Das einfache Gebet
Predigt am 9. August 2009 zu Markus 1,9-15 (Predigtreihe Beten 4)
9 In jener Zeit kam auch Jesus aus Nazaret in Galiläa zu Johannes und ließ sich im Jordan von ihm taufen. 10 Als er aus dem Wasser stieg, sah er, wie der Himmel aufriss und der Geist ´Gottes` wie eine Taube auf ihn herabkam. 11 Und aus dem Himmel sprach eine Stimme: »Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Freude.« 12 Danach wurde Jesus vom Geist gedrängt, in die Wüste hinauszugehen. 13 Dort blieb er vierzig Tage und wurde vom Satan versucht. Er war bei den wilden Tieren, und die Engel dienten ihm.
14 Nachdem Johannes gefangen genommen worden war, ging Jesus nach Galiläa und verkündete dort die Botschaft Gottes. 15 Er sagte: »Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt diese gute Botschaft!«
Es ist erstaunlich: wenn davon erzählt wird, wie Jesus allein betet, dann ist er eigentlich fast immer draußen. Auf einem Berg oder draußen an einem einsamen Ort oder in Jerusalem wenigstens im Garten Gethsemane. Und eben in der Lesung haben wir davon gehört, wie Jesus entscheidende geistliche Prozesse in der Wüste erlebt. Vielleicht kann mich einer korrigieren, aber mir fällt keine Stelle ein, wo Jesus allein in einem Haus betet. Mit anderen zusammen beim Essen betet er natürlich auch im Haus, vielleicht hat er ja auch manchmal allein im Haus gebetet, aber erzählt wird davon, glaube ich, nie. Bei Jesus finden geistliche Prozesse anscheinend so gut wie immer draußen statt, und das kann kein Zufall sein.
Eben haben wir ja gehört, wie Jesus getauft wird – natürlich draußen. Da kommt der Heilige Geist auf ihn, Jesus ist der erste Mensch, auf den der Geist in Fülle kommt und bei dem er dauerhaft bleibt. Und was macht der Geist mit Jesus als erstes? Er führt ihn in die Wüste.
Die Wüste ist ein ganz besonderer Ort. Da ist gar nichts. Da sind Menschen ganz mit sich selbst konfrontiert. Es gibt keine Ablenkungen. Es gibt keine anderen Menschen, auf die man irgendwie wirken könnte. Und wenn man wie Jesus fastet, dann fehlt einem selbst das wohlige Gefühl im Magen, wenn man satt ist. In der Wüste zu fasten, das bedeutet: da lässt ein Mensch alles hinter sich, was Menschen sonst Sicherheit gibt. Wenn man fastet, oder wenn man allein ist, oder an einem Ort ist, wo es gar nichts gibt, dann hat man nichts, womit man sich beschäftigen könnte, man hat nichts, was unangenehme Gefühle jeder Art überdecken kann. Die Wüste fragt einen Menschen, wer er wirklich ist.
Entscheidende Ereignisse in der Geschichte des Gottesvolkes passierten in der Wüste: Mose wurde in der Wüste beim brennenden Dornbusch berufen. Das Volk Israel wanderte 40 Jahre in der Wüste, und da wurde es aus einem Haufen feiger Sklaven zu einem freien Volk. Die Propheten reden von einer Rückkehr in die Wüste, wo nur Gott und das Volk beieinander sind.
Die Wüste ist eben auch der Ort, wo sich nur noch wenig zwischen Gott und die Menschen dazwischenschiebt. Vielleicht ist das überhaupt der Grund, weshalb Jesus herausgeht aus den Städten in die Natur: da ist er nicht von Menschen und ihren Produkten umgeben.
Denken Sie mal zurück an das Paradies: nach einer langen guten Zeit dort aßen die Menschen vom verbotenen Baum – mit den bekannten Folgen, dass wir heute nicht mehr im Paradies leben, sondern auf einer beschädigten Erde, wo man sein Brot mit Mühe verdienen muss, und wo Missverständnisse und Misstrauen das Zusammenleben immer wieder schwer machen.
Die Frucht, zu der die Menschen griffen, hing am Baum der Erkenntnis. Das Motiv war Misstrauen: Gott will uns anscheinend etwas vorenthalten. Nein, wir werden nicht mehr die Welt einfach als Geschenk von ihm entgegennehmen. Nein, wir wollen selbst wissen. Nein, wir wollen uns selbst überzeugen. Nein, wir nehmen die Sache in unsere Hände. Wir wollen es wissen.
Und was passiert, wenn die Menschen die Dinge in die eigenen Hände nehmen wollen? Sie haben schrecklich viel zu tun. Sie sind immer unterwegs, ihr Terminkalender reicht nie aus, der Stress macht sie krank. Sie wollen sein wie Gott, und deshalb haben sie schrecklich viel zu tun. Stellen Sie sich mal vor: schon damals fand Jesus anscheinend, dass in den Städten seiner Zeit viel zu viel Hektik war, zu viele Sorgen und zu viel Unruhe. Was würde er heute wohl sagen?
Aber in der Wüste gibt es keine Hektik. Ja, heute gibt es wahrscheinlich auch dort Hektik, aber wenn sich einer in die Wüste zurückzieht, dann findet er dort immer noch diese Leere, in der nichts passiert. Und in dieser Leere kann Gott wieder die Regie übernehmen. Als Jesu in die Wüste geht, da heißt es wörtlich: der Geist trieb ihn hinaus in die Wüste. Im einfachen Gebet geht es darum, dass Gott in unserem Herzen die Regie übernimmt. Es ist nicht so, dass wir dann nichts mehr zu tun hätten. Jesus wird sich ja in der Wüste mit dem Satan auseinandersetzen, und das ist ganz klar Jesus, der das tut.
Aber im einfachen Gebet geht es darum, dass wir die Kontrolle abgeben und Gott erlauben, an unserem Herzen zu arbeiten. Als Folge des Sündenfalles sind wir ja nicht nur dauernd beschäftigt, sondern wir versuchen auch immer die Kontrolle über die Situation zu haben: dass wir genug zu essen haben und zur Sicherheit auch noch einen zusätzlichen Vorrat, dass wir uns wehren können und auf alle möglichen Angriffe vorbereitet sind; wir wollen die Kontrolle darüber haben, dass Menschen uns lieben; und sogar die Kontrolle darüber, dass wir selbst gute Menschen sind. Wer alles kontrollieren will, der ist schrecklich beschäftigt. Kontrolle und Stress sind zwei Seiten einer Medaille.
Nur würden wir zu kurz greifen, wenn das als Charakterproblem ansehen. Natürlich gibt es Leute mit einem ausgesprochenen Kontrolletti-Charakter, die immer gleich fragen: ist das auch versichert? Hast du auch alles überlegt? Aber noch viel stärker steckt die Kontrolle in uns allen drin als eine Lebensart, die unser ganzes Denken durchzieht. In unserem Kopf dreht sich in jedem Augenblick ein Karussell von Gedanken und Empfindungen, das nie zur Ruhe kommt. Im Extremfall kann das so weit gehen, dass Menschen todmüde sind vor lauter Arbeit, aber nicht schlafen können, weil sich die Gedanken immer weiter drehen. Oder setzen Sie sich nur mal in Ruhe hin und achten Sie auf Ihre Gedanken, und Sie werden merken, dass Sie in Ihrem Kopf einen Baum voller Affen haben, die sich fröhlich durcheinander von Ast zu Ast schwingen. Sie werden es noch nicht mal durchhalten können, längere Zeit auf Ihre Gedanken zu achten, sondern Sie verlieren sich immer wieder in den Gedanken und auf einmal fällt Ihnen ein: ach ja, ich wollte doch auf meine Gedanken achten! Und wo war ich jetzt gerade?
Die Wüste ist der Ort, wo Menschen diese Unruhe in sich zuerst ganz deutlich spüren, aber dann kommt sie langsam zur Ruhe, weil es draußen so leer und ruhig ist, dass es auch auf die Gedanken abfärbt. Die bekommen von draußen einfach keinen Nachschub mehr, und dann geht dem Gedankenkarussell langsam der Treibstoff aus. Und dann entsteht da ein Raum, in dem der Heilige Geist etwas tun kann.
Solange dieser endlose Schwall von Ideen, Planungen, Assoziationen, Befürchtungen und Fantasien in uns herrscht, so lange ist da kein Raum für den Geist Gottes. Denn dieser endlose Schwall ist ja die Folge des Misstrauens gegenüber Gott. Das Misstrauen hat sich sozusagen in eine Gehirnstruktur, in eine Denkgewohnheit umgesetzt, und die hindert uns daran, uns Gott anzuvertrauen.
Im Laufe der Zeit sind viele Wege entdeckt worden, auf denen man diesem Strom entkommen kann. Oft sind daraus geistliche Übungen geworden, durch die man seine Aufmerksamkeit immer stärker von den gegenwärtigen Sorgen und Gedanken abzieht und dadurch Gottes Geist einen Raum anbietet, in dem er in uns wirken kann. Aber im Prinzip sind das alles Wege, in unserem Leben Wüstenzeiten zu entwickeln. Nicht jeder kann für 40 Tage in die Wüste gehen wie Jesus, aber jeder kann solche Zeiten in sein Leben einbauen. Jeder kann, wenn er wirklich will, eine halbe oder ganze Stunde am Tag dafür finden oder sich immer mal wieder für einen Tag oder ein Wochenende zurückziehen. Viele tun das sowieso ganz spontan, ohne darüber nachzudenken, weil sie merken, dass es ihnen gut tut. Sie gehen raus oder manche fahren auch auf einen Parkplatz, halten kurz an und atmen tief durch. Das ist aber schon selten. Noch seltener ist es, wenn wir einen Verkehrsstau willkommen heißen als solch eine Unterbrechung – Stau auf der Autobahn mit gleichzeitigem Zusammenbruch des Handynetzes ist vermutlich das, was in unserer Erfahrung der Wüste am nächsten kommt. Sogar eine rote Ampel kann zu einem Freiraum von ein paar Sekunden werden. Aber natürlich kann man dabei auch innerlich auf 180 gehen.
Aber wer wirklich solche Wüstenzeiten in sein Leben einbauen will, der kann sich nicht von Ampeln und Verkehrsstaus abhängig machen. Der muss das aktiv wollen, und in unserer Welt, wie sie nun mal ist, geht das eben nicht ohne Planung und Überlegung: wie organisiere ich meinen Tag, um Zeiten einzubauen, wo mich keiner stört und ich lernen kann, in mir eine Leere für Gott entstehen zu lassen?
Und das geht im Prinzip immer nach dem Muster: wir konzentrieren unsere Aufmerksamkeit auf etwas Einfaches, aber Gutes: die Natur, ein Bild oder ein Kunstwerk, ein Wort, einen Satz, unseren Atem – irgendetwas, das in uns nicht gleich wieder viele Emotionen hervorruft, sondern dem wir unsere ruhige Aufmerksamkeit schenken können. Und damit entziehen wir dem Gedankenstrom die Energie, die er aus unserer Aufmerksamkeit zieht. Wir bekämpfen ihn nicht, weil man Gedanken nicht mit Gedanken bekämpfen kann, aber wir entziehen ihm unsere Energie.
Man kann das in einem Gottesdienst schlecht üben, aber ich hoffe, dass wir in diesem Herbst dazu in der Gemeinde etwas anbieten können, wo man das einüben kann.
Mit solchen Übungen schaffen wir einen Raum, in dem passieren kann, was Paulus im Römerbrief so beschreibt:
15 Denn der Geist, den ihr empfangen habt, macht euch nicht zu Sklaven, sodass ihr von neuem in Angst und Furcht leben müsstet; er hat euch zu Söhnen und Töchtern gemacht, und durch ihn rufen wir, ´wenn wir beten`: »Abba, Vater!« 16 Ja, der Geist selbst bezeugt es uns in unserem Innersten, dass wir Gottes Kinder sind. (Römer 8,15-16)
Paulus sagt: wenn wir so vertrauensvoll beten können, dann ist das ein Zeichen, dass in uns der Heilige Geist lebt, der Geist Jesu. Eigentlich ist er es, der dann betet. Und ein paar Verse später schreibt er:
26 Und auch der Geist ´Gottes` tritt mit Flehen und Seufzen für uns ein; er bringt das zum Ausdruck, was wir mit unseren Worten nicht sagen können. Auf diese Weise kommt er uns in unserer Schwachheit zu Hilfe, weil wir ja gar nicht wissen, wie wir beten sollen, um richtig zu beten. 27 Und Gott, der alles durchforscht, was im Herzen des Menschen vorgeht, weiß, was der Geist ´mit seinem Flehen und Seufzen sagen` will; denn der Geist tritt für die, die zu Gott gehören, so ein, wie es vor Gott richtig ist. (Römer 8,26-27)
Das heißt: eigentlich können wir gar nicht richtig beten, wir sind viel zu entfremdet von der eigentlichen Art, wie Menschen und Gott miteinander reden müssten. Aber Gott sendet seinen Geist, und wenn der in unserem Herzen einen Raum findet, dann vertritt er uns, er betet für uns, und Gott lässt es als unser Gebet gelten.
Das hat dann in den frühen Gemeinde seinen Ausdruck gefunden im sogenannten Zungenreden, der Glossolalie oder Sprachengebet, oder wie man es nennen will, wo Menschen sozusagen unter Ausschaltung unserer normalen Denkwerkzeuge und Begriffe direkt mit Gott kommuniziert haben. Das war auch so ein einfaches Gebet, nur dass es dazu gar keine individuellen Übungen brauchte, sondern das Umfeld der Gemeinde reichte schon aus, dass jedenfalls manche mit diesem einfachen Gebet ganz ohne Worte beteten.
Wobei man an Jesus sieht, dass da nicht nur eine große Gottesnähe entstehen kann, sondern wenn wir ganz ohne den Schutz unserer täglichen Routine und Denkstruktur sind, dann melden sich auch die dunklen Seiten der Welt bei uns. Jesus wird in seiner Wüstenzeit mit dem Satan konfrontiert, und der bietet alles auf, um ihn doch noch zurückzuholen in sein Herrschaftsgebiet: er lockt ihn mit Geld, Ruhm und Macht. Und in all dem versucht er ihn dahin zu bringen, dass er den Fehler der ersten Menschen wiederholt und Kontrolle ausübt über Dinge, die man eigentlich aus Gottes Hand als Geschenk entgegennehmen sollte. Aber Jesus besteht die Versuchung und weist den Bösen zurück. Und anschließend kommen die Engel und geben ihm tatsächlich alles, was er braucht.
Das ist der Moment, wo Jesus aus der Wüste zurückkehrt und anfängt, das Evangelium zu predigen. Jesus ging aus der Auseinandersetzung mit dem Bösen gestärkt hervor. Er wusste jetzt, wer er war. Erst so wurde er der Jesus, den wir kennen. Erst danach war er so weit, dass die Dämonen vor ihm Reißaus nahmen, weil sie wussten, dass sich sogar ihr oberster Chef an ihm die Zähne ausgebissen hatte.
Wir sehen, dass Jesus nicht in der Wüste geblieben ist. Es hat damals auch Wüstenmönche gegeben, aber Jesus gehörte nicht zu ihnen. Er blieb nicht sein Leben lang in der Wüste, aber er erneuerte immer wieder draußen in der Einsamkeit diese Wüstenerfahrung. Er trug diese Erfahrung in seinem Herzen, und er ließ nicht zu, dass sie allmählich wieder vom Alltag überwuchert wurde. In ihm floss diese Lebensquelle, und wohin er kam, dorthin brachte er sie mit.
Wenn wir darauf achten, dass wir Gott regelmäßig solche leeren Zeiten anbieten, die er mit seinem Geist erfüllen kann, dann leben wir allmählich mit einem tiefen Frieden in unserem Innern. Daran denkt Jesus, wenn er sagt:
Ich habe euch das alles gesagt, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt werdet ihr hart bedrängt. Doch ihr braucht euch nicht zu fürchten: Ich habe die Welt besiegt.« (Joh. 16,33)
Mitten in Angriffen, Sorgen und Gefahren können wir Zuflucht nehmen zu diesem Raum des Friedens in uns, in dem Gottes Geist wohnt, und zu dem die Gedanken voll Sorge und Kontrolle nicht vordringen.
Es gibt andere Gebete, in denen wir nachdenken oder argumentieren, wo wir Gebetslisten durchbeten oder Gott danke sagen, und das ist alles ok. Natürlich gebrauchen wir da unseren Verstand und die Denkwerkzeuge, die von Kontrolle und Bedenken beeinflusst sind, das geht gar nicht anders.
Das einfache Gebet lässt das alles hinter sich und ist eigentlich nur noch ein geduldiges Hinschauen zu Gott und das Warten auf das, was er tut. Wir legen auch unsere Gedanken aus der Hand. Wir erwarten noch nicht mal besondere Emotionen. Es ist eine Wüstenzeit. Aber sie bewirkt einen großen inneren Frieden, der allmählich das ganze Leben durchdringt und dann wie eine Musik im Hintergrund bleibt. Und das ist auf die Dauer eine viel stärkere umgestaltende Kraft als Nachdenken und gute Vorsätze. Es nimmt dem Bösen und dem Misstrauen einfach den Brennstoff weg. Es bewirkt ein Reifen, das gründlicher ist als wohldurchdachte Verarbeitung. Noch besser ist es, wenn beides zusammen geht. Wenn wir lernen, diesen Ort des Friedens in uns zu finden, zu stärken und aus ihm zu leben, dann kann das uns und unsere Umgebung viel mehr umgestalten als alles andere.