Reformation durch Bildung: Philipp Melanchthon

Besonderer Gottesdienst am 2. Mai 2010 mit Predigt zu Markus 6,1-6

Der Gottesdienst begann mit dieser Präsentation zum Leben Melanchthons (mit erläuternden Texte können Sie sich die Präsentation hier ansehen und herunterladen).

Predigt:

Vor der Predigt wurden kurze Melanchthon-Texte über Bildung, Wissenschaft und Schulen gelesen:

Es sollen auch die Prediger die Leute vermahnen, ihre Kinder zur Schule zu thun, damit man Leute aufziehe, geschickt zu lehren in der Kirche und sonst zu regieren. Denn es vermeinen Etliche es sei genug für einen Prediger, daß er deutsch lesen könnte. Solches aber ist ein schädlicher Wahn, denn wer Andere lehren soll muß eine große Übung und sonderliche Schicklichkeit haben. Die zu erlangen muß man lange und von Jugend auf lernen. …

Und solcher geschickten Leute bedarf man nicht allein zu der Kirche, sondern auch zu dem weltlichen Regiment, das Gott auch will haben. Darum sollen die Eltern um Gottes willen die Kinder zur Schule thun und sie Gott dem Herrn zurüsten, daß Gott sie andern zu Nutz brauchen könnte.

Die Jugend in den Schulen vernachlässigen, heißet nichts anderes, als den Frühling aus dem Jahre hinweg nehmen. Wahrhaftig die nehmen den Frühling aus dem Jahre hinweg, welche die Schulen verfallen lassen, weil ohne sie die Religion nicht erhalten werden kann. Und schreckliche Finsternisse werden in der ganzen bürgerlichen Gesellschaft die Folge sein, wenn man das Studium der Wissenschaften vernachlässigt.

Das menschliche Leben ist … ohne Kenntnis der Geschichte nichts anderes als … gewissermaßen eine immerdauernde Kindheit, ja sogar eine ständige Finsternis und Blindheit.

Bis jetzt haben wir uns Mühe gegeben, solche Schriftsteller für unsere Schule zu bevorzugen, aus denen die Jugend über die Sprachkenntnis hinaus auch das Wesen der griechischen Wissenschaft erkennt … In den Schulen soll es so gehalten werden, daß man solche Schriftsteller nimmt, die gleichzeitig sowohl Sprachkenntnis als auch den Geist fördern.

Wenn wir nämlich gewisse Richtlinien des sprachlichen Ausdrucks nicht gründlich lernen, können wir weder unsere eigenen Gedanken darlegen, noch die Schriften aus früherer Zeit verstehen.

Wenn die Wissenschaft ausgelöscht ist, geht auch die Kirche völlig zugrunde.

Es kann kein Zweifel bestehen, dass der Lebensform des Lehrens und Lernens das größte Wohlgefallen Gottes gilt.

Die Predigt bezog sich auf den folgenden Text:

Und Jesus ging von dort weg und kam in seine Vaterstadt, und seine Jünger folgten ihm nach.
2 Und als der Sabbat kam, fing er an zu lehren in der Synagoge. Und viele, die zuhörten, verwunderten sich und sprachen: Woher hat er das? Und was ist das für eine Weisheit, die ihm gegeben ist? Und solche mächtigen Taten, die durch seine Hände geschehen? 3 Ist er nicht der Zimmermann, Marias Sohn, und der Bruder des Jakobus und Joses und Judas und Simon? Sind nicht auch seine Schwestern hier bei uns? Und sie ärgerten sich an ihm.
4 Jesus aber sprach zu ihnen: Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterland und bei seinen Verwandten und in seinem Hause. 5 Und er konnte dort nicht eine einzige Tat tun, außer dass er wenigen Kranken die Hände auflegte und sie heilte. 6 Und er wunderte sich über ihren Unglauben. Und er ging rings umher in die Dörfer und lehrte.

Die Reformation – also dieser Aufbruch zu einem erneuerten Christentum, der ab 1517 von den deutschsprachigen Gebieten in Europa ausgegangen ist – , die Reformation war auch in erheblichem Maß eine Bildungsbewegung. Sie war unter anderem auch deshalb möglich, weil mit dem Buchdruck gerade ein neues Massenmedium entstanden war, durch das sich Gedanken und Ideen in Windeseile verbreiten konnten. Auch die Bibel wurde damit zum ersten Mal breiten Schichten der Bevölkerung zugänglich. Und deshalb war es für Luther und die anderen führenden Reformatoren ein zentrales Anliegen, dass die Menschen lesen lernten und mit Büchern vertraut gemacht wurden.

Judentum und Christentum haben, wenn sie gut waren, immer dazu beigetragen, dass Menschen gebildet wurden. Wenn Sie sich erinnern an die Evangelienlesung vorhin: Jesus in der Synagoge von Nazareth. Das ist eine Szene, die im Neuen Testament immer wieder vorkommt. Es gibt noch keine gedruckten Texte, aber handgeschriebene Bibeln, und Woche für Woche wird daraus vorgelesen. Und dann wird darüber diskutiert, in diesem Fall geht es nicht besonders gut aus für Jesus, aber jedenfalls: es gibt in jedem Dorf die Synagoge als Ort der geistigen Auseinandersetzung. Und in der Woche lernen dort die Kinder Lesen und üben sich mit den Bibeltexten. Die Juden waren im Altertum das einzige Volk, wo die Männer alle lesen konnten, und viele Frauen ebenfalls. Auch die einfachen Leute konnten geschriebene Texte verstehen und darüber diskutieren. Und als die Juden sich im ganzen Römischen Reich und darüber hinaus ansiedelten, brachten sie dieses Netzwerk der Synagogen überall hin und wurden dafür bewundert.

Für uns heute ist es selbstverständlich, dass alle Lesen können, aber auch bei uns muss das in jeder Generation wieder neu ganz elementar gelernt werden. Und es geht ja nicht nur darum, dass man einen Text entziffern und vorlesen kann. Man muss den Inhalt eines geschriebenen Textes auch verstehen und darüber reden können. Deshalb gibt es die Aufsätze und Diktate in der Schule, weil da Muster der Argumentation gelernt werden, die man dann irgendwann auch auf andere Themen anwenden kann.

In der Zeit von Luther und Melanchthon waren deshalb Logik und Grammatik und Rhetorik so wichtig, weil man da gelernt hat, was ein Argument ist, in welchem logischen Zusammenhang Tatsachen stehen können, und wann eine Behauptung bewiesen ist. Und man spürt bei vielen Denkern dieser Zeit immer wieder die Begeisterung: wie toll, dass jetzt nach der Zeit des finsteren Mittelalters die Bildung wiederentdeckt wird und uns die ganzen Geistesschätze der Antike wieder zur Verfügung stehen! Wie toll, dass wir jetzt nicht mehr auf mangelhafte Übersetzungen der Bibel angewiesen sind, die wir vielleicht auch nur in Auszügen kennen, sondern dass wir jetzt Zugriff auf die Originaltexte haben und selbst nachschauen können! Wie toll, dass wir jetzt durch den Buchdruck die Bibel und die Kommentare dazu im Haus haben! In jeder Stadt sollte es eine Bücherei geben, damit jeder daraus lernen kann.

Im Mittelalter gab es einen dicken Schmöker, in dem Kernsätze der großen Theologen der Vergangenheit gesammelt waren. Das waren die „Sentenzen“ des Petrus Lombardus. Über Jahrhunderte musste sich jeder Gelehrte am Anfang seiner Laufbahn mit diesem Standardwerk beschäftigen, und viele kamen nie darüber hinaus. Das war sozusagen das Grundwissen aller Gelehrten. Man lernte das teilweise einfach auswendig. Und es kam dann darauf an, im richtigen Moment das richtige Zitat zur Hand zu haben.

Melanchthon hat sich geweigert, mit diesem Buch zu arbeiten. Er wollte keine frisierte Auswahl haben, er wollte das Wissen nicht in mundgerechten Häppchen vorgekaut haben, sondern er wollte mit den Originalquellen arbeiten und sich mit ihnen auseinandersetzen. Es war der Schritt vom Nachsprechen zum Selbstdenken.

Ich weiß nicht, ob wir das heute wirklich noch nachempfinden können, was das damals für eine Befreiung gewesen sein muss, zu lernen und eine ganze neue geistige Welt zu entdecken. Vielleicht ist das heute vergleichbar mit Kindern in Afrika oder Indien, die als erste in ihrer Familie Lesen und Schreiben lernen. Manchmal ist das Klassenzimmer nur ein Baum, unter dem die Kinder auf der Erde sitzen, aber sie sind hochkonzentriert, weil das so ein riesiger Schritt nach vorn ist. Nicht mehr den ganzen Tag Holz sammeln, auf kleinere Geschwister aufpassen oder Ziegen hüten, sondern: Lernen! Eine ganze neue Welt entdecken! Zugang haben zu den Gedanken der ganzen Menschheit!

Das ist ja auch eine große Wertschätzung für Menschen, wenn eine Gesellschaft nicht die Kinder einfach als billige Arbeitskräfte ansieht, sondern in ihre Ausbildung investiert und ihnen damit zeigt: in dir steckt noch viel mehr, und wir tun etwas dafür, dass sich das zeigen kann. Wir trauen dir zu, dass du später eine wichtige Rolle in der Gesellschaft spielen kannst. Vielleicht sind deine Eltern und Großeltern und Vorfahren immer nur einfache Knechte und Mägde gewesen, aber wenn du lernst, stehen dir jetzt alle Türen offen.

So hat Luther immer wieder den Menschen eingeschärft: schickt eure Kinder zur Schule! Habt keine Angst davor, dass sie überqualifiziert werden! Wer nachdenken kann, der macht alles besser, egal, welchen Beruf er mal ergreift. Bildung bedeutet den engen Horizont von Dorf und Schweinestall zu verlassen und eine viel größere Perspektive zu gewinnen. Die Welt verstehen, sie nicht einfach über sich ergehen zu lassen, die eigenen Gedanken ausdrücken können, all das ist eine riesige Befreiung und für die Gesellschaft ein großer Schritt nach vorn.

Luther und Melanchthon haben beide unter der Unbildung ihrer Landsleute richtig gelitten. Luther schreibt immer wieder von den Deutschen, die wie tumbe Holzklötze sind, wie wilde Tiere. Und beide hämmern den Leuten ein: lasst eure Kinder etwas lernen! Schickt sie zur Schule, lasst sie studieren, schickt sie nicht gleich an die Arbeit, sondern lasst sie lernen, das lohnt sich!

Und schon Luther sagt: wieviel Geld gibt man für Soldaten und Kanonen und für den Krieg aus, und dagegen ist ein Lehrergehalt doch ein Klacks. Aber wieviel wirkungsvoller ist das Geld eingesetzt, wenn man es in Bildung investiert! Heute heißt das „Bei der Rüstung sind sie fix, für die Bildung tun sie nix“. Aber die Argumentation selbst ist schon fast 500 Jahre alt.

Und immer gehen da diese beiden Argumentationen parallel: Menschen sollen die Bibel lesen können, sie sollen sich selbst und die Welt im Gegenüber zur Schrift verstehen und ausdrücken; und dann als zweite Schiene: das ist auch total wichtig für die Gesellschaft und ihr Wohlergehen, weil nur Leute, die nachdenken gelernt haben, auch eine komplizierte Gesellschaft organisieren können.

Es ist keine Zufall, dass Judentum und Christentum in ihren guten Zeiten immer so ein enges Verhältnis zur Bildung hatten. Beide kennen den menschenfreundlichen Gott, der mit seinen Leuten in Kontakt kommen will. Und dieser Kontakt mit Gott entwickelt den Menschen, in diesem Gegenüber zu Gott werden die ganzen Möglichkeiten des Menschen nach und nach ans Licht geholt.

Gott holt den Menschen heraus aus seiner Gefangenschaft im täglichen Klein-Klein. Er lässt ihn innehalten und die Welt mit anderen Augen ansehen. Wir sollen immer wieder die täglichen, dringenden Dinge aus der Hand legen und über das Ganze nachdenken. Unser Blick soll immer weiter werden. Dieser Prozess ist noch längst nicht zu Ende. Nur Gott weiß, was noch alles in uns Menschen steckt. Aber deswegen gehören Bildung und Glaube so eng zusammen.

Denken Sie mal an jemanden, der regelmäßig neben seinem Beruf und seinen alltäglichen Beschäftigungen die Bibel studiert! Der lebt in der Perspektive der ganzen Weltgeschichte, angefangen bei den alten Weltreichen der Assyrer und Babylonier bis zum Römischen Reich. Und er hat gelernt, auch die Gegenwart aus dieser Gesamtperspektive zu sehen. Er hat gelernt, sich in die Gedanken von Menschen hineinzuversetzen, die vor Tausenden von Jahren gelebt haben und das mit seinen Erfahrungen zu vergleichen. Vielleicht kommt er nicht immer zu den richtigen Antworten, aber allein die Fragestellung gibt eine Weite des Horizonts, die man anders kaum bekommt.

Glaube bedeutet eine Ermächtigung des Menschen, die Welt von einer neuen Perspektive her zu sehen. Sich zu lösen von den unmittelbaren Zwängen des Alltags. Nicht nur an heute und morgen zu denken, sondern eine längerfristige Perspektive zu haben.

Und deshalb waren Judentum und Christentum immer auch Bildungsbewegungen. Synagogen, Schulen und Kirchen waren Orte des Nachdenkens und Umdenkens, wo auch die einfachen Leute die Gelegenheit hatten, über ihre eintönige Lebenswirklichkeit hinauszudenken. Bildung führt nicht automatisch zum Glauben, aber lebendiger Glaube bringt Bildung mit sich. Und ohne Bildung wird Glaube auf die Dauer provinziell und ängstlich. Es gab auch in der Reformationszeit Strömungen, die sagten: Lasst uns die Menschen nicht mit so viel Bücherwissen verwirren, zuviel Denken ist anstrengend, sondern lasst uns den schlichten Kinderglauben pflegen. Das führt aber dazu, dass Menschen immer so ein bisschen rückständig und wie von gestern wirken. Alle gesellschaftlichen Entwicklungen kommen dann erst 50 Jahre später an. Dabei wollte Gott immer, dass sein Volk durch seine innere Freiheit die Welt besser begreifen kann als alle anderen. Er wollte, dass seine Leute durch ihren weiten Horizont die Spitze der Entwicklung bilden und die anderen von ihnen lernen können.

Deswegen haben Melanchthon und die anderen Reformatoren auf eine breite Volksbildung hingewirkt. Es ging um die Mündigkeit aller, um die es damals nicht sehr gut bestellt war. Luther hatte die Ideen, und Melanchthon hat sie systematisiert und auf breiter Basis organisiert. Aber das konnte er nur, weil für ihn Lernen das Schönste auf der Welt war. Er hat sich den Himmel als Universität vorgestellt.

Bildung bedeutet also nicht einfach nur, dass man bestimmte Fähigkeiten hat, Rechnen, Schreiben, Lesen z.B., sondern es geht darum, Menschen unabhängiger zu machen, und Freiheit gegenüber der jeweiligen Lage zu entwickeln. Wo es diese Perspektive der Freiheit nicht mehr gibt, da wird Schule tatsächlich langweilig und mühsam.

Bildung ist immer etwas Umstrittenes gewesen, weil sie die Menschen einerseits leistungsfähiger macht, effektiver, und das wünschen sich alle Herrscher, dass sie leistungsfähige Untertanen haben, die den Wohlstand des Landes heben und kräftig Steuern zahlen können. Auf der anderen Seite macht Bildung Menschen aber auch mündiger, und das wollen nicht alle Regierungen. Und schließlich macht Bildung Menschen auch wertvoller. Bildung bedeutet: man investiert in Menschen, aber man hat anschließend keine Kontrolle darüber, was die Menschen mit ihrer Bildung machen. Über Maschinen behält man die Kontrolle, über Menschen nicht.

Deswegen hat es bei uns lange die Sorge gegeben: nur nicht so viele Studenten ausbilden! Irgendwer muss doch die praktische Arbeit machen! In manchen Gegenden Deutschlands scheint man heimlich immer noch so zu denken.

Aber wir leben heute in einer Welt, in der das Geld mehr denn je mit dem Kopf verdient wird. Leute, die ihre Muskeln für billiges Geld anbieten, gibt es mehr als genug. Es hat keinen Zweck, wenn wir uns zum Billiglohnland entwickeln, das kann China noch auf lange Zeit besser. Wir werden unseren Lebensstandard langfristig nur sichern können, wenn wir uns auf unser Erbe der Bildung und der Wertschätzung der Menschen besinnen. Wertschätzung und Würde des Menschen, Bildung und Freiheit, das bildet von Gott her eine Einheit. Und man kann nicht auf Dauer das eine ohne das andere haben. Das funktioniert nicht.

Die Reformation geschah in einer Zeit des rasanten Wandels. Amerika war entdeckt und die Welt weitete sich ungeheuer. Neue Medien wie der Buchdruck entstanden und revolutionierten das Denken und die Wissensaneignung. Wissenschaft und Kunst entdeckten ungeahnte Möglichkeiten. Es ist vieles ganz ähnlich wie heute. Aber es fehlt so etwas wie eine Bildungsbewegung, die den Menschen hilft, den Überblick zu behalten und sich den Herausforderungen zu stellen. Wir brauchen diese Leidenschaft für das Lernen, die Begeisterung dafür, neue Welten zu entdecken und mit anderen zu teilen. Glaube muss wieder lernen, dass uns die ganze Welt gehört und wir uns voll Neugier auf sie einlassen sollen.

Und auch da ist es wie bei Luther und Melanchthon: das ist erstens im Sinne Gottes, der die Menschen mit einem enormen Potential geschaffen hat. Und es wäre zweitens auch sehr gut für unsere Gesellschaft: wir brauchen kreative und kluge Leute, wenn wir auch in Zukunft gut leben wollen.

Schreibe einen Kommentar