Die Kluft überwinden
Predigt am 22. Juni 2003 zu Lukas 16,19-31
19 Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbares Leinen und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. 20 Es war aber ein Armer mit Namen Lazarus, der lag vor seiner Tür voll von Geschwüren 21 und begehrte, sich zu sättigen mit dem, was von des Reichen Tisch fiel; dazu kamen auch die Hunde und leckten seine Geschwüre.
22 Es begab sich aber, dass der Arme starb, und er wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß. Der Reiche aber starb auch und wurde begraben. 23 Als er nun in der Hölle war, hob er seine Augen auf in seiner Qual und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß.
24 Und er rief: Vater Abraham, erbarme dich meiner und sende Lazarus, damit er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und mir die Zunge kühle; denn ich leide Pein in diesen Flammen. 25 Abraham aber sprach: Gedenke, Sohn, dass du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun wird er hier getröstet, und du wirst gepeinigt. 26 Und überdies besteht zwischen uns und euch eine große Kluft, dass niemand, der von hier zu euch hinüber will, dorthin kommen kann und auch niemand von dort zu uns herüber.
27 Da sprach er: So bitte ich dich, Vater, dass du ihn sendest in meines Vaters Haus; 28 denn ich habe noch fünf Brüder, die soll er warnen, damit sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual. 29 Abraham sprach: Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie hören. 30 Er aber sprach: Nein, Vater Abraham, sondern wenn einer von den Toten zu ihnen ginge, so würden sie Buße tun.
31 Er sprach zu ihm: Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde.
Was Jesus hier erzählt, das ist in den meisten Teilen der Welt der Normalfall. Ausgemergelte Gestalten, die den Müll durchsuchen, um etwas Essbares zu finden, ganze Scharen von Menschen, die auf den Müllhalden leben und Papierreste suchen, oder Altmetall, das man für ein paar Cents verkaufen kann; und daneben Luxusvillen, geschützt durch Hunde, Wächter und hohe Zäune. Wir denken vielleicht, das wären bedauerliche Sonderfälle, aber in Wirklichkeit sind weltweit gesehen wir der Sonderfall. Dass es bei uns keine Slums gibt, dass bei uns Menschen auch dann zum Arzt gehen können, wenn sie eigentlich kein Geld haben, um ihn zu bezahlen, dass bei uns Menschen normalerweise nicht verhungern – das ist eine europäische und deutsche Besonderheit. Wir sind da nicht repräsentativ für die ganze Welt.
Die Geschichte, die Jesus erzählt, die ist auch heute noch viel typischer: Lazarus hat offensichtlich keine Familie, die ihn versorgen kann, und er ist so krank, dass er nicht arbeiten kann. Irgendwer hat ihn beim Tor des reichen Mannes abgelegt, wörtlich heißt es: man hat ihn da hingeworfen, anscheinend kann er nicht mehr laufen, und irgendjemand hat ihn da entsorgt, vielleicht der Vermieter, als er die Wohnung nicht mehr bezahlen konnte, und der meinte wohl: wo soviel Reichtum ist, da wird für ihn auch irgendwas abfallen, und ich bin die Sorge los.
Und nun liegt Lazarus da und hofft auf die Reste von den Parties, die der reiche Mann täglich feiert. Bei solchen Festmählern nahm man Brot nicht nur als Nahrungsmittel, sondern auch als Besteck, als Löffel, man tat andere Speisen da hinein und aß sie mit dem Brot zusammen, und man benutzte Brot auch als Serviette: man wischte sich Hände und Mund mit einem Stück Brot sauber und warf es dann achtlos weg. Und Lazarus wäre froh gewesen, wenn er solche Brotreste bekommen hätte, er hätte auch die gegessen, um nicht mehr den Hunger spüren zu müssen, aber keiner dachte an ihn, keiner ließ ihn den Abfall durchwühlen. Stattdessen kommen die Hunde und lecken an seinen Geschwüren, anscheinend hat er sich durchgelegen. Lange macht er es dann auch nicht mehr, irgendwann ist er endlich tot und hat seine Ruhe. Wir hören nicht, dass er begraben wurde, nur der Reiche, der zur gleichen Zeit stirbt, bekommt ein Begräbnis, wahrscheinlich mit Pauken und Trompeten. Lazarus wird ein letztes Mal entsorgt, irgendwo verscharrt. Niemand denkt mehr an ihn, eines Tages ist er eben einfach nicht mehr da. Eine Mutter Theresa, die ihn wenigstens zum Sterben noch einmal aufgesammelt hätte, gab es anscheinend nicht.
Das ist eine Alltagsgeschichte, die so ähnlich auch heute noch millionenfach passiert. Interessant wird sie durch ihre Fortsetzung im Jenseits. Denn der Tod macht die Menschen eben nicht alle gleich. Sie sterben unterschiedlich, sie werden unterschiedlich begraben, und auch danach gibt es genauso riesige Unterschiede wie zu Lebzeiten. Nur ist es diesmal andersherum, diesmal sitzt Lazarus am Tisch direkt bei Abraham und darf mit ihm feiern, und der Reiche ist draußen und leidet Qualen. Und genauso, wie es auf Erden eine unüberwindliche Kluft gegeben hat zwischen ihm und Lazarus, so ist es auch hier: der eine kommt nicht zum anderen. So wie Lazarus im Leben kein Bröckchen von dem Brot des Reichen bekommen hat, so bekommt der Reiche im Tod noch nicht einmal einen Tropfen Wasser von Lazarus.
Das Jenseits ist einfach eine verschärfte Fortsetzung des Diesseits. Mit dem Unterschied allerdings, dass Gott dafür sorgt, dass die Seiten vertauscht sind. Das ist das revolutionäre am Gott Israels, an dem Gott, von dem Jesus erzählt. Die anderen Völker haben in ihrer Fantasie einfach gedacht, dass die Verhältnisse des Diesseits im Jenseits weitergehen. Sie haben den Pharaos Luxus mit in ihre Grabkammern gegeben, Wagen und Pferde, Waffen und Diener, Schmuck und Frauen. Sie dachten, es ginge im Jenseits so weiter wie im Diesseits.
Aber der echte Gott ist nicht der Garant dafür, dass im Jenseits alles so bleibt wie es ist. Der wirkliche und lebendige Gott ist ein Gott der Gerechtigkeit, und er sorgt für den Ausgleich. Das wäre ja eine Katastrophe, wenn die Herren auch noch in der kommenden Welt die Herren und die Elenden auch noch im Jenseits elend wären. Deswegen übt Gott Gericht, an der Schwelle von dieser Welt zur kommenden hat er etwas zu sagen, da gibt es keinen bruchlosen Übergang, sondern es kommt alles noch einmal zur Sprache und wird auf den Prüfstand gestellt.
Warum kommt Lazarus in den Himmel zu Abraham? Weil Gott für den Ausgleich sorgt. Dort im Himmel wird sichtbar, was schon immer gegolten hat: dass Gott mit großer Liebe und Anteilnahme auf den elenden Lazarus geschaut hat. Der steht im Zentrum seines Interesses, und im Himmel bekommt er den besten Platz am Tisch. Wer auf der Erde an der Villa des Reichen vorbeigegangen ist, der hat die dicken Wagen gesehen, die da geparkt haben, und er hat die Bands gehört, die da gespielt haben, und er hat die Leute mit den Designerklamotten reingehen sehen. Den Lazarus hat er vielleicht gerade mal aus den Augenwinkeln gesehen, und auf den Fotos in der Klatschpresse war der sowieso nicht drauf. Aber wenn Gott da hingeschaut hat, dann hat er den Lazarus gesehen, der hat ihn Tag und Nacht beschäftigt, und alles andere war die Randerscheinung. Gott hat ganz andere Massstäbe für das, was wichtig ist. Und in der künftigen Welt gelten seine Massstäbe.
Und warum endet das damit, dass der Reiche in die Hölle kommt? Weil er reich ist? Nein, reich sein ist nicht verboten. Auch Abraham war reich. Dieser Reiche kommt in die Hölle, weil er die Kluft nicht abgebaut hat, weil er Lazarus vor seiner Tür nicht gesehen hat, weil er ihn nicht sehen wollte, weil er sich nicht erbarmt hat. Das ist die Botschaft Jesu, dass Gott Erbarmen will und eine Überwindung der Kluft zwischen den Armen und Reichen in dieser Welt. Ganz ähnlich die Geschichte vom Weltgericht, die Jesus erzählt, wo am Ende nur diejenigen Platz in Gottes Reich haben, die sich um die Armen, Kranken, Gefangenen oder Fremden gekümmert haben.
Bei Lukas steht die Geschichte vom reichen Mann und armen Lazarus in der Nachbarschaft von Auseinandersetzungen mit den Pharisäern. Für die musste es provozierend sein, dass Jesus nicht die religiöse Hingabe zum Kriterium für den Eintritt in den Himmel macht. Wir hören ja gar nicht, ob der reiche Mann zum Gottesdienst ging oder ob Lazarus geglaubt hat. Der Reiche kommt in die Hölle. weil er sich nicht erbarmt hat, weil er die Kluft zu den Elenden nicht überbrückt hat. So einfach ist das.
Natürlich ist Beten wichtig, natürlich ist die Bibel wichtig. Jesus lässt in der Geschichte Abraham sagen: es steht doch alles drin in der Bibel, schon im Alten Testament kann man lesen, dass Gott in seinem Volk keine Armen haben will, und es gibt schon in den Mose-Büchern Gesetze, die dafür sorgen sollen, dass keine großen Unterschiede in den Lebenschancen entstehen. Was gibt es unter Christen für Diskussionen darüber, wann man in den Himmel kommt und wann vielleicht doch nicht in die Hölle. Dabei ist es so einfach: wer sich erbarmt, der kommt in den Himmel. Wer es nicht tut, kommt in die Hölle. Punkt. Der völlig sichere Weg, um in den Himmel zu kommen, ist es, immer wieder diese Kluft zu überbrücken, die hier auf der Erde normalerweise zwischen den Elenden und den Reichen besteht.
Es ist eigentlich so einfach. Der Reiche hätte gar nicht auf seine gute Küche verzichten müssen. Es hätte völlig gereicht, wenn er dafür gesorgt hätte, dass man Lazarus wenigstens die Reste gebracht hätte, die halb abgegessenen kalten Platten, die im Schweineeimer landen. Niemand wird arm und unglücklich, wenn er sich um die Armen kümmert. Davon kommt man nicht selbst an den Bettelstab.
Es gibt so viele Menschen, die man glücklich machen kann mit ein bisschen Hilfe, mit ein bisschen Entgegenkommen, denen es so viel nützt, wenn man ihnen hier und da etwas Gutes tut. Das Problem ist die Dickfelligkeit und Hartnäckigkeit der Besitzenden, die sich einfach abschotten und den Lazarus vor der Tür nicht sehen wollen oder vielleicht noch erzählen, dass sie ihm nichts geben, um seine Selbstverantwortung zu aktivieren. Der verrückte Optimismus derer, die glauben, ihnen selbst könne nichts zustoßen in dieser oder in der kommenden Welt, und die deshalb den ganzen Sozialklimbim für Luxus halten.
Als der Reiche endlich zur Besinnung kommt und begreift, wie die Dinge wirklich liegen, da schlägt er ein Wunder vor, um seine Brüder, seine Standesgenossen wachzurütteln: es solle doch einer von den Toten auferstehen! Dann müssten sie doch wachwerden, dann müssten sie doch begreifen, worauf sie zusteuern!
Aber Abraham sagt: nein, sie haben die Bibel, da steht alles drin. Damals kannten auch die Reichen die Bibel. Aber es gibt eine Hartherzigkeit, gegen die nichts hilft. Wenn einer neben seiner Villa die Leute verhungern lässt, dann nützt es auch nichts, wenn ihm jemand aus dem Jenseits ins Gewissen redet. Die sagen dann: ich fühle mich jetzt aber unter Druck gesetzt, wenn du sowas sagst, du verurteilst ja Menschen, mein Gott würde so etwas nie tun, Menschen so hart bestrafen!
Es ist ein Wunder, eine wirkliche Bekehrung, wenn einer da rausgeholt wird, aus seinem beharrlichen Ignorieren des Lazarus.
Aber dieses Wunder hat es immer wieder gegeben. In der Geschichte der Christen und Juden haben sich immer wieder Menschen bekehren lassen und haben die Kluft überwunden, haben Brücken gebaut über den fürchterlichen Riss, der durch die Welt geht. Man muss nur denken an die Abschaffung der Sklaverei im 19. Jahrhundert, die ganz wesentlich auf den Einsatz von entschiedenen Christen zurückgeht, die das nicht als unabänderlich hinnahmen, dass die Sklaven draußen auf den Baumwollfeldern und in ihren Hütten im Elend lebten, während ihre weißen Herren Feste feierten.
Oder wenn man an unser Grundgesetz denkt, wo als Grundentscheidung drinsteht, dass Deutschland ein sozialer Bundesstaat ist. Das bedeutet, dass in unserer Verfassung festgeschrieben ist, dass es bei uns von Staats wegen nicht egal ist, wenn draußen vor der Tür ein Lazarus dahinvegetiert und verkommt, sondern dann muss etwas geschehen. Natürlich funktioniert das auch nicht immer, und alles, was auf bürokratischem Wege durchgeführt wird, hat seine Probleme, aber damals nach der Nazizeit, in der das Recht des Stärkeren offen propagiert wurde, haben die Mütter und Väter der Verfassung das ausdrücklich ins Grundgesetz reingeschrieben: bei uns darf kein Lazarus einfach vor der Tür verhungern, und keinen kümmert es. Und das sind natürlich ganz deutlich christliche Wurzeln, auf die man sich damals nach dem zweiten Weltkrieg besonnen hat. Als unser Land damals arm und krank war, da hat den Menschen das eingeleuchtet. Da haben die Trümmer gepredigt, da musste keiner von den Toten zurückkommen.
Und wir sind damit gut gefahren. Deshalb hat Segen auf unserem Land gelegen. Deshalb gibt es bei uns keine Slums im Schatten der Büropaläste. Deshalb hat bei uns die Mafia lange keine Chance gehabt. Deshalb gibt es bei uns keine Stadtviertel, in die man lieber nicht reingeht, weil man nicht weiß, ob man lebend rauskommt. Deshalb haben wir bei uns nicht diese krassen Gegensätze von Arm und Reich, die in den meisten Teilen der Welt normal sind.
Aber es sieht so aus, als ob sich das im Augenblick ändert. Alle Parteien fangen an, uns daran zu gewöhnen, dass das angeblich nicht bezahlbar ist. In allen Zeitungen steht es. In Zukunft werden Menschen nach einem Jahr Arbeitslosigkeit in die Sozialhilfe abrutschen, und wer weiß, wie hoch in ein paar Jahren noch das Sozialhilfeniveau sein wird. Vielleicht ist es irgendwann nicht mehr selbstverständlich, dass man auf jeden Fall ärztliche Behandlung bekommt. Vielleicht nur noch die Notversorgung.
Natürlich ist auch das noch mehr, als Lazarus bekommen hat. Das wirkliche Problem ist die Grundhaltung dahinter: dass die Barmherzigkeit immer mehr in die Defensive gerät, dass sich die kalten Herzen vermehren, die sagen: was geht mich das an, wenn es anderen schlecht geht? Dass die Bereitschaft wächst, sich von den Armen und Unglücklichen abzukoppeln und nichts mit ihnen zu tun haben zu wollen, dass wir auch in Europa uns immer mehr abschotten vom Rest der Welt und uns verschließen vor denen, die aus Not und Unterdrückung hierher flüchten und ihnen weder Platz hier geben noch ihnen dort helfen, wo sie herkommen. Diese Abschottung, diese Kluft, die wir hier bauen, die wird den Segen vertreiben und auch im Jenseits bestehen bleiben. Es ist kein Zufall, dass das alles erst möglich wird, nachdem der christliche Einfluss in den Menschen so viel schwächer geworden ist.
Diese ganzen Abkoppelungsstrategien, wo man versucht, sich von den Leuten abzusetzen, die vom Schicksal besonders gebeutelt sind; Wege, die sich selbst zu überlassen, um die Kosten des Sozialstaates zu senken – das Problem sind nicht die einzelnen politischen Entscheidungen, sondern die Grundhaltung dahinter: was kümmert mich Lazarus? Die Antwort Jesu darauf ist klar: dafür kommt man in die Hölle. Und wenn dann einer in der Unterwelt darum bittet, dass man ihm die Lippen mit einem Tropfen Wasser anfeuchtet, dann wird es heißen: du hast doch in dem Ausschuss gesessen, der die Pflegeversicherung reformiert hat, sowas ist jetzt gestrichen.
Wir Christen müssen verstärkt darüber nachdenken, dass wir in Zukunft nicht mehr unbedingt damit rechnen können, dass der Staat die christlichen Werte für uns praktiziert. Ich denke, wir werden wieder lernen müssen, auf praktische Solidarität zu setzen. Bevor schon die jungen Leute anfangen, sich Sorge um ihre Altersversorgung zu machen, sollten wir etwas anderes lernen: dass eine Gemeinschaft aus Menschen, die von Gott bewegt sind und füreinander einstehen, sicherer und verlässlicher ist als Aktien und Versicherungen. Wir sollen das Wort Gottes hören und uns davon bewegen lassen, als Einzelne und Gemeinschaften einen Lebensstil der Barmherzigkeit zu entwickeln. Das ist gut für andere und gut für uns. Und, ganz einfach, davon kommt man in den Himmel.