Kreative Minderheiten – das Salz der Erde
Predigt im Besonderen Gottesdienst am 17. Juni 2018 mit Matthäus 5,13-16 und Römer 11,1-7
Einleitung:
In der Einleitung wurden verschiedene historische Beispiele vorgestellt, wie Juden und Christen als Minderheiten dennoch erheblichen Einfluss auf ihre Umwelt, sogar auf den Gang der Weltgeschichte hatten.
Predigt:
Zwei Lesungen bildeten den Ausgangspunkt für die Predigt:
Paulus schreibt: 1 Ich frage also: Hat Gott sein Volk verstoßen? Keineswegs! Denn auch ich bin ein Israelit, ein Nachkomme Abrahams, aus dem Stamm Benjamin. 2 Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er einst erwählt hat. Oder wisst ihr nicht, was die Schrift von Elija berichtet? Elija führte Klage gegen Israel und sagte: 3 Herr, sie haben deine Propheten getötet und deine Altäre zerstört. Ich allein bin übrig geblieben, und nun trachten sie auch mir nach dem Leben. 4 Gott aber antwortete ihm: Ich habe siebentausend Männer für mich übrig gelassen, die ihr Knie nicht vor Baal gebeugt haben. 5 Ebenso gibt es auch in der gegenwärtigen Zeit einen Rest, der aus Gnade erwählt ist – 6 aus Gnade, nicht mehr aufgrund von Werken; sonst wäre die Gnade nicht mehr Gnade. 7 Das bedeutet: Was Israel erstrebt, hat nicht das ganze Volk, sondern nur der erwählte Rest erlangt; die übrigen wurden verstockt.
Matthäus 5,13-16:
Jesus sprach: 13 »Ihr seid das Salz der Erde. Wenn jedoch das Salz seine Kraft verliert, womit soll man sie ihm wiedergeben? Es taugt zu nichts anderem mehr, als weggeworfen und von den Leuten zertreten zu werden. 14 Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben. 15 Auch zündet niemand eine Lampe an und stellt sie dann unter ein Gefäß. Im Gegenteil: Man stellt sie auf den Lampenständer, damit sie allen im Haus Licht gibt. 16 So soll auch euer Licht vor den Menschen leuchten: Sie sollen eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.«
Zwei Bibeltexte haben wir gehört: als letztes die eindrückliche Stelle aus der Bergpredigt, wo Jesus seinen Jüngern sagt, sie seien das Licht der Welt und das Salz der Erde. Die beiden Bilder sind ähnlich, aber nicht deckungsgleich, und sie ergänzen sich: »Licht der Welt« beschreibt, wie die Gemeinschaft der Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu Träger der ganzen Welt die Augen öffnen soll, Orientierung geben soll, und sie können das, weil Jesus ihnen seine Botschaft anvertraut. Unter den Jüngerinnen und Jüngern wird die Wahrheit darüber sichtbar, dass die Welt vom göttlichen Segen lebt, der umsonst gegeben und geschenkt wird, und den sollen Menschen ebenfalls weitergeben und nicht wie eine Beute an sich reißen. So entsteht Gerechtigkeit. Das ist die Grundlage von allem.
Auch das Bild vom »Salz« der Erde erinnert daran, dass der Welt etwas Entscheidendes fehlen würde ohne die Botschaft, die mit der Christenheit verbunden ist. Wenn das Salz in der Suppe fehlen würde, dann wäre es keine Freude mehr, sie zu essen.
Toynbees Studien zu kreativen Minoritäten
Aber dieses Bild vom Salz sagt auch etwas darüber, wie die kleine Gruppe, der das Evangelium anvertraut ist, ihren Einfluss ausüben kann – eben als »kreative Minderheit«, die alles um sich herum beeinflusst, gerade weil sie ganz anders ist als der Rest der Gesellschaft.
Dieses Wort von der »Kreativen Minderheit« stammt eigentlich vom englischen Historiker Arnold Joseph Toynbee, der davon ausging, dass Kulturen immer in kleinen Gruppen entstehen, und die Mehrheit schließt sich dem dann an. Diese Minderheiten sind die Eliten, und solange sie kreativ bleiben, geht es der Kultur gut. Wenn sie aber keine Antworten mehr für die Herausforderungen der Welt haben, dann stirbt die Kultur. »Kulturen werden nicht ermordet, sondern begehen Selbstmord« hat er einmal geschrieben.
Wer hat Lösungen?
Dieser Gedanke zeigt uns, wie tatsächlich kleine Gruppen wichtig für das Ganze werden können: nicht durch ihre Größe oder ihre Macht, sondern dadurch, dass sie gute Lösungen für Probleme der ganzen Gesellschaft anbieten. Wenn die Gesellschaft in Schwierigkeiten gerät, dann ist die entscheidende Frage, wer Lösungen anbieten kann.
Und tatsächlich sind im christlichen Umfeld häufig solche Lösungen für die Probleme der Gegenwart entstanden. Manchmal auch ganz ohne dass das beabsichtigt gewesen wäre: die Quäker etwa wollten dem Heiligen Geist Raum geben und nicht einen Beitrag zur modernen Demokratie leisten; aber durch ihre Art der Gemeindeversammlungen haben sie trotzdem genau das getan.
Macht oder Kreativität?
In einem Punkt passt Toynbees Konzept der »Kreativen Minderheiten« allerdings nicht gut zum Christentum: er stellt sich vor, dass diese Minderheiten dann auch die Gesellschaft regieren. Und das hat es auch immer wieder gegeben, dass Christen in Krisenzeiten die Leitung der Gesellschaft übernommen haben, ganz oder teilweise. Am Ende des römischen Imperiums sind oft die Bischöfe in die Rolle von politischen Vertretern einer Stadt hineingerutscht, einfach, weil sonst keiner da war, der das konnte. Oder: am Ende der DDR haben viele Christen in der Übergangszeit wichtige staatliche Aufgaben übernommen, weil man ihnen Vertrauen entgegen gebracht hat und weil sie Erfahrungen mit der Organisation von Gruppen hatten.
Aber es ist gut, wenn sich Christen dann auch wieder von der Macht zurückziehen, weil sich Macht und Kreativität häufig nicht so gut miteinander vertragen. Weltliche Macht bekommt der Kirche nicht; die Versuchung ist zu groß, durch Macht der Gesellschaft etwas aufzuzwingen, anstatt gute, plausible Lösungen aufzuzeigen. Wer Menschen etwas vorschreiben will, und sei es die beste, christlichste, biblischste Lebensweise, wird sie nicht wirklich gewinnen.
Leitbilder und ihre Wirkungen
Das bringt uns dazu, über unser Leitbild von Kirche nachzudenken. Wir kennen Kirche vor allem als eine Institution, der prinzipiell alle Glieder der Gesellschaft angehören. Und selbst heute, wo z.B. bei uns noch etwa gut eine Hälfte der Menschen zu einer christlichen Kirche gehört, würden sich auch viele Nichtmitglieder irgendwie doch noch zugehörig fühlen. Leitbilder sind ja so etwas wie Orientierungsmarken, und wir orientieren uns immer noch an diesem Bild von einer oder auch zwei Kirchen für die ganze Gesellschaft. Und dann geht es immer um die Frage: darf die Kirche den Menschen oder dem Staat etwas vorschreiben, und was, und dann gibt es die Vertreter christlicher Sitte und Ordnung, und es gibt Rebellen gegen die autoritäre Kirche, und es gibt die Witze darüber, wie der kleine Mann unter dem kirchlichen Autoritätsanspruch wegtaucht, und das sind alles einfach keine guten Rollenmodelle. Das sind ganz unfruchtbare, unerfreuliche Konflikte, die entstehen, wenn wir uns an dem Leitbild der Kirche als religiöser und sittlicher Instanz für die ganze Gesellschaft orientieren.
Das Leitbild vom Salz der Erde, der kreativen Minderheit, die Alternativen entwickelt und lebt und Lösungen anbietet, ist da viel produktiver. Es ist aber auch anspruchsvoller. Christlicher Einfluss ist dann nicht ein für allemal festgeschrieben, er ist kein Anspruch, auf den man pochen könnte, sondern er hängt davon ab, ob man liefert. Ob die Jüngerinnen und Jünger Jesu wirklich etwas Gutes anzubieten haben. Es hängt ab von den Diskussionen und Nachdenkprozessen in den Synagogen und Gemeinden, den Reflexionsräumen Gottes, es hängt ab von den guten Ideen vieler einfacher Christen. Es hängt davon ab, ob sich in diesem ganzen Ökosystem des Nachdenkens und des solidarischen Miteinanders das Evangelium tatsächlich in überzeugende Lösungen umsetzt. Und das ist nur begrenzt kontrollierbar. Das hängt auch immer vom unverfügbaren Heiligen Geist ab. Und davon, ob die Gesellschaft gute Lösungen auch erkennt und akzeptiert.
Ein mutigeres Modell
Das ist auf den ersten Blick viel unsicherer als das Modell einer Kirche als religiöse Instanz für die ganze Gesellschaft. Es ist aber viel näher dran an dem Wort Jesu vom Salz der Erde. Und es gibt viel mehr Freiheit. Bei diesem Leitbild muss man nicht immer gleich überlegen, wie man möglichst viele Menschen erreicht, sondern man kann erst einmal versuchen, seine eigene Sache möglichst gut zu machen. Und welche Resonanz das dann findet, kann man getrost Gott überlassen.
Das passt auch gut zusammen mit der Beobachtung, dass sich im Neuen Testament ganz viele Hinweise dazu finden, wie man miteinander lebt, wie man Liebe übt gegen jedermann, wie man die geistliche Stärke einer Gemeinde erhält und wie man sich von Gott immer wieder neu inspirieren lassen soll. Dagegen gibt es so gut wie keine Anweisungen dazu, dass man als Gemeinde versuchen soll, zu wachsen, größer und stärker zu werden und mehr Einfluss zu bekommen. Das kommt dann dazu oder nicht, darum kümmert sich Gott. Es ist nichts, worum wir uns kümmern müssten.
Werdet Hoffnungsträger!
Das passt nun gut zusammen mit der zweiten Bibelstelle, die wir vorhin gehört haben. Erinnern Sie sich noch? Paulus legt im Römerbrief die alte Geschichte vom Propheten Elia aus, der sich bei Gott bitter darüber beklagt, dass Israel sich dem Götzen Baal zugewandt hat. Ja, das kann sogar im Volk Gottes passieren, dass die Mehrheit Gott verfälscht oder gar nichts mehr von ihm wissen will. Aber dann antwortet Gott dem verbitterten Elia: es gibt 7000 Menschen, die treu geblieben sind, dafür habe ich gesorgt. Schau lieber auf die als auf die verirrte Mehrheit!
Selbst in der Minderheit des Volkes Gottes gibt es also noch eine Minderheit, auf die es ankommt. Und man kann es noch weiter zuspitzen: am Ende bestand diese treue Minderheit nur noch aus Jesus, selbst seine Jünger hatten sich am Tag seiner Kreuzigung aus dem Staub gemacht. Aber diese Ein-Mann-Minderheit hat das Entscheidende erreicht. Also Elia, also Paulus, also ihr verzagten Christen zu allen Zeiten: hört auf, die Köpfe zu zählen, hört auf mit dem Jammer darüber, dass die Jugend nicht den Glauben der Mütter und Väter übernimmt, konzentriert euch darauf, eure eigene Sache gut zu machen. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes, durchdenkt sein Wort, durchdenkt euer Leben, lebt miteinander inspiriert von seinem Wort, investiert Zeit, Geld und Kraft, und dann wird Gott euch das Nötige dazugeben.
So lange Gott in seiner Gnade dafür sorgt, dass es da noch einen klaren Rest gibt, eine mutige und zuversichtliche Minderheit, so lange hat Gott die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Und dann sollten wir es auch nicht tun. Gott bringt durch seine kreativen Minderheiten eine ungeheure Dynamik in die Weltgeschichte. Und da wirken nicht nur edle und lautere Motive, es wirken auch fragwürdige Beweggründe wie Neid und Hass. Aber selbst damit kann Gott etwas bewirken. Selbst feindselige Reaktionen auf die Menschen Gottes bringen Gottes Sache voran. Auch Paulus war schließlich einmal ein Feind der Christen, bis Jesus ihn gestoppt hat.
Eine Perspektive nach vorn
Wir sollten uns an einem neuen Leitbild orientieren. Wenn wir am Bild von einer Kirche, zu der alle gehören, festhalten, dann schauen wir depressiv auf die schrumpfenden Zahlen und können nicht viel mehr tun als eine schrumpfende Kirche möglichst effektiv abzuwickeln. Wenn wir uns aber am Bild der kreativen Minderheit orientieren, dann sieht es ganz anders aus. Dann geht es um die Frage: haben wir Lösungen für die Gegenwart? Haben wir etwas zu sagen zu den verbitterten und enttäuschten Menschen, die sich in Feindseligkeit flüchten? Welche Lebensziele kann man verfolgen, die nicht immer mehr Müll, Gift und Feindschaft zur Folge haben? Was ist wirkliche Gerechtigkeit? Bei der Fähigkeit, uns solchen Fragen zu stellen, da haben wir durchaus zugelegt. Da stehen wir gar nicht so schlecht da, und wir können etwas dafür tun, dass es noch besser wird. Da können wir mit dem Heiligen Geist zusammenarbeiten, da sind wir nicht ohnmächtig.
Kreativ bedeutet wörtlich: schöpferisch. Gott hat uns als Mitschöpfer gewollt. Er erschafft mitten unter uns seine neue Welt, und er möchte, dass wir dabei sind. Wenn das auch unsere Priorität ist, dann wird er uns alles dazugeben, was wir brauchen.