Spielräume nutzen – die Schöpfung behüten

Besonderer Gottesdienst am 15. Mai 2011 mit Predigt zu Lukas 18,35-43

Der Gottesdienst begann mit einer Theaterszene, in der es um Umstellung auf grünen Strom ging. In der Begrüßung wurden die Spielräume thematisiert, die jeder Mensch hat. Im Schlussteil der Predigt gab es eine Musik-Dia-Präsentation zu Psalm 19.

Theaterszene „Spielräume“ (pdf 66 kB)

Begrüßung:

Ist das wirklich so? Dass manche sich eher auf das Abenteuer eines Telefonanbieterwechsels einlassen als auf den vergleichsweise unkomplizierten Wechsel zu grünem Strom? Ich begrüße Sie und Euch herzlich zu unserem Besonderen Gottesdienst »Spielräume nutzen – die Schöpfung behüten«. Gottes Friede sei mit euch allen!

Es geht in diesem Gottesdienst um Spielräume, die wir haben, aber selten wirklich ausnutzen. Man kann das ganze Wirken Jesu unter den Menschen auch so beschreiben, dass er uns neue Spielräume geöffnet hat, die durch die Abkehr der Menschen von Gott verloren gegangen waren. Solche Einengung geschieht einerseits im Denken: wir lassen uns Denkmöglichkeiten nehmen, wir denken nicht über das hinaus, was wir kennen; wir begrenzen uns selbst auf das, was uns gewohnt erscheint und nennen das normal und realistisch. Und andererseits: wenn viele so denken, dann verselbständigt sich das, dann wird da eine ganze Struktur draus, und dann ist es für den Einzelnen ganz schwierig, da herauszukommen.

Das war ja eben in der Szene das Verrückte: dass da jemand das Abenteuer auf sich nimmt und seine Telefonfirma wechselt, um ein bisschen Geld zu sparen, aber er scheut sich zurück vor dem ganz risikolosen Wechsel zu Ökostrom. Aber in unseren Köpfen ist das eine ein normales Verhalten und das andere irgendwie abenteuerlich und gewöhnungsbedürftig. Und das führt dann am Ende dazu, dass zwar die große Mehrheit aller Deutschen über viele Jahre ganz stabil die Atomenergie abgelehnt hat, aber nur sehr wenige haben das in ihr persönliches Verhalten umgesetzt und haben tatsächlich aus Überzeugungsgründen den Stromanbieter gewechselt.

Man kann das jetzt den Menschen in die Schuhe schieben, man kann sagen: na bitte, das ist eine Luxusgesinnung, die Menschen sich leisten, und in Wirklichkeit schauen sie doch nur aufs Geld. »Wir« wollen doch alle den billigen Strom oder das billige Fleisch.

Man kann aber auch zu einem realistischen Bild des Menschen kommen und sagen: wir handeln eben nicht sehr rational, wir sind abhängig von Mächten, mit denen wir uns nicht gerne anlegen. So wie die Mutter vorhin in der Szene es gar nicht wirklich begründen konnte, weshalb sie bei dem Strom bleiben wollte, den alle anderen anscheinend haben. Aber es war deutlich: einfach deswegen etwas Ungewöhnliches tun, weil es richtig ist, das war ihr nicht geheuer. Das konnte sie sich nicht wirklich vorstellen.

Zu einem realistischen Bild vom Menschen gehört es, zu sagen: wir haben in der Regel großen Respekt vor dem, was anscheinend alle machen und wir wollen uns möglichst nicht mit den anscheinend Mächtigen anlegen. Wir brauchen Befreiung, wir brauchen es, dass uns Spielräume eröffnet und manchmal erkämpft werden. Und deshalb ist es so wichtig, dass wir als Gemeinde den Spielraum nutzen, den Jesus uns erkämpft hat. Wenn man diesen Raum der Freiheit nutzt, wird er größer, wenn man ihn ungenutzt lässt, schrumpft er. Wir sollen so ein Vortrupp des Lebens sein, der beständig daran arbeitet, die Spielräume auszuweiten, damit sich dann da auch andere einklinken können.

Predigt:

35 Als Jesus in die Nähe von Jericho kam, saß dort ein Blinder am Straßenrand und bettelte. 36 Er hörte, wie eine große Menschenmenge vorüberzog, und erkundigte sich, was das zu bedeuten habe. 37 »Jesus von Nazaret kommt vorbei«, erklärte man ihm. 38 Da rief er: »Jesus, Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!« 39 Die Leute, die vor Jesus hergingen, fuhren ihn an, er solle still sein. Doch er schrie nur umso lauter: »Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!« 40 Jesus blieb stehen und ließ ihn zu sich holen. Als der Blinde vor ihm stand, fragte ihn Jesus: 41 »Was möchtest du von mir?« – »Herr«, antwortete er, »ich möchte sehen können!« 42 Da sagte Jesus zu ihm: »Du sollst sehen können! Dein Glaube hat dir geholfen.« 43 Im selben Augenblick konnte der Mann sehen. Er folgte Jesus nach und lobte und pries Gott. Und auch die ganze Volksmenge, die seine Heilung miterlebt hatte, gab Gott die Ehre.

Die Geschichte von dem Blinden in Jericho, die wir gerade gehört haben, die ist ein Paradebeispiel dafür, wie allein die bloße Präsenz Jesu den Spielraum eines Menschen dramatisch ausweitet. Der Blinde, im Markusevanglium erfahren wir seinen Namen: er heißt Bartimäus, der sitzt normalerweise an der Straße und bettelt. Das ist das einzige, was ihm noch geblieben ist. Nachdem er sein Augenlicht verloren hat, kann er nicht viel mehr machen.

Aber in dem Moment, wo er erfährt, dass Jesus durch Jericho durchkommt, ändert sich ziemlich viel. Für Bartimäus ist eine deutliche Alternative greifbar nahe gekommen. Jesus hat öfters Blinde geheilt, das hatte sich auch bis zu Bartimäus durchgesprochen. Aber das heißt ja noch nicht, dass auch Bartimäus geheilt wird – denn auch wenn Jesus ganz nahe ist, er könnte ja auch einfach nur vorübergehen. Und nun ist es entscheidend, dass Bartimäus seinen Spielraum wirklich bis zum Anschlag ausnutzt. Er schreit, so laut er kann. Und er lässt sich auch nicht davon abbringen, als ihm Leute sagen: sei still und stör nicht den Betrieb! Bartimäus weiß, dass er nur eine Chance hat, und die nutzt er bis zum letzten, auch wenn er das Risiko eingeht, sich sehr unbeliebt zu machen.

Und tatsächlich versteht Jesus sofort die ganze Geschichte dahinter. Und wenn ihm Menschen begegnen, die mit aller Kraft den Spielraum nutzen, den er ihnen öffnet, dann hat er immer auf sie geachtet und ist ihnen entgegengekommen. Und Jesus fragt Bartimäus extra, was er von ihm will, obwohl das ja eigentlich klar sein müsste. Aber Jesus respektiert den Willen von Bartimäus, er weiß, wie kostbar diese Energie in dem Blinden ist. Und als er wieder sehen kann, da gibt er sich damit nicht zufrieden, sondern er nutzt seinen Spielraum noch einmal maximal aus: er geht nicht zurück in ein normales gesundes Leben, sondern er geht mit Jesus mit und schließt sich der Jesusbewegung an.

In dieser Geschichte kann man konzentriert sehen, wie Jesus die Handlungsmöglichkeiten eines Menschen dramatisch erweitert. Erst verschiebt sich allein durch die Präsenz Jesu der Denkrahmen, die Vorstellung davon, was ein Mensch für möglich hält, und dann nutzt er diesen neuen Rahmen und weitet ihn aus. Durch das ganze Neue Testament begegnet uns das immer wieder: Jesus erkämpft neue Handlungsmöglichkeiten, und Menschen nutzen die dann mehr oder weniger konsequent.

Gerade in der Passionsgeschichte ist das beeindruckend: wie Jesus als Opfer der Macht schon am Kreuz hängt, festgenagelt, anscheinend hat man ihm jeden Spielraum genommen, er ist nur noch wehrloses Opfer, und dann schafft er es trotzdem, in seiner Todesstunde seinen Henker so zu beeindrucken, dass der am Ende sagt: wirklich, der war Gottes Sohn! Und als Jesus dann aufersteht, da ist der Spielraum maximal geworden, und sofort verlieren die Jünger alle Scheu und lassen sich nichts mehr verbieten. Sie wissen: die Macht Gottes ist mit uns.

Im Vergleich zu solchen Perspektiven sieht natürlich die Frage, woher wir unseren Strom beziehen und ob das Fleisch, das wir essen, im Laufe seines Lebens überhaupt schon mal die Sonne gesehen hat, ein bisschen kleiner aus. Man kann daran ja durchaus ablesen, wieviel von dem Potential des christlichen Glaubens wir uns schon haben nehmen lassen. Aber wenn einer an solchen Fragen anfängt, seinen Horizont auszuweiten und lernt, dass Alternativen möglich sind, dann ist das eben auch ein Schritt in die richtige Richtung. Für mich ist das jedenfalls so ein Schritt gewesen: als wir, vor Jahren schon, hier in der Gemeinde und privat auf Ökostrom umgestellt haben, da habe ich auch für einen Moment dieses Gefühl erlebt: geht das denn so einfach? Kann man das so einfach machen?

Und siehe da, es ging. Ohne Probleme. Ohne irgendwelche negativen Folgen. Ohne dass wir jetzt am Hungertuch nagen. Was wir für Strom ausgeben, ist ungefähr dasselbe wie vorher. Aber ich merke: ich bezahle jetzt die Rechnungen viel lieber. Früher habe ich halt für Energie bezahlt. Jetzt investiere ich in die Zukunft. Ich tue etwas dafür, dass wir, als Land, weniger abhängig sind. Weniger abhängig von Atomstrom, weniger abhängig von russischem Gas, weniger abhängig von ein paar großen Energiekonzernen.

Man kann das ja noch weiter treiben: wer darauf achtet, was er einkauft und wie er sich ernährt, der spult nicht mehr einfach eine Alltagsroutine ab. Sondern der hat einen winzigen Entscheidungsspielraum genutzt, und – denken wir an Bartimäus – so ein Spielraum wird durch Gebrauch größer. Auf einmal gibt es im alltäglichen Leben Entscheidungsspielräume, und wir gewöhnen uns daran, sie zu sehen und zu nutzen.

Ok, nicht jeder mag solche Entscheidungsspielräume. Die Mutter in der Szene vorhin mochte das gar nicht. Und wenn Sie mit Bürokraten zu tun haben, dann sagen die Ihnen immer zuerst: ich habe überhaupt keinen Spielraum. Ich habe meine Vorschriften und kann nicht anders. Und manchmal glauben sie es sogar selbst. Aber wir wollen doch eigentlich nicht mit Bürokraten-Lebensgefühl durch den Tag gehen. Eigentlich wissen wir doch, dass das nichts Attraktives ist.

Tief in jedem Menschen schlummert unausrottbar der Wunsch, über sich hinauszuwachsen und die engen Grenzen hinter sich zu lassen, in die wir selbst und andere uns eingesperrt haben. Auch wenn dieser Wunsch in Tiefschlaf versunken zu sein scheint, er kann doch jederzeit wieder wach werden. Denn Gott hat uns als Könige in die Welt gestellt; als weise Könige sollen wir die Verantwortung für die Schöpfung in ihrer ganzen Weite übernehmen. Wir sind nicht als Handlanger erschaffen, nicht als Rädchen im Getriebe, auch wenn wir uns selbst dazu machen. Wir sind als königliche Menschen erschaffen, und wenn Jesus, der wahre Mensch, in unseren Gesichtskreis tritt, dann wacht die Erinnerung daran auf.

Wir wollen uns dazu jetzt ein paar Bilder ansehen, die uns helfen sollen, eine Ahnung von der Weite unseres Verantwortungsbereiches zu bekommen. Grundlage dafür ist der 19. Psalm. Der beginnt mit der Weite des Universums: die Himmel erzählen die Ehre Gottes. Und dann spricht er scheinbar ganz unvermittelt vom Gesetz Gottes, das einen Menschen davor bewahrt, sich auf falschen Wegen zu verirren. Und dass beides so nebeneinander im gleichen Psalm steht, das heißt: die unendlichen Weiten des Weltraums und das Herz eines Menschen, das sind nicht zwei unterschiedliche, unverbundene Welten, sondern es kommt beides aus der Hand Gottes und es wird beides von seiner Weisheit gestaltet. Und wir mit unserem ganzen, vollen Herzen sind da für die ganze Schöpfung.

Mit einem ganzen, vollen Herzen in einem ganzen Leben da zu sein für die ganze Schöpfung: dazu sind wir berufen. Darin ist Jesus uns vorangegangen, und wir stolpern ihm hinterher: manchmal mit großen und manchmal mit kleinen Schritten. Wichtig ist aber, dass wir in Bewegung sind, und dass wir die Schritte tun, die uns möglich sind. Ein Spielraum, der genutzt wird, wächst. Gott wird uns dann auch mehr anvertrauen. Aber wenn wir unsere Möglichkeiten nicht ergreifen, dann schrumpft unser Spielraum.

Ist es nicht großartig, zu sehen, wie weit in der Bibel der Bogen gespannt wird, bis hin zu den äußersten Enden der Schöpfung? Wir wissen heute schon ein bisschen mehr darüber, in welchen kosmischen Weiten wir zu Hause sind. Wir können immerhin schon Bilder machen von den gigantischen Gebilden, von denen wir umgeben sind.

Anscheinend gehört das zusammen: das menschliche Herz und die Enden des Himmels. Deswegen berühren uns diese Bilder, wie uns ja schon der Sternenhimmel bewegt, wenn wir ihn nachts über uns sehen und seine unendlichen Weiten ahnen. Schon die Bibel bringt das zusammen. Und mit solch einem geweiteten Herzen werden wir uns nicht mehr einsperren lassen ins Gefängnis des täglichen Klein-Kleins, sondern unsere Spielräume nutzen. Es gibt mehr und Größeres als die Frage, wo man ein paar Euro einsparen kann. Wer arm im Denken ist, wird es irgendwann auch im Portmonee sein. Und wer in seinem Herzen die Fülle trägt, der wird im richtigen Moment genug haben, um zu schenken und zu hoffen.

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