Der eine Gott und der ungeteilte Mensch
Predigt am 11. Oktober 2009 zu Markus 12,28-34
28 Und es trat zu Jesus einer von den Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Und als er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das höchste Gebot von allen? 29 Jesus aber antwortete ihm: Das höchste Gebot ist das: »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, 30 und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften« (5.Mose 6,4-5). 31 Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3.Mose 19,18). Es ist kein anderes Gebot größer als diese. 32 Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Meister, du hast wahrhaftig recht geredet! Er ist nur „einer“, und ist kein anderer außer ihm; 33 und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und von allen Kräften, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer. 34 Als Jesus aber sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen.
Da haben zweie erkannt, dass sie die Dinge aus der gleichen Perspektive sehen. Jesus hat im Tempel dauernd harte Auseinandersetzungen, und seine Gegner, die versuchen, ihn in die Ecke zu treiben oder ihm etwas Verfängliches zu entlocken, die sehen am Ende immer ganz schön alt aus. Aber hier ist ein Schriftgelehrter, der ihm eine Frage ohne Hintergedanken stellt: der will es wirklich wissen. Und er bekommt auch eine ganz ernsthafte, offene Antwort.
Der Schriftgelehrte hat ja schon die ganze Zeit zugehört, und ich stelle mir vor, dass er mit jeder Antwort von Jesus, die er hörte, immer begeisterter wurde. Ja! hat er gedacht, genau so ist es! Der sagt genau das Richtige! Ich selbst könnte es nicht so gut sagen, aber Jesus argumentiert genau in die Richtung, wo ich auch immer dachte, dass es langgehen müsste. Aber er bringt es auf den Punkt, und ich merke, dass er all das von Gott versteht, worüber ich immer nachgegrübelt habe, ohne mir wirklich sicher zu sein. Oh, ich könnte ihm stundenlang zuhören!
Und dann sind die andern alle weg, die Jesus in die Falle locken wollten. Und da hat der Schriftgelehrte, der die ganze Zeit mit Jubel im Herzen zugehört hat, seinen großen Augenblick. Er atmet tief durch, geht auf Jesus zu und stellt ihm die Frage, die sich die ganze Zeit schon in seinem Herzen geformt hat. Er möchte das Zentrum wissen, von dem Jesus her argumentiert, und deshalb fragt er: welches ist das wichtigste Gebot von allen?
Verstehen Sie, vielleicht hat er selbst schon lange darüber nachgedacht, hat sich Antworten überlegt, und jetzt möchte er wissen, ob seine Gedanken wirklich in die gleiche Richtung laufen wie die von Jesus. Und Jesus gibt eine ganz ernsthafte Antwort, und der Schriftgelehrte merkt, dass er wirklich in seinen geheimen Gedanken mit Jesus parallel geht, und aus der theologischen Diskussion wird in seiner Antwort ein Lobpreis Gottes:
Er ist nur „einer“, und ist kein anderer außer ihm; 33 und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und von allen Kräften, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer.
Irgendwie hat der Schriftgelehrte in seiner Bibel immer geahnt, dass es auch bei den seitenlangen Opferanleitungen im AT immer nur darum geht, dass Menschen Gott lieben mit allem, was sie sind. Die Opfervorschriften waren eine Hinführung, sie haben den Menschen einer früheren Zeit Ausdrucksmittel entsprechend ihrem Verständnis gegeben, aber jetzt, das spürt er, jetzt ist die Zeit gekommen, um in all den Riten und Vorschriften den Einen zu erkennen, der uns allen näher ist als unser eigenes Herz. Das ist die wirkliche Bestimmung des Menschen. Dazu sind wir geschaffen. Das ist unser höchstes Glück.
Und darauf bekommt er von Jesus die Bestätigung: Du bist nicht fern vom Reich Gottes! Du bist auf dem richtigen Weg! Wer so offen und aufrichtig überlegt, der wird die Dinge finden, nach denen er sucht.
Ist das nicht eine tolle Bestätigung? Möchten Sie das nicht auch mal aus dem Munde Jesu hören? Es ist keineswegs so, dass Jesus die Leute immer korrigiert oder mit ihnen streitet. Es gibt auch die Leute mit dem guten Instinkt und dem reinen Herzen, die einfach merken, wo das Leben zu finden ist und das ehrlich haben möchten, ohne Tricks und Bedingungen, und zu so einem sagt Jesus: ja, richtig, mach weiter, deine Richtung stimmt.
Und in der Art, wie Jesus mit ihm redet, da widerfährt dem Schriftgelehrten eine Begegnung mit dem Gott, den er immer gesucht und geahnt hat. Das ist ja gerade Gottes Hoffnung, dass Mensch und Gott sich so nahe kommen, so unproblematisch zusammen sind wie Jesus und der Schriftgelehrte. Gott möchte Gemeinschaft mit seinen Menschen, und so wie Jesus und der Schriftgelehrte hier zusammenwirken, das ist ein Modell dafür, wie Gott und Mensch miteinander umgehen, wenn es gut läuft. Ein Gespräch voller Freundlichkeit, wo zweie sich wunderbar ergänzen und das schließlich in einer fröhlichen Harmonie endet.
Klar, Jesus ist die Autorität, er ist der Meister, der weiß, was gilt, aber das ist alles so nah und so wenig ehrfürchtig, so wenig von irgendwelchen Demutsgebärden überschattet, weil das alles gar nicht nötig ist. Die ganzen Machtspielchen, die die anderen Gegner Jesu versucht haben, und die auch unsere Kommunikation immer durchziehen, die werden hier überflüssig, weil beide einfach Freude daran haben, die Wahrheit zu finden. Das ist viel wichtiger. So muss das im Paradies gewesen sein, wenn Gott Adam und Eva besuchte und mit ihnen im Garten spazieren ging. Und so bricht hier für einen Augenblick zwischen Jesus und dem Schriftgelehrten die einfache Wahrheit durch: Gott ist Einer, er ist kein vielstimmiger schräger Chor von soundsoviel Göttern, sondern er ist einfach, klar und zugänglich. Und er wartet auf den ebenso klaren Menschen, der von diesem Gegenüber zu dem einen Gott lebt. Und wenn die beiden sich finden, dann hat die Schöpfung ihr Ziel erreicht.
Jesus zitiert in diesem Gespräch das alte Glaubensbekenntnis Israels: höre Israel, der Herr, unser Gott ist einer! Damit ist gemeint, dass es nicht um einen Götterhimmel mit einem Haufen verschiedener Götter geht, die sich irgendwie zusammenraufen müssen wie die Minister einer Regierung, die sich vielleicht untereinander nicht besonders mögen, die ab und zu über die Presse verlauten lassen, wie doof die anderen sind, aber am Ende müssen sie sich irgendwie zusammenraufen, sonst gibt es Ärger mit der Kanzlerin. Die Griechen stellten sich so einen Götterhimmel vor, mit lauter Ressortchefs, der eine war für den Krieg zuständig, Aphrodite für die Liebe, Poseidon fürs Meer, und Zeus versuchte den Laden zusammenzuhalten, aber hatte selbst dauernd Zoff mit Gattin Hera. Und die Menschen mussten irgendwie versuchen, in diesem ganzen Beziehungswirrwarr einen Verbündeten zu finden, der ihre Angelegenheiten vertrat. Das ging so weit, dass im Trojanischen Krieg einige Götter die Griechen und andere die Trojaner unterstützten. Ein verrückter Himmel!
Und demgegenüber sagt die Überlieferung Israels: das kann es doch nicht sein! Soll es etwa im Himmel auch so ein Wirrwarr geben wie in der Politik? Muss man in Sachen Religion etwa auch so tricksen und feilschen wie am Kabinettstisch?
Und stattdessen hat Israel gesagt: unser Gott ist einer, klar, eindeutig, und er ruft nach dem ganzen Menschen, ohne diese ganze kommunikative Zickigkeit, ohne Tricks und Halbheiten, ohne Verschleiern und Verstecken. Und wenn wir uns mit unserer ganzen Existenz an diesem Gott orientieren, dann werden wir auch einheitlich: nicht hin und her gerissen zwischen tausend Interessen, nicht zerrissen zwischen einem Haufen Verpflichtungen, die wir nie ganz einlösen können. Es gibt dann nicht mehrere Wahrheiten, je nachdem, mit wem wir gerade verhandeln, sondern es gibt nur den einen Menschen mit dem einen, ungeteilten Herzen. Im Gegenüber zum ganzen, ungeteilten Gott entsteht der ganze, ungeteilte Mensch.
Vor einigen Jahren gab es ein Buch mit dem netten Titel: »Wer bin ich, und wenn ja, wie viele?« Das ist eine schöne Art, um darauf hinzuweisen, dass wir eben normalerweise gar nicht unbedingt eine einheitliche Persönlichkeit sind, sondern wir sind aufgespalten auf verschiedene Rollen und abhängig davon, mit wem wir es gerade zu tun haben. Aber wenn wir uns auf dieses Gegenüber ausrichten, den einen Gott, dann sind wir eben nicht mehr dauernd in unterschiedlichen Situationen, sondern dann bleibt unser Gegenüber immer derselbe, und er begegnet uns in allem, was wir erleben, und wir erkennen in allem seine Handschrift, und dann werden wir auch einheitlich und klar in uns. Wir werden dann stark, weil wir nicht mehr von der jeweiligen Situation abhängig sind, sondern wir haben es in unterschiedlichen Umgebungen immer mit dem selben Gott zu tun.
Übrigens ist es kein Widerspruch dazu, dass die Christen gesagt haben: dieser Eine Gott birgt in seinem Inneren drei Personen, den Vater, den Sohn – also Jesus – und den Heiligen Geist. Denn diese Drei stehen eben nicht gegeneinander, sondern sind sich total einig. Das ist die Lehre von der Dreieinigkeit Gottes. Die Christen haben sie abgelesen an der Art, wie Jesus mit seinem Vater im Himmel redete: da war kein Gezerre und Gezanke, sondern die beiden waren sich in jeder Lage so einig, dass man sie überhaupt nicht auseinanderdividieren kann.
Und diese Art von klarer, eindeutiger, freundschaftlicher Kommunikation, wie sie in Gott selbst herrscht, die spiegelt sich dann wieder im Gespräch zwischen Jesus und dem Schriftgelehrten. Die spiegelt sich wider in der Art, wie Jesus mit seinen Jüngern lebt. Die spiegelt sich auch wieder in der Art, wie Gruppen von Christen gut, freundschaftlich und klar miteinander kommunizieren ohne Zickigkeit und Beleidigtheiten. Und wenn es nicht so ist, ist das besonders bedauerlich, weil wir ja von dem einen Gott geprägt werden sollen.
Und dann ist es auch klar, weshalb man den Nächsten lieben soll: weil wir eben nur ein Herz haben und nicht gleichzeitig Gott mit ganzem Herzen lieben und uns gegenüber Menschen abschotten können. Eigentlich sind die Gebote, Gott zu lieben und den Nächsten zu lieben, nur ein Gebot, aber unter den Bedingungen unserer zerrissenen Welt, wo die Nächstenliebe faktisch eben nicht automatisch aus der Gottesliebe fließt, da werden es zwei Gebote, und oft genug sind sie auch auseinander gerissen worden. Dass Jesus sie so nahe zusammengebracht hat, war etwas Neues und ist eine seiner bleibenden Wirkungen in der Geschichte. Das ist die Messlatte, an der heute keine große Religion mehr vorbeikommt. Stellen Sie sich vor, eine Religion würde offiziell erklären: du darfst die Menschen ruhig berauben und töten, Hauptsache, du vollziehst deine religiösen Rituale richtig. So eine Religion wäre heute sofort unten durch. De facto kommt das natürlich vor, dass Menschen sich so verhalten, aber das ist nirgendwo mehr offizielle Lehre. Und das ist eine der weltweiten Wirkungen von Jesus. Wir warten aber noch darauf, dass auch die umgekehrte Einsicht sich durchsetzt: du kannst nicht Menschen wirklich lieben, wenn du Gott verachtest oder ablehnst.
Der Schriftgelehrte war voller Freude, als Jesus ihm antwortete. Und das lag nicht nur daran, dass er recht bekommen hatte. Sondern es lag auch an dem Inhalt, in dem beide sich einig waren: es ist schön, ein ganzer Mensch zu sein, und sich mit ganzem Herzen an Gott zu hängen. Denken Sie daran, wie unbefriedigend es im Grunde ist, wenn unser Leben zerrissen ist zwischen lauter unterschiedlichen Pflichten und Interessen. Aber wenn wir es in allen Begegnungen immer mit Gott zu tun haben, bei der Arbeit, zu Hause, beim Arzt, in der Kirche, wenn uns ein Verletzter am Wegrand begegnet, wenn wir über dem Terminkalender brüten, wenn einfach immer Gott unser entscheidender Gegenüber ist, dann kommt eine große Einfachheit ins Leben. Dann bekommt alles Sinn. Dann wissen wir meistens auch, was wir getrost lassen sollen. Dann ist keine Entscheidung ohne Hoffnung. Dann ist jede Tat von unserer Liebe zu Gott geprägt, und so lieben wir dann auch die Menschen und die anderen Geschöpfe. Und unser ganzes Leben ist durchzogen von der Freude, uns mit ganzem Herzen, all unseren Kräften und allen Gedanken an Gott zu verschenken, nichts zurück zu behalten und alles erneuert und strahlend zurück zu bekommen.
»Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, 30 und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften« (5.Mose 6,4-5). 31 Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3.Mose 19,18). Es ist kein anderes Gebot größer als diese.