Fürchtet euch nicht!
Besonderer Gottesdienst am 11. September 2016 mit Predigt zu Matthäus 14,22-33
Am Anfang des Gottesdienstes wurde von der diesjährigen Angststudie berichtet, die einen deutlichen Anstieg des Angstpegels in Deutschland von 2015 auf 2016 verzeichnete – immerhin und erfreulicherweise besonders wenig in Niedersachsen.
Meine Vermutung ist, dass jetzt die Menschen merken, dass wir hier in Deutschland nicht für immer und ewig auf der Insel der Seligen leben, wo wir Krieg, Seuchen, Hunger und Gewalt nur vom Bildschirm kennen. Viele Jahrzehnte waren wir die stabilste Region der Welt – na gut, vielleicht war Schweden noch sicherer und schnuckeliger. Aber ganz allmählich sind uns die Konflikte in der Welt immer näher gekommen. In den 1990er Jahren die Balkankriege, das war immerhin schon in Europa. Dann der Anschlag auf das World Trade Center – heute ist der ja genau 15 Jahre her. 2008 die Bankenkrise, die immer noch nicht bewältigt ist. Das Wetter spielt sowieso immer öfter verrückt. Und dann der Krieg in Syrien, zuerst immer noch ganz schön weit weg, aber im letzten Jahr ist dann mit den Flüchtlingen die harte Realität dieser Welt endgültig und unübersehbar bei uns angekommen.
Ich glaube, dass es eigentlich das ist, was den Leuten Angst macht: es könnte sein, dass wir all die schrecklichen Sachen, die da draußen in der Welt passieren, auf die Dauer nicht draußen halten können. Und diesen Gedanken finde ich durchaus beunruhigend. Wahrscheinlich wird uns gerade deutlich, dass es kein Anrecht auf ein Dauerabo für ein friedliches und komfortables Leben gibt, für niemanden. Keine Bundeskanzlerin, kein amerikanischer Präsident, kein Internet und keine Versicherung kann uns so ein Dauerabo garantieren. Eine Mauer, die so hoch wäre, dass die Unordnung der Welt sicher draußen bleibt, die gibt es nicht. Es kann einem schon ungemütlich werden, wenn man sich das klar macht.
Aber die gute Nachricht ist: die Welt, in der das Christentum geboren wurde, war mindestens so unsicher wie unsere heutige Welt. Und der Glaube hat sich gerade in solchen unsicheren Umständen bewährt. Zu Jesus zu gehören, das kann in einem Menschen eine innere Stärke entwickeln, mit der man auch in Katastrophen nicht aufgibt und sich auch in der größten Bedrohung nicht von der Angst unterkriegen lassen muss. Und Glaube verbindet Menschen zu solidarischen Gemeinschaften, in denen die Stärke ansteckend ist und nicht die Furcht.
Deswegen in der ganzen Bibel immer wieder dieses »fürchtet euch nicht!«. Daran müssen wir uns aber erst erinnern, wir müssen den Glauben aus der Eiapopeia-Ecke für sensible Seelen herausholen. Wir müssen neu zu glauben lernen, dass es im Evangelium um die Auseinandersetzung mit hochgefährlichen Mächten geht, mit denen tatsächlich nicht zu spaßen ist. Dazu ist Jesus gekommen, und erst wenn dieser Zusammenhang klar wird, kann das Evangelium seine Kraft entfalten.
Weil viele Menschen aber gar nicht wissen, dass Glaube in dieser Liga spielt, deswegen kriegen sie so eine Angst, wenn sie plötzlich merken, wie gefährlich die Welt ist, und dass man sich gegen viele Risiken nicht versichern kann. Uns geht es ja immer noch ziemlich gut, unser Land ist im Vergleich zu anderen enorm stabil. Aber der Angstpegel geht nach oben, weil Menschen keine inneren Reserven entwickelt haben, mit denen sie der Bedrohung entgegentreten können. Wenn es hart wird, kommt es darauf an, was du für ein Mensch bist. Und wir wollen heute überlegen, wie das bei uns ankommen kann. Dazu hören wir auf einen Abschnitt aus Matthäus 14:
22 Gleich darauf forderte Jesus die Jünger auf, ins Boot zu steigen und an das andere Ufer vorauszufahren. Inzwischen wollte er die Leute nach Hause schicken. 23 Nachdem er sie weggeschickt hatte, stieg er auf einen Berg, um in der Einsamkeit zu beten. Spät am Abend war er immer noch allein auf dem Berg.
24 Das Boot aber war schon viele Stadien vom Land entfernt und wurde von den Wellen hin und her geworfen; denn sie hatten Gegenwind. 25 In der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen; er ging auf dem See. 26 Als ihn die Jünger über den See kommen sahen, erschraken sie, weil sie meinten, es sei ein Gespenst, und sie schrien vor Angst.
27 Doch Jesus begann mit ihnen zu reden und sagte: Habt Vertrauen, ich bin es; fürchtet euch nicht! 28 Darauf erwiderte ihm Petrus: Herr, wenn du es bist, so befiehl, dass ich auf dem Wasser zu dir komme. 29 Jesus sagte: Komm! Da stieg Petrus aus dem Boot und ging über das Wasser auf Jesus zu. 30 Als er aber sah, wie heftig der Wind war, bekam er Angst und begann unterzugehen. Er schrie: Herr, rette mich! 31 Jesus streckte sofort die Hand aus, ergriff ihn und sagte zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? 32 Und als sie ins Boot gestiegen waren, legte sich der Wind.
33 Die Jünger im Boot aber fielen vor Jesus nieder und sagten: Wahrhaftig, du bist Gottes Sohn.
Das Meer, insbesondere wenn es wild und stürmisch ist, trägt in der Bibel immer auch die Erinnerung an das bedrohliche Chaos, in dem Gott erst einen Platz schaffen musste, wo Leben überhaupt gedeihen kann. Das Meer ist sozusagen ein Rest von diesem Chaos, der in der Schöpfung übrig geblieben ist. In der neuen Welt Gottes wird es kein Meer mehr geben, heißt es in der Johannesoffenbarung. Aber jetzt ist das Meer die Quelle der Monster, da steigt Godzilla raus und alle möglichen anderen Bedrohungen. Bis heute benutzen wir für Bedrohungen gerne Bilder, die mit Wasser zu tun haben: eine Welle, eine Flut, ein Strom.
Das Chaos tobt – und Jesus ist mitten drin
Es geht in dieser Geschichte weniger um die Frage: kann denn aus naturwissenschaftlicher Sicht ein Mensch auf dem Wasser gehen?, als um die Begegnung mit dem Chaos, mit dem Zusammenbruch aller verlässlichen Ordnung. Die Jünger in ihrer Nussschale stecken da mitten drin, und ihre Unfallversicherung hilft ihnen auch nicht mehr. Sie werden von den entfesselten Mächten herumgeschleudert wie Kleinanleger beim Börsencrash.
Es gibt in den Evangelien auch noch eine andere Geschichte von den Jüngern im Boot auf dem stürmischen See, aber da ist Jesus mit ihnen im Boot. Er schläft zwar, aber sie wecken ihn und er beruhigt den Sturm. Hier sind sie ohne ihn unterwegs. Aber er kommt, er bahnt sich seinen Weg mitten durch die Erschütterungen, die die Jünger hin und her werfen. Das Chaos ist ausgebrochen, und Jesus geht mitten hinein. Das ist vielleicht die wichtigste Lehre aus dieser Geschichte: Jesus geht dahin, wo es am gefährlichsten ist. So wie er später entschlossen nach Jerusalem gegangen ist, wo er im Konflikt mit der Tempelhierarchie sterben wird.
Vielleicht kann man heute, am Jahrestag des Anschlags auf das World Trade Center, an den Spruch der New Yorker Feuerwehrleute erinnern: »Alle laufen weg – wir laufen hin.« Das ist die Haltung, die Jesus gelebt hat: nicht weglaufen vor den Gefahren – wir können damit in den Nahkampf gehen, im Vertrauen, dass Gott sich am Ende als der Stärkere erweisen wird. Deshalb wird in der anderen Geschichte von der Sturmstillung erzählt, dass Jesus mitten im Sturm zunächst seelenruhig schläft: er hat sich Gott anvertraut und macht sich keine Sorgen.
Die Hilfe wahrnehmen
Aber hier in dieser Geschichte geht er aktiv auf das Chaos zu, das seine Jünger hin und her schleudert. Bloß die finden das zuerst gar nicht gut, sondern das vergrößert ihre Angst noch: sie erkennen die Hilfe nicht, die da auf sie zukommt, und sehen sich stattdessen mit einer weiteren unberechenbaren Macht konfrontiert, einem Gespenst. Was uns Hilfe bringt, das kann auf den ersten Blick wie ein zusätzliches Problem aussehen. Aber dann fängt Jesus an zu reden, und was sagt er? Natürlich: fürchtet euch nicht! Ich bin’s!
Jesus möchte, dass wir nicht nur auf die Gefahren sehen, sondern vor allem ihn sehen, wie er schon längst mit seiner Hilfe in den Gefahren drin ist. Und als Petrus das kapiert, da will er nicht mehr im Boot sitzen bleiben, sondern er will mit Jesus zusammen sein, mitten in der Gefahr. Der Mut von Jesus steckt an.
Komm!
Genau das wollte Jesus auch, und deshalb sagt er zu Petrus: Komm! Komm zu mir mitten in die Erschütterungen hinein! Bau eine Klinik auf, wo die Gesundheitsversorgung zusammengebrochen ist, richte eine Schule und ein Zuhause für Kinder ein, die ohne Eltern in der Welt stehen, rede mit Menschen, die blind sind vor Misstrauen und Feindschaft, geh in Flüchtlingsunterkünfte und in den Behördendschungel, hör dir die schrecklichen Geschichten an, die Menschen zu erzählen haben, entdecke im Wirtschaftschaos den Keim für ein neues, solidarisches Wirtschaftssystem, stütze eine Familie, die zum Spielball von undurchschauten Einflüssen geworden ist, tu Großes oder Kleines, aber: lauf nicht weg! Geh mitten hinein, und du wirst mich finden. Da, wo das Chaos sich austobt und alle weglaufen oder Mauern bauen, da halte Ausschau nach mir! Ich werde bei dir sein, alle Tage, bis ans Ende der Welt.
Liebe Freunde, das ist die Medizin gegen die Angst, die Jesus uns gibt: geh mutig drauf zu, und ich werde mit dir sein. Alles andere sind rosa Pillen.
Angst verliert
Und Petrus macht alles richtig: er läuft nicht allein los, sondern fragt vorher, ob Jesus einverstanden ist, er macht keine Kapriolen auf den Wellen, sondern geht zielstrebig auf Jesus zu. Aber dann macht er einen Fehler: er guckt nicht mehr zu Jesus, sondern auf die Gefahren. Und sofort bricht er ein. Das ist es, was Präsident Roosevelt meinte, als er mitten in der schlimmsten Wirtschaftskrise, die Amerika je erlebt hat, sagte: »Wir haben nichts zu fürchten als unsere Furcht.« Wenn du anfängst, aus Angst zu handeln, dann hast du schon verloren. Es gibt leider ein ganzes politisch-journalistisches Kartell, das hartnäckig daran arbeitet, unseren Blick auf die Gefahren zu lenken, auf die hohen Wellen: Islamisierung des Abendlandes, Kontrollverlust des Staates, Inflation, Schulden, Terror und so weiter. In den Ängsten aus der Studie, von der ich vorhin erzählt habe, spiegelt sich genau diese Angstkommunikation.
Nun würde niemand behaupten, dass da keine Probleme wären (obwohl es ein paar andere Probleme gibt, die unsere Aufmerksamkeit eigentlich mehr brauchen), aber es geht darum, worauf wir unsere Aufmerksamkeit konzentrieren. Wer seinen Blick immer wieder auf die Gefahren lenken lässt, der geht unter. Wir haben nichts zu fürchten als die Furcht selbst. Wer aufhört, mitten im Chaos nach Jesus Ausschau zu halten, der muss dann irgendjemand anderen finden, der ihm gegen seine Furcht Hilfe verspricht, und das geht selten gut. Es gibt immer welche, die die Furcht schüren, um sich dann von der Energie der Furcht an die Macht tragen zu lassen.
Die Stärke der Liebe
Sicher vor Furcht ist niemand. Die Welt ist unsicher genug, die Wellen türmen sich hoch auf. Wenn sich selbst Petrus davon irritieren ließ, dann wird uns das auch passieren. Aber dann sollen wir uns erinnern, dass Jesus da ist, genau da, wo das Chaos zu regieren scheint. Wenn wir nach ihm rufen, wird er uns halten. Er streckt seine Hand nach uns aus, so wie er Petrus rausgezogen hat. Das ist die durchschlagende Antwort auf die Einflüsterungen der Furcht.
Nur so bleiben wir aktionsfähig. Furcht lähmt, und das verstärkt noch das Gefühl der Ohnmacht. Jesus verschafft uns wieder Handlungsspielraum. Er ist ja selbst immer der entscheidende Akteur gewesen, sogar noch am Kreuz. Jesus war nie ohnmächtig, weil er Zugang hatte zu den Lebensquellen Gottes und zur Kraft der Barmherzigkeit. Alle, die sich von Furcht und Abgrenzung und Feindseligkeit leiten lassen, machen die Welt nur noch gefährlicher. Die Lösung ist Barmherzigkeit, Solidarität, Zuwendung, Freiheit, Gerechtigkeit – und das alles verankert in dem großen Ja Gottes zu seiner Welt, das in Jesus Gestalt angenommen hat.
Das Schöne ist: barmherzig und solidarisch sein, das kann jeder. Der eine hat eine größere Reichweite als der andere, aber wir haben alle einen Handlungsspielraum. Und wenn wir den ausschöpfen, dann wächst er. Wenn du dich aufraffst und in eine Situation hineingehst, vor der du am liebsten weglaufen würdest, dann merkst du, wie Möglichkeiten sichtbar werden, von denen du vorher nichts gewusst hast. Wenn man das ein paarmal erlebt hat, dann erwartet man das schon, dann muss man gar nicht mehr so lange alles vorher berechnen, weil man einfach davon ausgeht: Jesus ist da, wo es am stürmischsten ist, und er wird uns zeigen, was wir tun können.
Auch wenn es ernst wird
Eine Sache zum Schluss: alles, was ich gesagt habe, bedeutet nicht, dass wir eine Garantie haben, dass uns nichts passiert. Sich nicht von Furcht leiten zu lassen, bedeutet nicht, dass die Gefahren dieser Welt harmlos wären. Sie sind es nicht, auch wenn die echten Gefahren meistens von ganz woanders drohen, als die Angstmacher uns glauben machen wollen. Eine konsequente Klimapolitik ist viel wichtiger als diese hochgespielte Diskussion um Verschleierung in der Öffentlichkeit.
Aber die Welt ist nicht harmlos, und gerade die Mutigen wissen das. Dietrich Bonhoeffer musste sterben, Martin Luther King bezahlte mit dem Leben für seinen Einsatz für die Rechte der Schwarzen, und ungezählten anderen Christen ist es ebenso gegangen. Aber auch da gilt: wenn die Wellen der Gefahr besonders hoch sind, dann ist Jesus nahe. Auch auf den Tod ist Jesus entschlossen zugegangen. Und auch im Tod hat er den Weg zum Leben gefunden. Von solchen Szenarien sind wir zum Glück noch weit entfernt, aber es ist wichtig zu wissen: sollte es eines Tages auch für uns wirklich ernst werden, dann haben wir auch dafür eine Verheißung. Auch da geht Jesus uns voran und öffnet Wege. Mehr brauchen wir im Augenblick nicht zu wissen.
Die Richtung ist klar: Gott ermutigt uns, in Jesu Nachfolge auf das Dunkle und Chaotische zuzugehen und es von innen heraus zu überwinden. »Fürchtet euch nicht!« Das ist ein zentraler Teil des Evangeliums. Unsere Gesellschaft braucht ihn dringend, die ganze Welt braucht es dringend, dass die Christen für ihren Mut bekannt sind, mit dem sie Jesus dahin folgen, wo die anderen sich von Angst beraten lassen.