Das Netzwerk des Segens
Predigt am 04. Oktober 2009 (Erntedankfest) zu Lukas 12,16-21
16 Jesus sagte ihnen ein Gleichnis und sprach: Es war ein reicher Mensch, dessen Feld hatte gut getragen. 17 Und er dachte bei sich selbst und sprach: Was soll ich tun? Ich habe nichts, wohin ich meine Früchte sammle. 18 Und sprach: Das will ich tun: Ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen und will darin sammeln all mein Korn und meine Vorräte 19 und will sagen zu meiner Seele: Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat für viele Jahre; habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut! 20 Aber Gott sprach zu ihm: Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern; und wem wird dann gehören, was du angehäuft hast? 21 So geht es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich bei Gott.
Es ist erstaunlich, wie Jesus hier einen ganz modernen Menschen zeichnet: schon vor 2000 Jahren. Ein Mensch, in dessen Welt Gott keinen Platz hat. Er nimmt nicht wahr, wie sehr diese Welt und Gottes Welt miteinander vernetzt sind, er nimmt noch nicht einmal wahr, wie sehr er mit anderen Menschen vernetzt ist: sonst würde er nicht so ratlos überlegen, was er mit seiner Ernte machen soll. Sondern er wüsste: es gibt Leute genug, die sich freuen, wenn er ihnen ein bisschen abgibt.
Etwas später im Lukasevangelium spricht Jesus davon, dass wir aufhören sollen, uns Sorgen zu machen um Essen und Trinken und stattdessen zuerst daran denken sollen, uns bei Gott einen Schatz zu sammeln und da zu investieren. Es geht immer darum, dass wir uns nicht als isoliertes Wesen ansehen, sondern verstehen, dass wir eingebunden sind in eine Welt, die von den Segensströmen Gottes lebt. Eine Welt, die tatsächlich dauernd in Interaktion mit Gott ist, aber sie weiß es nicht immer. Eine Welt, die nicht statisch ist, sondern wie ein großer lebendiger Organismus, ein Ökosystem, in dem alles mit allem zusammenhängt, und das von Gottes Segensströmen gespeist wird.
Heute nehmen wir diese Segensströme bewusst wahr. Die Früchte auf dem Altar und in der Kirche sind ein Zeichen dafür, dass Leben etwas ganz Besonderes ist, ein unvergleichliches Wunder: tote Materie organisiert sich so, dass sie beweglich und schön wird und hineingezogen wird in den Rhythmus Gottes. Segen können wir nicht sehen, aber wir können ihn ablesen an seinen Früchten.
Probleme entstehen nur, wenn einer wie der Mann in der Geschichte diese Segensströme sozusagen aufstaut und in seinen Teich leitet und aus dem fließenden Strom ein stehendes Gewässer macht. Dann wird das Wasser trübe und die Mücken brüten da. Oder wenn einer vergisst, dass der Segen und das Leben von Gott kommen und dass die Welt und die Menschen eine Tiefendimension haben, dass sie nämlich geschaffen sind, um in einer reichen Gemeinschaft von Gott, Mensch und Schöpfung zu existieren.
Wie zeitlos diese Geschichte ist, das merkt man, wenn man nur ein paar Worte und Bilder austauscht und sie in unsere Zeit überträgt. Dann könnte sie etwa so lauten:
Ein Mann konnte in den Frühruhestand gehen. Die Rente war zwar nicht üppig, aber er hatte privat vorgesorgt. Und er fragte sich: was mache ich jetzt mit meiner Zeit? 20 oder 30 Jahre habe ich bestimmt noch! Und er meldete sich zum Computerkurs für Senioren an und buchte eine Kreuzfahrt, seine Frau wünschte sich eine Veranda, auf der sie im Sommer sitzen konnten, und die Enkelkinder wollten auch besucht werden. Dazu kamen noch die Termine für die Krankengymnastik und den Zahnarzt. Allmählich kam er in den berüchtigten Seniorenstress. Er fragte sich: was mache ich? Wie kriege ich das alles unter einen Hut? Ich glaube, ich lege mir einen Terminkalender zu! Und er kaufte sich einen Kalender mit einer Seite pro Tag und vielen Zeilen für seine Termine, und so bekam er alles geregelt: die Theaterabende, den Tanzkurs und die Seniorenfitness. Ja, dachte er, Organisation ist alles. Jetzt habe ich mein Leben endlich im Griff!
Aber da sprach Gott zu ihm: du Narr, eins hast du übersehen: heute Nacht stehst du auf meinem Terminkalender!
In dieser Version der Geschichte geht es natürlich nicht darum, dass Rentner besonders gottlos wären, genauso wenig, wie in der Geschichte, die Jesus erzählt, behauptet wird, Landwirte seien besonders habgierig. Nein, es geht immer darum, dass da eine Rechnung so gemacht wird, als ob unser Leben eine abgeschlossene Welt wäre, nicht vernetzt und durchflossen vom Segen, sondern unabhängig und unter unserer Kontrolle. Und das stimmt nicht, und wir sperren uns von einem ganz großen Reichtum ab, wenn wir versuchen, uns in so einer abgeschlossenen Welt einzurichten. Wenn du Gott aussperrst aus deinem Leben, dann nimmst du dir die Chance, in einem Sonnenaufgang den Glanz Gottes zu sehen und durch ein Stück Brot ein liebevolles Wort Gottes zu vernehmen. In so vielen Dingen kann man mit ein bisschen Übung die freundliche Zuwendung Gottes erkennen, aber wer ihn ausschließt aus seinem Denken und Reden, der merkt das einfach nicht.
Aber diese Geschichte, die Jesus erzählt, die ist deswegen so starker Tobak, weil er sagt: wenn einer sich gegen die leisen Hinweise Gottes verschließt, dann wird er eines Tages ganz massiv daran erinnert werden, wie brüchig seine abgeschlossene Welt ist. Spätestens wenn das Leben zu Ende ist und die Erben sich freuen, dass sie die Segensreste unter sich aufteilen können.
Spätestens wenn etwas zerbricht, dann merken wir, dass es eine Illusion war, sich so eine abgeschlossene Welt vorzustellen. Mir ist neulich ein Lied in die Hände gefallen, von der New Yorker Sängerin Regina Spektor, einer gebürtigen Russin, die im Alter von sechs Jahren mit ihren Eltern nach Amerika ausgewandert ist, und da heißt es (ich übersetze es gleich ins Deutsche):
»Niemand findet Gott lächerlich im Krankenhaus,
niemand findet Gott lächerlich im Krieg,
…
niemand findet Gott lächerlich, wenn der Arzt nach einem Routine-Test anruft,
niemand findet Gott lächerlich, wenn es schon sehr spät ist, und die Kinder sind immer noch nicht von der Party zurück;
…
niemand findet Gott lächerlich bei Hunger oder Feuer oder Überschwemmung.«
Das heißt: Nur wer noch in einer relativ heilen Welt lebt, kann sich den Luxus leisten, so zu tun, als sei er unabhängig. Das ist der Grund, weshalb Jesus immer wieder davor warnt, den Segen Gottes in Reichtum und Sicherheit zu verwandeln: es kann einfach nicht gut gehen, wenn wir gegen die Grundstruktur der Welt leben. Und die besteht aus einem großen Netzwerk, in dem alles mit allem zusammenhängt, ein Netzwerk, das vom Atem Gottes belebt wird und das ausgedünnt wird und reißt, wenn es nicht geschätzt und gepflegt wird.
Wir haben uns in der westlichen Welt in den letzten Jahrhunderten konzentriert auf die materielle Außenseite dieses Netzwerkes: auf alles, was sich messen und zählen und kaufen lässt. Diese Außenseite kann man ein Stück weit kontrollieren und steuern, aber selbst das funktioniert immer nur bis zur nächsten Wirtschaftskrise.
Vor allem haben wir aus den Augen verloren, dass auch die materiellen Güter in Wirklichkeit persönlich geprägt sind: da steckt die Arbeit von Menschen drin, arme und reiche Menschen, Menschen überall auf der Welt, die ihren Beitrag geleistet haben, damit die Jeans im Laden liegen und die Kartoffeln auf dem Tisch stehen oder in der Chips-Tüte landen. Und da steckt Leben drin, Leben, das all diese Güter hervorgebracht hat und wachsen lässt, selbst wenn sie am Ende ganz tot und unbeweglich aussehen. Und Gott steht hinter all dem und segnet das Wachsen und Gedeihen ebenso wie die menschlichen Arbeit, selbst wenn die Segenskanäle schon ziemlich verstopft sind, weil sich so viel Unrecht daran abgelagert hat, so viel Leid von ausgebeuteten Menschen und misshandelten Tieren, so viel Seufzer der ganzen Kreatur, die darunter leidet, dass sie zur Ware gemacht wird.
Was wäre das für eine Chance, wenn wir bewusst in Verbindung stehen würden mit all den Menschen, die an unserer Versorgung mitarbeiten, wenn wir irgendwann mal die Näherin in Vietnam und den Bauern in Deutschland kennenlernen würden, deren Arbeit uns leben lässt. Und wenn wir auch die Menschen kennenlernen, mit denen wir durch unsere Arbeit verbunden sind. Und wenn wir in dem allem Gott wahrnehmen, der das große Netz geknüpft hat und bis heute daran arbeitet, dass es trotz allem noch nicht gerissen ist. Eine große Gemeinschaft von Gott, Mensch und Kreatur, die miteinander daran arbeiten, dass diese Oase des Lebens, unser Planet, schön und lebendig bleibt – ein guter Ort zum Wohnen, reich und hell, durchflossen von Segensströmen, pulsierend in vielen Rhythmen und erfüllt von fröhlichen Klängen.
Jesus ist gekommen, damit wir zurückfinden in diese Gemeinschaft, die vom Vertrauen lebt und auseinander gebracht wird, wenn einer die Dinge festhält und sagt: das ist meine Welt, da hat mir keiner reinzureden! Jesus ist gekommen, damit wir uns nicht mehr irgendein finsteres Bild von Gott machen können, der uns einschüchtert und straft und drangsaliert, sondern damit wir die Segensströme wahrnehmen und fließen lassen, die von Gott her in die Welt kommen. Damit Menschen nicht mehr versuchen, die Quelle ihres Lebens auszuschließen aus ihrer Welt.
Es ist nicht erstaunlich, wie oft Jesus draußen war, auf den Straßen, am See, in der Wüste, in der Natur. Das alles spricht sehr unmittelbar zu uns. Wir spüren, wie gut uns das tut. Und heute haben wir uns all die natürlichen Dinge hierher geholt, damit sie mitsprechen und unserem Gottesdienst Farbe geben. Damit sie das Leben vor Augen führen.
Mitten in dieser von Konflikten und Widersprüchen zerrissenen Welt hat Jesus trotz allem ohne Sorge gelebt, im Vertrauen auf den Vater im Himmel; er hat uns vorgemacht, wie das geht und ist uns einen Weg vorangegangen, auf dem wir ihm folgen können. Es ist eine Lebensweise, bei der wir gar nicht erst versuchen, die Dinge zu kontrollieren, die wir sowieso nicht in den Griff kriegen, aber das muss auch gar nicht sein. Gott hat in diese Welt das Prinzip des Gebens, der Lebendigkeit und des Vertrauens hineingelegt. Überall lebendige Prozesse, Kreisläufe, die empfindlich und verletzlich aussehen, aber im Endeffekt ganz zuverlässig und stark sind. Es ist ein lebendiger Gott und er hat eine Welt voller Leben geschaffen.
Wie sehr hätte es Gottes Wesen entsprochen, wenn der reiche Mann aus der Geschichte seine empfangenen Gaben mit vielen anderen geteilt hätte, im Vertrauen darauf, dass er schon nicht zu kurz kommen wird!
Denn die beste Investition in die Zukunft besteht darin, dass wir, wo wir nur können, Vertrauen schaffen in die Welt – und den Vater im Himmel in unser Denken und Reden einbeziehen, der alles so gewollt hat und Tag für Tag erhält.