Das Ende der Defensive

Predigt am 28. August 2016 zu Markus 1,40-45

Eine Predigt zum gleichen Text mit anderem Schwerpunkt ist hier zu finden.

40  Einmal kam ein Aussätziger zu Jesus, warf sich vor ihm auf die Knie und flehte ihn an: »Wenn du willst, kannst du mich rein machen!« 41  Von tiefem Mitleid ergriffen, streckte Jesus die Hand aus und berührte ihn. »Ich will es«, sagte er, »sei rein!« 42  Im selben Augenblick verschwand der Aussatz, und der Mann war geheilt. 43  Jesus schickte ihn daraufhin sofort weg. 44  »Hüte dich, mit jemand darüber zu sprechen!«, ermahnte er ihn. »Geh stattdessen zum Priester, zeig dich ihm und bring für deine Reinigung das Opfer dar, das Mose vorgeschrieben hat. Das soll ein Zeichen für sie sein.«  45  Der Mann ging weg, doch er fing sofort an, überall zu erzählen, wie er geheilt worden war. Bald war die Sache so bekannt, dass Jesus in keine Stadt mehr gehen konnte, ohne Aufsehen zu erregen. Er hielt sich daher außerhalb der Ortschaften in unbewohnten Gegenden auf, aber auch dort kamen die Leute von überallher zu ihm.

Mit den Begriffen »rein« und »unrein« hat man damals die Welt sortiert. Alles, was unrein war, davon hielt man einen Sicherheitsabstand. Alles Tote war z.B. unrein. Und eben auch der Aussatz, ein Sammelbegriff für alle möglichen Arten von oft ansteckenden Hautkrankheiten. Dazu gehörte auch das, was wir heute Lepra nennen. Man wusste sich damals nicht anders zu helfen, als die Kranke zu isolieren. Wer Aussatz bekam, egal ob König oder Bettler, der musste für den Rest seines Lebens die Gesellschaft der Menschen verlassen.

Die Methode Sicherheitsabstand

Für uns heute haben diese Krankheiten ihren Schrecken verloren; aber die Strategie des Sicherheitsabstandes ist immer noch aktuell: was uns nicht geheuer ist, dazu halten wir Abstand. Das können Menschen sein, die uns komisch vorkommen; das können bestimmte Situationen sein, so dass einer am liebsten kein Krankenhaus betritt oder bestimmte Ecken der Stadt meidet; das können Spinnen oder andere Krabbeltiere sein. Abstand halten ist eine Sicherheitsstrategie, die der Menschheit durchaus beim Überleben geholfen hat.

Das Problem dabei ist, dass es natürlich nicht über vernünftige, wohlabgewogene Überlegung läuft, sondern viel spontaner, emotionaler: du ekelst dich, du fürchtest dich, du hast einen Widerwillen, und gerade wenn es um Menschen geht, dann reagierst du schnell nicht barmherzig, sondern feindselig: damit will ich nichts zu tun haben! Menschen, die schlimm dran sind, werden so auch noch in Isolation getrieben. Das Unglück wird an einer Stelle noch verschärft, damit alle anderen davor geschützt sind. Ja, es ist ein gewisser Schutz, aber das Ganze ist von Angst geprägt, und Angst ist kein guter Ratgeber. Angst macht uns schwach. Wer glaubt, dass er einen Sicherheitsabstand braucht, der bestätigt damit ja, dass er schwach und wehrlos ist, und dann wird er es auch.

Bild: geralt via pixabay, Lizenz: creative commons CC0
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Eine neue Strategie

Bei Jesus stoßen wir auf eine andere Strategie: nicht mehr defensiv Abstand hakten, sondern offensiv das Problem anpacken. Bei dem Aussätzigen ist das ganz wörtlich zu verstehen: Erst lässt Jesus ihn ganz dicht rankommen (eigentlich müsste der einen viel größeren Abstand einhalten), und dann fasst er ihn auch noch an und sagt: werde rein! Jesus wechselt aus der Defensive in die Offensive, er läuft nicht weg oder hält das Problem auf Abstand, er geht darauf zu und löst es. Bisher wurde man unrein, wenn man etwas Unreines berührte; jetzt geht es andersherum: die Reinheit und Gesundheit ist ansteckend.

So hat Jesus das immer gemacht: nicht ausweichen, sondern das Problem anpacken. Und wir haben es bestimmt doch auch schon erlebt, wie gut es ist, nicht mehr wegzulaufen, sondern auf das Problem zuzugehen: einen Menschen mit seinem Verhalten konfrontieren; das Telefongespräch führen, dass schon lange dran war; die Ecke mit dem jahrzehntealten Krempel nicht länger übersehen, sondern sortieren und entsorgen; endlich zum Arzt gehen; sich eben nicht mehr einfach wegducken, sondern den Kampf aufnehmen.

Vielleicht schaffen wir es nicht immer, so furchtlos auf die Welt zuzugehen; und ganz sicher können wir uns nicht mit allen Problemen gleichzeitig auseinandersetzen. Manchmal fallen wir auch zurück in die Defensive. Das passiert, leider, immer wieder. Aber nie sollten wir daraus eine Tugend machen. Das ist nicht die Art Jesu.

Die Welt ist voller Lösungen

Und meistens ist es doch so: wenn du dich rantraust und aufmerksam zuhörst, dann finden sich Lösungen. Manchmal gar nicht die, an die man zuerst gedacht hat, aber irgend­etwas findet sich. Wenn du mit dem Problem wirklich kämpfst, dann tun sich Wege auf. Manchmal entpuppen sich schreckliche Probleme auch einfach als Scheinriesen. Sie kennen Scheinriesen? Die sehen aus der Ferne riesig aus, und je näher man kommt, um so mehr schrumpfen sie zusammen. Hinterher sagt man: das war ja einfach! Hätte ich das nur vorher gewusste! Die Welt ist nicht nur voller Probleme, sie ist auch voller Lösungen. So hat Gott sie geschaffen, und Jesus konnte das sehen.

Aussatz ist natürlich kein Scheinproblem, das einfach so verschwindet. Jesus war einzigartig darin, die Heilungskraft Gottes zu einem Menschen zu lenken. Wir kriegen das meistens nicht so gut hin wie er. Aber von seiner Grundhaltung sollen wir lernen. Im Kern ist er von Anteilnahme geprägt. Das Wort, das da steht und das wir mit »Mitleid« übersetzen bedeutet wörtlich, dass Jesus in seinem Innersten berührt war, »seine Eingeweide zogen sich zusammen« müsste man wörtlich übersetzen. Er hat das Leid dieses Menschen wirklich an sich herangelassen. Und dann hat er ihn geheilt.

Viele Menschen glauben ja, man würde schwach und verletzlich, wenn man das Elend der Welt wirklich an sich ranlässt. Aber bei Jesus ist das gerade die Quelle seiner Vollmacht: weil er Gottes Erbarmen teilt, weil er den Schmerz der Schöpfung als seinen eigenen empfindet, deswegen ist er mit Gott in Übereinstimmung und kann etwas bewegen. Das ist die Haltung, die er uns vorgelebt hat. Und am Ende ist er sogar entschlossen auf den Tod zugegangen, hat ihn erst erlitten und dann besiegt.

Fast unvermeidliche Missverständnisse

Aber bevor sich jetzt so ein Bild von einem sich aufopfernden Jesus festsetzt, der immer im Dienst ist und nie Feierabend hat, sollten wir den Rest unserer Geschichte ansehen: Jesus sagt zu dem Geheilten: hau ab, und kein Wort darüber! Wehe, du erzählst davon! Warum tut er das? Weil er voraussieht, dass natürlich ein Haufen Leute ankommen werden, wenn sich das erst mal rumspricht. Und Jesus hat ziemlich robust dafür gesorgt, dass er nicht den ganzen Tag mit Heilungen beschäftigt ist. Deswegen geht er auch in die Wüste, damit er nicht immer nur auf all die vielen Menschen reagieren muss.

Jesus ist schließlich gekommen, um seiner neuen Art zu leben zum Durchbruch zu verhelfen. Dabei werden auch Leprakranke gesund. Aber auch seine größten Wunder waren immer nur Hinweise auf etwas viel Größeres: auf den neuen Weg, den Gott jetzt unter uns begonnen hat. Das Reich Gottes ist in Reichweite gekommen, das war Jesu zentrale Botschaft. Und als Folge davon werden dann auch Menschen gesund. Aber das ist eine Folge, nicht die Quelle, nicht der zentrale Punkt.

Von damals bis heute wollen Menschen, dass Jesus und das Christentum ihnen helfen, ihr Leben reibungsloser zu leben: weniger Krankheit, mehr seelische Ausgeglichenheit, Befreiung von unangenehmen Gefühlen, manchmal auch Reichtum, Erfolg und heile Familien. Und das bringt einfach die Prioritäten durcheinander. Im Vaterunser steht nicht das tägliche Brot am Anfang, sondern zuerst kommen Gottes Name, Gottes Reich und Gottes Wille. Ich weiß nicht, wie viele Bücher, Kalender und Poster ich schon gesehen habe, auf denen »Kraft für den Tag« verheißen wird. So nach dem Motto: das Leben ist so schwierig, ich komme kaum über die Runden, aber wenn Jesus mir ein bisschen zusätzliche Kraft schenkt, dann schaffe ich es.

Sie denken immer nur an das eine …

Und das passiert ja auch immer wieder. Jesus ist großzügig, aber er ist nicht gekommen, um uns die Tretmühle angenehmer zu machen, damit wir sie besser ertragen. Jesus will uns aus der Tretmühle befreien, aus unserem begrenzten Horizont, aus schiefen Lebensanschauungen, aus destruktiven Familiensystemen, die viel Kraft kosten, von der Herrschaft der Mächte, denen wir dienen, und die uns die Kraft abziehen. Jesus will uns zeigen, dass es eine Welt außerhalb der Tretmühle gibt, dass wir nicht hoffnungslos ans Rad gekettet sind, auch wenn wir uns irgendwie schon damit arrangiert haben. Jesus bringt die neue Welt, in der es nicht mehr mühsam und schmerzlich zu leben ist. Das hilft uns auch schon mitten in der alten Welt, aber das ist nicht das Zentrum von dem, worum es Jesus geht. Wir müssen die Hauptsache, den Kern, unterscheiden von den Folgen und Ausstrahlungen, die das dann auch hat.

Jesus ist extra aus den Städten rausgegangen, weil er da so eingekesselt war, so von Menschen und ihren Erwartungen und Wünschen umgeben, dass er seine eigentliche Sache gar nicht mehr loswerden konnte. So ähnlich ist es lange Zeit den Päpsten gegangen: wenn die was sagten, egal was, dann haben alle nur an Sex gedacht, an Pille, Zölibat, Missbrauch, Ehescheidung, Homosexualität und so weiter. Bei Jesus war es so, dass die Leute oft nur Wunder im Kopf hatten, wenn sie zu ihm kamen, und er musste sie da immer wieder raus bringen, damit sie ihm auch zuhörten, auch wenn gerade keiner geheilt wurde und Jesus »nur« von der königlichen Herrschaft Gottes sprach.

Zur Freiheit berufen

Aber das ist der Kern: Gott holt sich die Herrschaft über seine Welt zurück. Er macht das durch Jesus und durch alle, die Jesus nachfolgen. Vorhin haben wir es in der Lesung (Römer 8,14-17) gehört: wer in der Kraft des Heiligen Geistes als Sohn und Tochter Gottes durch die Welt geht, der ist Erbe. Alles, was uns begegnet, ist unser Erbteil. Wir sind dazu berufen, diese Welt zu regieren. Wir sind dazu berufen, königliche Menschen zu sein, die nicht weglaufen. Im Moment üben wir noch, Gott bereitet uns darauf vor, unser Erbteil anzutreten. Und wir sollen alle Möglichkeiten nutzen, in uns diese Grundhaltung zu befestigen: da ist nichts, wovor ich mich fürchten müsste, sondern ich kann klären, ich kann heilen. Wir müssen uns nicht irgendwie durchwursteln, wir müssen nicht mit letzter Kraft im Tretrad laufen, sondern wir sagen zum Tretrad »und tschüß«. Wir sind frei. Freiheit kann sehr anstrengend sein, sie kann gefährlich sein, aber der Sklavengeist ist viel ermüdender. Er macht uns klein und wehrlos. Er macht uns ängstlich und beschränkt. Der Geist Gottes fordert uns heraus, frei und souverän zu werden.

Menschen, die von diesem Geist erfüllt waren, haben dann irgendwann auch Gesundheitsversorgung aufgebaut und Medikamente gegen Lepra entwickelt und vieles andere mehr. Diese Freiheit hat Menschen inspiriert, sich nicht mehr defensiv zu verschanzen, sondern auf die Probleme zuzugehen und sich damit auseinanderzusetzen. Menschen aus anderen Ländern und Kulturen werden aus einer vermuteten Bedrohung zu Freunden. Menschen, die die Gesellschaft mit ihren Problemen allein lässt, werden zu Botschaftern der neuen Schöpfung.

Aber diese neue Schöpfung ist der Kern, weniger würde uns nicht wirklich helfen. Wir sollen aufhören, Gott irgendwo in unser Leben einzubauen und uns stattdessen von Gott in sein Reich einbauen lassen, als lebendige Steine, aus denen er seine neue Welt baut. Dann werden wir sehen, wie rings um uns herum die Möglichkeiten und Lösungen aufblühen und wachsen.

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