragehorizont und einen Teil der Antworten, lehnen das Evangelium am Ende aber doch ab. Da gibt es Missverständnisse und komplizierte Mischungen. Manchmal wird das dazu führen, dass die Christen direkt angegriffen werden. Manchmal werden sie auch teilweise bewundert werden. Manchmal werden sie gar keine Rolle spielen. Aber wir sollen wissen: in all den Erschütterungen geht es um das Evangelium und das Reich Gottes. Wer erst einmal anfängt, sich die Geschichte unter dieser Fragestellung anzusehen, der entdeckt immer mehr Zusammenhänge, und die meisten davon sind gar nicht mal besonders versteckt.
Der Islam z. B., der vielen Menschen heute so viel Sorgen macht, ist eigentlich als eine Reaktion auf das Christentum entstanden, und man kann noch nicht einmal sagen, dass es von Anfang an eine feindselige Reaktion gewesen wäre. Aber diese Reaktion hat enorme Auswirkungen in der Weltgeschichte.
Oder Bewegungen wie Sozialismus und Kommunismus, die sind in einem Moment entstanden, als die christliche Kirche keine Heimat für die Ausgebeuteten und Entrechteten war, sondern eine Verbündete der herrschenden Klassen. Da hat Gott seine Kirche an Ihren Auftrag erinnert – durch die Kommunisten und Sozialisten. Und die wiederum haben christliche Werte aufgenommen und weiterentwickelt. Das Evangelium hat ganz entscheidend die Hoffnungen der Unterdrückten vergrößert, so dass sie sich nicht mehr mit ihrer Lage zufrieden gaben. Aber ohne Verankerung im Evangelium sind weite Teile dieser Bewegungen auf dem Weg der Gewalt und ist herausgekommen. Auch hier wieder: wäre die Kirche den Weg Jesu gegangen, die ganze Weltgeschichte hätte anders ausgesehen.
Richtig und falsch verstandene Gedanken Jesu bewegen die Welt und erschüttern die Völker. Jesus hat uns in eine tiefe Krise hinein geführt. Er hat nie behauptet, dass er eine allmähliche Verbesserung der Zustände, eine Zivilisierung und Verchristlichung der Welt bringen würde. Jesus sorgt dafür, dass die Dinge sich zuspitzen, und uns wird Angst und Bange dabei.
Auch die ganze Hektik, in der viele heute leben und unter der Menschen leiden, hat irgendwie zu tun mit dieser Dynamik, die durch Jesus in die Welt gekommen ist. Das Dumme ist nur, das man die Zusammenhänge umso schwerer erkennt, je mehr man drinsteckt. Aber kennen Sie dieses Gefühl: »es muss doch mal wieder ruhiger werden! Wenn sich das alles mal beruhigt hat, wenn wieder normale Zeiten eingekehrt sind, das ist das eigentliche und richtige Leben.«?
Wissen Sie was? Ich glaube nicht mehr, dass es diese ruhigen und normalen Zeiten irgendwann wieder geben wird. Ich glaube, dass das Chaos, die dauernde Veränderung, die Improvisation normal ist. Ich weiß nicht, ob es diese ruhigen und normalen Zeiten jemals gegeben hat, aber ich glaube, es ist sinnlos, auf sie zu warten. Es ist besser, sich innerlich auf diese Realität einzustellen und sich dann zu freuen über jede kleine Insel der Stabilität, über jeden Rastplatz, an den Gott uns führt, damit wir dort unsere Kräfte erneuern können.
Liebe Freunde, wenn wir Jünger Jesu sind, dann sollten wir diejenigen sein, für die solche Erschütterungen überhaupt nicht unerwartet sind. Gerade uns sollte das Herz nicht in die Hose rutschen, denn wenn wir in der Zeitung von neuen Krisen und Katastrophen lesen, dann ist es genau das, was Jesus vorausgesagt hat. Wir müssen nicht bei jedem Erdbeben irgendwo auf der Welt gleich davon raunen, dass nun die Endzeit kommt. Nein, seit der Auferstehung Jesu leben wir schon in der Endzeit, die dauert nun schon 2000 Jahre, und keiner kann sagen, ob es jetzt noch weitere 2, 20, 2000 oder 2 Millionen oder wie viel Jahre dauern wird, bis Jesus zurückkommt.
Jesus gibt uns die Informationen, die wir brauchen, um in seiner Nachfolge zu leben. Er gibt uns nicht alle Informationen, die wir brauchen würden, um unsere Neugier zu befriedigen. Deswegen hat er mit Absicht nichts darüber gesagt, wie lange es dauern wird, bis er wiederkommt. Das ist uns prinzipiell unbekannt, und wer diese Ungewissheit, die Jesus gewollt hat, mit irgendwelchen Spekulationen zu überbrücken versucht, der hat etwas Entscheidendes nicht verstanden.
Ich las neulich bei einem amerikanischen christlichen Autor, der schrieb: ich möchte nicht wissen, wie viele fromme Christen bei uns im Land vor dem Jahr 2000 riesige Mengen von Tunfisch in Dosen und andere Konserven gehortet haben – als Notvorrat, falls die Welt doch zum Jahreswechsel untergehen sollte. Und er schrieb dann weiter: ich habe damals die Gelegenheit gehabt, ein Zeichen zu setzen, ein Zeichen der Hoffnung und des Vertrauens. Es ergab sich für mich so, dass ich über den Jahreswechsel zum Jahr 2000 dauernd fliegen musste. Sie erinnern sich: damals war man sich nicht sicher, ob denn nicht in der Silvesternacht Fliegen eine sehr unsichere Sache wäre. Aber er hat gesagt: ich werde diese ganze Zeit immer wieder im Flugzeug verbringen, und ich bin überzeugt, dass wir uns keine Sorgen machen müssen, weil Gott die Dinge in der Hand hat.
Das ist nämlich die eigentliche Botschaft Jesu: fürchtet euch nicht in den ganzen Erschütterungen, die mein Kommen in der Welt auslöst. Deswegen hören wir am Ende dieses Textes diesen kleinen Satz: das Evangelium von der Königsherrschaft Gottes wird in der ganzen Welt verkündet werden. Auch dieses ganze Chaos, das die Menschen veranstalten, weil sie Jesus halb zufallen und ihn halb ablehnen, das wird es nicht verhindern können, dass alle Völker mit dem authentischen und wahren Evangelium Bekanntschaft machen. Auch wenn mal Zeiten kommen, wo wir uns fühlen wie ein Schiffchen, das vom Sturm hin und hergeworfen wird, dann sollen wir wissen, dass für Gott dieses Chaos auch nicht schwerer zu handhaben ist als ruhige und friedliche Zeiten.
Es ist nicht so, dass Gott ab und zu die Kontrolle entgleitet, sondern Gott lässt dieses ganze Chaos zu, weil durch solche Erschütterungen die Menschen aufgebrochen werden und herausgerissen werden aus all den festen Denkmustern und Traditionen, in denen sie sich eingerichtet haben und mit denen sie sich gegen Gott abschirmen. Wenn von den ganzen Selbstverständlichkeiten kein Stein mehr auf dem andern geblieben ist, wenn die Tempel zerstört und zerbrochen im Staub liegen, dann werden die Menschen vielleicht frei sein für das Evangelium. Wer die Offenbarung liest, der weiß: auch dann kann man immer noch die Ohren und das Herz verschließen, und nicht weniger werden es tun.
Aber Gott lässt all das Chaos zu, und wir kennen seinen Terminkalender nicht im Einzelnen. Nach Jesu Meinung ist das auch nicht nötig. Es reicht, wenn wir das Chaos nicht in uns eindringen lassen, wenn wir uns nicht verunsichern lassen, wenn wir uns nicht von unserm Auftrag abbringen lassen. Und vor allem soll die Liebe nicht erkalten. Denn durch die Gesetzlosigkeit, so sagt es Jesus, wird die Liebe erkalten: anscheinend kann die Liebe nicht bestehen, wenn man sie nicht auch äußerlich umsetzt in Taten nach dem Willen Gottes, und sie ist gefährdet, wenn wir äußerlich immer mehr daran gehindert werden, sie auch zu verwirklichen.
Gott klopft an die Tore dieser Welt. Seine Flut steigt, und jede neue Welle rollt ein wenig weiter den Strand hinauf. Christen sind hoffentlich nicht diejenigen, die dann Deiche bauen aus Angst vor Unsicherheit. Wenn man in dem Bild bleiben will, dann müsste man sagen: wir gehen der Flut entgegen, um in ihr zu schwimmen. Vielleicht ist das ein bisschen zu steil, denn so mutig müssen wir, glaube ich, auch aus der Sicht Gottes doch nicht immer sein. Gott hat Verständnis für unsere Ängste; wir müssen nicht tollkühn sein, wir müssen uns nicht nach einem Martyrium drängen, aber Initiative und Mut wären schon nicht schlecht. Wir sind berufen, königliche Menschen zu sein, nicht Getriebene. Wenn irgendwer in diesen unübersichtlichen Zeiten den Überblick behält, dann wir. Wenn irgendwer wirklich versteht, welche Dynamik die Welt erschüttert und immer mehr antreibt, dann wir.
Also lassen wir uns nicht Angst machen: Die Unruhen des letzten Abschnittes dieser Welt sind schwer, gefährlich und schmerzhaft. Aber sie sind kein Zeichen dafür, dass Gott die Kontrolle verloren hat. Sie sind ein Grund, immer stärker nach Gott zu fragen, damit er uns in chaotischen Zeiten in die Fülle seiner Wahrheit führt.