Es geht um viel größere Dinge
Predigt am 29. August 2010 zu Markus 2,40-45
40 Einmal kam ein Aussätziger zu Jesus, warf sich vor ihm auf die Knie und flehte ihn an: »Wenn du willst, kannst du mich rein machen!« 41 Von tiefem Mitleid ergriffen, streckte Jesus die Hand aus und berührte ihn. »Ich will es«, sagte er, »sei rein!« 42 Im selben Augenblick verschwand der Aussatz, und der Mann war geheilt. 43 Jesus schickte ihn daraufhin sofort weg. 44 »Hüte dich, mit jemand darüber zu sprechen!«, ermahnte er ihn. »Geh stattdessen zum Priester, zeig dich ihm und bring für deine Reinigung das Opfer dar, das Mose vorgeschrieben hat. Das soll ein Zeichen für sie sein.«
45 Der Mann ging weg, doch er fing sofort an, überall zu erzählen, wie er geheilt worden war. Bald war die Sache so bekannt, dass Jesus in keine Stadt mehr gehen konnte, ohne Aufsehen zu erregen. Er hielt sich daher außerhalb der Ortschaften in unbewohnten Gegenden auf, aber auch dort kamen die Leute von überallher zu ihm.
Dass Jesus versucht, seine öffentliche Wirkung zu begrenzen, dieses Motiv finden wir immer wieder im Markusevangelium. Und man fragt sich: warum? Warum versucht Jesus immer wieder, gerade seine stärksten Wunder geheim zu halten? Ist er öffentlichkeitsscheu? Oder ist ihm einfach klar, was für ein Stress das ist, wenn man dauernd im Rampenlicht steht und so viele Leute etwas von einem wollen? Einmal, als er 5000 Leute mit ein paar Broten satt gemacht hat, da wollen sie ihn sogar zum König machen, und er kriegt das rechtzeitig mit und verdrückt sich einfach. Warum? Andere Leute futtern Insekten und lassen sich lächerlich machen, um wenigstens einmal ins Fernsehen zu kommen, und Jesus tut alles, um nicht so bekannt zu werden.
Wenn man diese Geschichte im Original liest, dann hat man beinahe den Eindruck, er hat sich von seinem Mitleid überrumpeln lassen, und als der Mann geheilt ist, da ist Jesus richtig sauer auf ihn, dass der ihn dazu gebracht hat, den Aussatz zu heilen. So nach dem Motto: musstest du mich denn an dieser schwachen Stelle erwischen? Jetzt verschwinde und halte wenigstens den Mund!
Als das passiert ist Jesus noch ziemlich am Anfang seines öffentlichen Wirkens. Er hat schon Kranke geheilt und Dämonen ausgetrieben, die Leute werden auf ihn aufmerksam, aber einen Leprakranken zu heilen, das ist noch mal was ganz anderes. Das wäre heute so, als ob er Menschen schon bei Kopfschmerzen, Rückenproblemen, Depressionen und Grippe geholfen hätte, und jetzt heilt er Krebs. Oder er macht einen AIDS-Kranken wieder gesund. Das ist einfach noch mal eine Klasse höher, wenn man das so sagen will. Lepra, Aussatz, war damals so ziemlich das Schlimmste, was man kriegen konnte; es war ein Todesurteil. Und als Jesus den Kranken heilt, da ahnt er schon, dass er jetzt endgültig in die Schlagzeilen geraten wird.
Nun gab es damals noch gar keine Zeitungen; Neuigkeiten wurden mündlich weitergegeben und besprochen. Wir kennen das ja bis heute, dass man über einen Menschen sagt, er wäre die Dorfzeitung auf zwei Beinen. Und das funktionierte auch sehr gut. Und entsprechend große Aufregung hat der Leprakranke damals auch angerichtet, als er trotz Verbot überall von seiner Heilung erzählte.
Aber warum will Jesus das nicht? Stellen Sie sich nur mal vor, einer von uns würde durch Gebet schwerkranke Menschen, für die es keine Hoffnung mehr gibt, heilen. Und dann würde er interviewt, und die Kranken auch, die Vorgeschichte würde durch Aussagen von Nachbarn und Verwandten dargestellt – wäre das nicht eine tolle Gelegenheit, Gott ins Gespräch zu bringen? Und trotzdem war das für Jesus etwas, was er unbedingt vermeiden wollte. Warum?
Es gibt in der Geschichte einen kleinen Hinweis. Jesus fordert den Kranken ja auf, zu den Priestern zu gehen und sich seine Heilung bestätigen zu lassen. Die Priester waren damals sozusagen das Gesundheitsamt und mussten überprüfen, ob einer wirklich Lepra hatte oder nicht. Und dass einer plötzlich wieder gesund wurde, das ist ihnen bestimmt vorher nie untergekommen. Und Jesus sagt: das soll ihnen ein Zeichen sein! Das erinnert an eine andere Geschichte, wo Jesus Johannes dem Täufer ausrichten lässt: »Blinde sehen, Lahme gehen und Aussätzige werden rein«. Johannes hatte Zweifel bekommen, ob Jesus wirklich der von Gott Gesandte Retter war, und Jesus weist ihn auf die Wunder hin, damit er wieder Zutrauen bekommt. Auch für Johannes sollten die Wunder Jesu ein Zeichen sein: ja, Gott ist wirklich am Werk. Du hast dich nicht getäuscht, auch wenn es länger dauert, als du gedacht hast.
Das heißt: die Wunder sind nicht der Kern der Sache, sondern sie sind nur Hinweise, Wegweiser sozusagen. Wenn auf einem Wegweiser »Hamburg« steht, dann würde auch keiner auf die Idee kommen, dieses Schild selbst wäre Hamburg. Sondern alle wissen, dass das Schild nur ein Hinweis auf Hamburg ist. So sind auch die Wunder Jesu Hinweise, Zeichen. Und Jesus befürchtet, dass die Menschen das verwechseln könnten und immer nur an das eine denken, nämlich an die Wunder. Natürlich sind die Wunder für unbedarfte Beobachter das Wichtigste, aber Jesus weiß: sie sind Zeichen für etwas Größeres und Umfassenderes. Wenn Jesus Kranke heilt, dann soll man verstehen, dass Gott sich auf den Weg gemacht hat, um die ganze Welt zu heilen, und Jesus will nicht sensationslüsterne Gaffer, sondern Jünger, Nachfolger, Menschen, die dabei mitmachen, wenn Gott seine Schöpfung erneuert. Jesus will nicht auf Wunder reduziert werden, nicht weil es schlecht ist, wenn Leprakranke geheilt werden, sondern weil es um noch viel größere Dinge geht. Und die sollen nicht hinter den Wundern verschwinden.
Stellen Sie sich nur mal vor: Jesus redet zu den Menschen, und alle liegen in Wirklichkeit auf der Lauer und denken: hör auf mit den Vorträgen, wir wollen endlich Wunder sehen! Aber Jesus will nicht der Hausarzt werden, er will nicht in die Schublade »Heiler« gesteckt werden, weil die für ihn einfach zu klein ist.
Das Problem ist: Menschen möchten etwas Neues immer in ihr gewohntes Leben integrieren, auch dann, wenn es von Gott kommt. Im Großen und Ganzen soll alles so bleiben, wie es ist, nur das eine oder andere Problem soll verschwinden. Aber Gott möchte das gewohnte Leben nicht so lassen, wie es ist. Er will es erneuern, er will unser Leben vom Kopf auf die Füße stellen, damit es endlich zu Gott passt. Gott erneuert die ganze Welt, und dazu gehört unbedingt auch, dass wir selbst erneuert werden, und das bedeutet manchmal auch, dass wir gesund und körperlich oder seelisch heil werden. Es ist nicht schlecht, durch Gebet oder Berührung geheilt zu werden, zum Glück passiert das bis heute, aber es ist schlecht, nur immer an dieses Eine zu denken. Das ist ein Mosaikstein, der zu einem viel größeren Bild gehört. Deswegen fängt das Vaterunser nicht mit der Bitte um »unser tägliches Brot« an, sondern mit der Bitte darum, dass Gottes Name geheiligt wird und sein Reich kommt.
Jesus ist gekommen, damit sich Gottes Herrschaft auf der Erde ausbreitet und alles erneuert wird und die Schöpfung zurückfindet zu ihrer ursprünglichen Bestimmung. Und ich glaube, dass wir heute Heilungen nicht mehr so intensiv erleben, das hängt damit zusammen, dass wir sie völlig falsch einordnen würden. Und wenn heute tatsächlich Menschen durch die Kraft Gottes geheilt werden, dann ist es fast immer so, dass man es nicht werbewirksam erzählen kann. Ich halte das für keinen Zufall, sondern Gott will verhindern, dass wir die Schwerpunkte verschieben.
Im Verhältnis zu Gott benehmen sich die meisten Menschen so, als ob einer heiratet und dabei nur daran denkt, dass er jetzt endlich jemanden hat, der ihm die Hemden bügelt. Oder jemanden, der ihm das Auto wieder in Gang bringt, wenn die Batterie leer ist. Das kann ja durchaus sein, dass von jetzt an zerknitterte Hemden Vergangenheit sind und eine leere Batterie ihren Schrecken verliert, aber ist das der entscheidende Punkt, wenn man heiratet? Zu heiraten ist eine der ernsthaftesten Krisen, die man überstehen muss, einer der schärfsten Brüche im Leben, das kann jeder bestätigen, der das erlebt hat. Danach bleibt kaum etwas so wie vorher, das ganze Leben wird umgekrempelt, und deswegen segnen wir ja die Brautpaare auch bei der Trauung, damit sie da heil durchkommen. Wenn einer behaupten würde, das Entscheidende beim Heiraten sind die Hemden und die Batterie, dem würden wir sagen: du spinnst! Du hast keine Ahnung, was da wirklich auf dich zukommt!
Aber wenn es um Gott geht, der in die Welt kommt und hier alles umkrempeln will und die paradiesische Lebensqualität wieder herstellen will, die wir uns selbst andeutungsweise kaum vorstellen können, und der in unser Leben kommen will und unser Leben auf eine neue Grundlage stellen will; der uns einen Bruch zumutet, gegen den Heiraten harmlos ist; Gott, der das ganze Koordinatensystem unseres Lebens verschieben will, den reduzieren Menschen in ihrem Denken auf so ein paar Hilfsfunktionen: gebügelte Hemden (also die Verschönerung von Festen und Feiern) und die Batterie (also neue »Kraft für den nächsten Tag«). Da wussten die Juden in der Zeit Jesu noch besser, was sie von Gott zu erwarten hatten, wenn sie auf Wunder scharf waren.
Aber Gott will nicht der sein, der unsere Feiern verschönert, sondern er will uns ganz anderes zu feiern geben; und Gott will nicht der sein, der uns immer wieder neu »Kraft für den Tag gibt«, sondern er will uns rausholen aus der Tretmühle, die uns die Kraft und das Format raubt, und an die wir uns doch mit Leib, Seele und Verträgen gekettet haben. Und Gott will nicht der sein, der mit Wundern die schlimmsten Auswirkungen unserer Irrwege ausbügelt, sondern er will eine Welt schaffen, in der nicht nur Leid und Krankheit Vergangenheit sind, sondern auch Torheit, Angst und Gier.
Aber Gottes Problem ist, dass unsere Vorstellungskraft so klein ist und wir uns etwas radikal anderes überhaupt nicht vorstellen können. Wir können uns nur immer kleine Veränderungen vorstellen, aber nicht eine ganze neue Welt, die anders funktioniert als das, was wir kennen. Deswegen tut Jesus ja Wunder, damit mischt er die Leute auf, damit sie ins Nachdenken kommen, und vielleicht merkt dann der eine oder die andere, dass dahinter noch viel mehr steckt. Aber genauso ist es eben möglich, dass die Leute sich dann an dieser einen Sache festhalten und glauben, das ist es jetzt schon – und nicht mehr Ausschau halten nach der neuen Welt, die mit der Auferstehung Jesu endgültig begonnen hat.
Als wir jetzt diese Veranstaltung über das Verhältnis von Menschen und Tieren gemacht haben, die dann doch erst einmal ausfiel, da ist uns etwas ganz ähnliches passiert: die einen sagten: endlich sagt die Kirche jetzt auch mal was gegen die Hähnchenmastställe! Und die anderen beschwerten sich: jetzt agitiert auch noch die Kirche gegen unsere Hähnchenmastställe! Und in Wirklichkeit geht es darum, dass wir lernen, das Verhältnis zu den Tieren ganz neu in den Blick zu bekommen und uns da umzuorientieren. Das hat dann auch Konsequenzen für die Frage der Massentierhaltung, aber es geht zuerst um viel grundlegendere Fragen. Und es hört noch nicht auf beim Verhältnis Mensch und Tier, sondern dahinter geht es noch einmal um ein neues Denken über die Welt, um weniger gewaltsames und mehr schöpfungsangemessenes Denken. Und das bringt uns am Ende wieder genau zu dem Punkt, um den es Jesus ging, nämlich darum, dass wir mit Gott zusammen in den Spuren Jesu diese Welt von ihren Verletzungen heilen sollen, damit die menschlichen und die nichtmenschlichen Kreaturen nicht länger mehr seufzen und klagen müssen unter der Zerbrochenheit der Welt. Aber versuchen Sie mal, mit dem Thema in die Zeitung zu kommen!
Und trotzdem ist es kein taktischer Trick, um Aufmerksamkeit zu bekommen, wenn wir uns um dieses Thema kümmern, das im Augenblick so viele Menschen bewegt. Genauso wenig wie es ein taktischer Trick war, wenn Jesus Menschen heilte. Seine Motivation war sein tiefstes Mitleid mit diesem entstellten und zerstörten Menschen. Aber kaum hatte er ihn geheilt, da wusste er schon, was das bedeuten würde: alle würden sich auf ihn stürzen mit dem Thema »Heilung von Aussatz«, und sein eigenes Thema, »Das Kommen des Reiches Gottes«, dafür würde sich keiner mehr interessieren. Deswegen geht er in die Einöde, weil er da noch ein bisschen besser die Themen setzen kann, als wenn er in den Städten sozusagen umzingelt ist von den Schlagzeilen und Erwartungen, die ihm entgegengebracht werden.
Es ist gut zu wissen, dass Jesus selbst vor Problemen gestanden hat, die sich auch uns sofort stellen, wenn wir in seinen Spuren gehen. Wir sollen uns deshalb nicht über sie wundern. Wir sollen sie verstehen. Und es könnte sein, dass auch die Wunder unter uns häufiger werden, wenn wir anfangen, die Probleme tiefer zu verstehen und auf uns zu nehmen. Vielleicht kommt Gott dann eines Tages zu dem Schluss, dass wir jetzt dafür bereit sind, dass er uns auch Größeres anvertrauen kann, als wir es jetzt erleben.