Zwei, die sich gefunden haben
Predigt am 4. Oktober 2015 zu Markus 12,28-34
Und es trat zu Jesus einer von den Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Und als er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das höchste Gebot von allen?
Jesus aber antwortete ihm: Das höchste Gebot ist das: »Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften.« Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«. Es ist kein anderes Gebot größer als diese.
Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Meister, du hast wahrhaftig recht geredet! Es ist nur »einer«, und ist kein anderer außer ihm; und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und von allen Kräften, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer.
Als Jesus aber sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen.
Hier haben zwei erkannt, dass sie die Dinge aus der gleichen Perspektive sehen. Jesus hat im Tempel dauernd harte Auseinandersetzungen, und seine Gegner, die versuchen, ihn in die Ecke zu treiben oder ihm etwas Verfängliches zu entlocken, die sehen am Ende immer ganz schön alt aus. Aber hier ist ein Schriftgelehrter, der ihm eine Frage ohne Hintergedanken stellt. Der will es wirklich wissen.
Wachsende Begeisterung
Schon eine ganze Weile hat er Jesus zugehört. Es gab lange Streitgespräche, denn eigentlich wollten seine Kollegen, die anderen Schriftgelehrten, Jesus ja aufs Glatteis führen und ihn damit zu Fall bringen. Aber dieser eine Schriftgelehrte lässt sich ganz auf Jesus ein, beobachtet, denkt nach, freut sich über Jesu gute Antworten.
Jesu Worte bringen etwas in ihm zum Klingen. Vielleicht hat er schon selber immer in diese Richtung gedacht, ohne es je wirklich formulieren zu können. Aber mit jeder Antwort von Jesus wird ihm klarer: genau so ist es. Der sagt genau das Richtige. Er argumentiert genau in die Richtung, wo ich auch immer dachte, dass es langgehen müsste. Aber er bringt es auf den Punkt, er versteht all das von Gott, worüber ich immer nachgegrübelt habe, ohne mir wirklich sicher zu sein.
Voller Freude und Jubel im Herzen ist er ganz auf Jesus und seine Worte konzentriert. Alles andere um ihn herum verblasst und ist nicht mehr wichtig. Deshalb spielt es auch keine Rolle, dass er die Gespräche seiner Kollegen unterbricht und sie jetzt vielleicht komisch gucken oder sauer auf ihn sein könnten. Das ist jetzt überhaupt nicht wichtig. Er will es genau wissen, geht mitten hinein in das Streitgespräch, lässt sich nicht aufhalten.
Einer will es wirklich wissen
Ich hätte mir das dreimal überlegt, ob ich mich in so eine heftige Diskussion einmischen würde. Wahrscheinlich hätte ich Sorge zwischen die Fronten zu geraten um dann plötzlich von beiden Seiten was drüber zu bekommen. Aber mit solchen Gedanken hält sich der Schriftgelehrte gar nicht auf. Er atmet tief durch, geht auf Jesus zu und stellt ihm die Frage, die sich die ganze Zeit schon im seinem Herzen geformt hat.
Er möchte das Zentrum wissen, von dem Jesus her argumentiert. Und deshalb fragt er: welches ist das wichtigste Gebot von allen? Und Jesus antwortet ihm: das höchste Gebot ist das: höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften. Das andre ist dies: du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Es ist kein anderes Gebot größer als diese.
Und was passiert? Statt, dass der Schriftgelehrte sagt: ja aber, auch da ist noch dieses oder jenes zu bedenken, und vielleicht müsste man noch hier und da…. Nein! Nichts in dieser Richtung, kein Schriftgelehrtengebaren, sonder das Gegenteil: Du hast wahrhaftig recht geredet. Und noch mehr: der Schriftgelehrte wiederholt nicht nur Jesu Antwort – er zieht auch gleich Konsequenzen aus dem, was Jesus gesagt hat, nämlich: »das ist mehr als Brandopfer und Schlachtopfer«.
Ein großer Schritt nach vorn
Irgendwie muss der Schriftgelehrte beim Lesen seiner Bibel immer geahnt haben, dass es auch bei den seitenlangen Opferanleitungen im AT immer nur darum geht, dass Menschen mit allem, was sie sind, Gott lieben, und eine der damaligen Zeit und dem damaligen Verständnis entsprechende Form brauchten, um ihren Lobpreis Gott gegenüber auszudrücken. Aber jetzt, das spürt er, jetzt ist die Zeit gekommen, wo man diese Form des Opferns nicht mehr braucht. Nicht das Opfern braucht die Aufmerksamkeit, sondern Gott selbst.
Er erkennt: die wirkliche Bestimmung des Menschen ist es Gott zu lieben, von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und von allen Kräften, und den Nächsten wie sich selbst. Dazu sind wir geschaffen. Das ist unser höchstes Glück. Und Jesus bestätigt das, indem er sagt: du bist nicht fern vom Reich Gottes! Du bist auf dem richtigen Weg! Wer so offen und aufrichtig überlegt, der wird die Dinge finden, nach denen er sucht.
Wie wunderbar, so etwas von Jesus gesagt zu bekommen. Und wie schön zu sehen, dass bei Jesus alles zusammen passt. ER spricht von der Liebe und er ist Liebe. Er lebt das, was er sagt. Er nimmt den Schriftgelehrten voller Liebe an. Der gehört doch eigentlich zu den Gegnern. Das sind die, die in all ihrer Gesetzlichkeit auch die anderen danach beurteilen. Aber Jesus liebt seinen Nächsten, er nimmt ihn ernst, lässt sich ein auf ihn und sieht ihm ins Herz.
Neue Sicht auf die Welt
Und umgekehrt ist es ähnlich: Der Schriftgelehrte lässt sich auf Jesus ein. Er bricht aus seinem üblichen Denken und Tun aus. Keine Gesetzlichkeiten, kein Ja-aber, er hört ganz auf sein Herz und auf das, was Jesus sagt. Und in Jesus begegnet ihm die Liebe Gottes. Er erkennt, dass Gott selbst ihn trägt und »ja« zu ihm sagt.
Ihm, dessen Leben bisher in der Suche nach verbindlichen Regeln für das rechte Handeln bestanden hatte, ging durch Jesu Antwort plötzlich ein Licht auf: Von Gott bin ich gehalten und getragen: von Gott her bekommt mein Leben Sinn: ich bin in dieser Welt nicht allein gelassen. Gott hat sich auf meine Seite gestellt. Das Leben mit Gott ist die Form, die alles andere prägt.
Und weil Jesus das alles wahrnimmt sagt er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Er sieht, dieser Mann hat sich auf die Suche gemacht, hat sich heraus bewegt aus Gesetzlichkeit und Ritual um den einen, den lebendigen und wahren Gott zu finden.
Am Ziel der Schöpfung
Liebe Gemeinde, für das was hier geschieht, hat Gott die Welt geschaffen. Himmel und Erde, Gott und Mensch finden zusammen. Das ist Gottes Hoffnung. Er möchte Gemeinschaft mit uns Menschen. Und so wie Jesus und der Schriftgelehrte hier zusammenwirken, ist das ein Modell dafür, wie Gott und Mensch miteinander umgehen – im allerbesten Fall. So voller gegenseitiger Achtung und Freundlichkeit. Da sind zwei, die ohne Vorurteile aufeinander zugehen und sich wunderbar ergänzen. Es entsteht ein Miteinander in großer Harmonie.
Ihr Lieben, dafür sind wir gemacht. Dafür hat Gott uns in die Welt geliebt – als seine Kinder, als sein Gegenüber. Das ist sein Plan. Ein liebevolles Miteinander. Deshalb wählt Jesus genau diese zwei Gebote aus. 613 Gebote gibt es im Alten Testament. Aber diese sind die wichtigsten: Gott zu lieben und den Nächsten lieben wie sich selbst. Die Liebe hält die Welt zusammen. Auch das gehört zu Gottes Plan.
Aber, wie so oft in der Weltgeschichte, sehen wir gerade ganz heftig was passiert, wenn die Liebe nicht die Basis des Zusammenlebens ist. Schreckliche Kriege, Zerstörung, unendliches Leid, Tausende und Abertausende auf der Flucht, Not und Entbehrung. Wie viel anders könnte die Welt aussehen, wenn alle in Achtung, Respekt und Liebe miteinander umgingen. Es braucht die Liebe – das ist das Höchste. Gottes Liebe ist schon in der Welt, seit Anbeginn an, unsere muss noch dazu kommen.
Aus der Energie der Liebe leben
Deshalb lasst uns als Gottes Leute, als seine Gemeinde dem folgen, was Jesus für das Wichtigste hält: Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen unseren Kräften. Und auch unseren Nächsten lieben wie uns selbst. Das Entscheidende dabei ist, dass wir Gott zu unserem Mittelpunkt machen, dass wir uns beschenken lassen mit seiner Liebe und sie zur Kraftquelle unseres Lebens machen.
Der Schriftgelehrte ahnte tief in seinem Innersten, dass das starre Einhalten von Gesetzen nicht ausreicht. Kopfwissen reicht nicht. Alle Erkenntnis, alles Wissen muss in der Liebe lebendig werden. Es ist wunderbar, sich in Gott geborgen zu fühlen. Es tut unendlich gut, seine Liebe zu spüren. Manchmal ist das Herz ganz voll davon und man möchte durch den Tag tanzen. Und genau diese Liebe und Wärme von Gott macht uns fähig, selbst zu lieben: Gott, unsere Mitmenschen und uns selbst.
Liebe in vielen Gestalten
Liebe ist nicht statisch. Sie will fließen, sich durch die Welt und die Menschen bewegen. Sie ist die Energie in unserem Leben. Gott verschenkt seine Liebe so großzügig. Lasst sie uns also weitergeben. Die Liebe braucht sich auch nicht auf. Das ist wie mit jeder anderen Energie auch. Aus der Physik kennen wir den Energieerhaltungssatz, der besagt, dass Energie nicht verlorengeht. Sie wird verwandelt, z.B. von potentieller Energie in kinetische Energie oder in Wärme und Schall, aber sie verschwindet nicht.
So ist es auch mit der Liebe. Wenn wir von Gott her denken, wenn er unsere Mitte ist, dann wird Liebe verwandelt in Trost und Beistand, in helfende Hände, in Solidarität, in Mut. Diese Liebe befähigt Menschen, für das Gute einzustehen. Liebe wird Gastfreundschaft, Willkommenskultur und vieles mehr.
Wenn Gott in unserem Herzen ist, wenn wir von ihm her denken, dann bekommt alles seinen Sinn. Dann ist jeder Gedanke, jede Tat von unserer Liebe zu Gott geprägt. Und so lieben wir dann auch die Menschen und die anderen Geschöpfe. Und unser ganzes Leben ist durchzogen von der Freude, uns mit ganzem Herzen, all unseren Kräften und allen Gedanken an Gott zu verschenken, nichts zurückzubehalten und alles erneuert und strahlend zurückzubekommen.