Das Gefängnis existiert im Kopf

Predigt am 2. März 2025 zu Lukas 10,38-42

Eine andere Predigt zum gleichen Text ist hier zu finden.

38 Als Jesus mit seinen Jüngern weiterzog, kam er in ein Dorf. Dort nahm ihn eine Frau namens Marta gastlich auf. 39 Sie hatte eine Schwester mit Namen Maria, die setzte sich zu Füßen des Herrn nieder und hörte ihm zu. 40 Marta dagegen war überbeschäftigt mit der Vorbereitung des Essens.
Schließlich trat Marta vor Jesus hin und sagte: »Herr, kümmert es dich nicht, dass mich meine Schwester die ganze Arbeit allein tun läßt? Sag ihr doch, dass sie mir helfen soll!«
41 Der Herr antwortete ihr: »Marta, Marta, du machst dir so viele Sorgen und verlierst dich an vielerlei, 42 aber nur eines ist notwendig. Maria hat die gute Wahl getroffen; sie hat sich für das unverlierbar Gute entschieden, das ihr nicht genommen werden kann.«

Wo Jesus ist, da entstehen Freiheitsräume. Da fangen Menschen an, neue Wege zu gehen und sich nicht mehr vorschreiben zu lassen, wie sie zu sein haben und wie man sich zu benehmen hat. Das passiert eigentlich immer, wenn Jesus irgendwo redet und präsent ist, aber in dieser Geschichte kann man das sozusagen aus nächster Nähe beobachten.

Thomon, CC BY-SA 4.0 , via Wikimedia Commons
Der Platz der Frauen

Maria ist in dem Haus, wo Jesus mit den Jüngern zu Gast ist, die kleine Schwester. Das Haus ist eigentlich Martas Haus. Der Evangelist Lukas macht das ganz am Anfang der Geschichte klar: da war eine Frau, die nahm Jesus in ihrem Haus auf. Marta ist die Hausherrin. Das sagt schon ihr Name: Marta heißt übersetzt »die Chefin«. Das ist auffällig, weil das in einer so patriarchalischen Zeit wie damals eigentlich gar nicht sein durfte, dass eine Frau einem Haus vorsteht. Frauen mussten immer einen Mann über sich haben: erst den Vater, und dann den Ehemann. Und wenn der Ehemann starb, dann sorgte die Sippe dafür, dass die Witwe beim Bruder des Verstorbenen unterkam, und schlimmstenfalls war dann eben ihr ältester Bruder oder ihr Sohn der Chef.

Auf jeden Fall war für alle damals klar: Frauen müssen immer einen Mann haben, der auf sie aufpasst, weil sie ja geistig eher minderbemittelt, kindlich und leicht verführbar sind. Ein letztes Überbleibsel davon kann man noch in den Hollywoodfilmen sehen, wenn der Vater die Braut zum Altar führt und sie dort dem Ehemann übergibt, und darin steckt immer noch ein Rest dieser Überzeugung: Frauen dürfen keinen Schritt unbeaufsichtigt tun.

Ein ungewöhnliches Haus

Aber sogar damals in der Antike gab es gelegentlich mal Konstellationen, wo das nicht funktionierte. Z.B. wenn der Ehemann oder die Eltern früh starben und es auch keine Verwandten in der Nähe gab, die dafür gesorgt hätten, dass die Frau schnell wieder einen männlichen Aufpasser bekam. Und manchmal haben kluge Frauen so eine Konstellation genutzt, um den Zwängen des Patriarchats zu entkommen. In der Apostelgeschichte taucht z.B. die Purpurhändlerin Lydia auf, die erste europäische Christin, die offenbar auch selbständig eine Firma führt – vielleicht hat sie nach dem Tod ihres Mannes einfach sein Geschäft weitergeführt und war klug genug, nicht wieder zu heiraten. Und es gab keine Verwandten in der Nähe, die ihr in den Ohren gelegen hätten: du brauchst endlich wieder einen Mann!

Irgendwie so muss das auch bei Marta gelaufen sein. Wir wissen aus dem Johannesevangelium, dass die Schwestern noch einen Bruder hatten, Lazarus, und nach den Regeln der Zeit wäre der eigentlich der Hausherr gewesen. Aber in unserer Geschichte taucht er gar nicht auf. Vielleicht war er häufig auf Geschäftsreise, oder er war der jüngste der drei Geschwister, der kleine Bruder, der nie gegen die Chefin Marta angekommen ist.

Es ist jedenfalls ein ungewöhnliches Haus, in dem Jesus hier zu Gast ist. Er hatte da offenbar keine Berührungsängste. Es war eben Martas Haus. Aber dann ermutigt seine Gegenwart die kleine Schwester, einen noch viel mutigeren Schritt zu tun: sie geht ins Wohnzimmer zu den Männern und hört Jesu zu.

Eine ungewöhnliche Art von Gemeinschaft

Damit überschreitet sie gleich mehrere rote Linien auf einmal: Männer und Frauen lebten normalerweise in getrennten Welten. Die begegneten sich im Alltag gar nicht oft, und sie sprachen erst recht nicht miteinander. Auch im Johannesevangelium gibt es eine Szene, wo Jesus an einem Brunnen allein mit einer Samaritanerin spricht, und als die Jünger kommen und das sehen, wundern sie sich: »Hä? Der spricht mit einer Frau?!«

In unserer Geschichte beschweren sich die Jünger aber nicht, dass Maria sich zu den Männern setzt und Jesus zuhört. Offensichtlich haben die sich inzwischen daran gewöhnt, dass die neue Gemeinschaft um Jesus herum nicht in Männer- und Frauenwelten aufgeteilt ist. Lukas erzählt ein paar Kapitel vorher ausdrücklich, dass auch ein paar Frauen mit Jesus und den Jüngern durchs Land zogen. Da hat eine neue Art von Gemeinschaft begonnen, wo Menschen durch Jesus verbunden sind und nicht durch ihren sozialen Status, durch Verwandtschaft oder durch andere Rollen, die ihnen die Gesellschaft zugewiesen hat. Freiheit verbindet stärker als Blut und Sitte.

Vielleicht kann man das am besten als Kameradschaft charakterisieren, vielleicht auch als Freundschaft. Auf jeden Fall liegt diese neue Gemeinschaft quer zu den Trennlinien, nach denen die Gesellschaft sonst organisiert ist, und das hat Maria offenbar intuitiv verstanden.

Das geht zu weit!

Sie überschreitet aber noch eine andere rote Linie. Wenn es heißt: sie setzte sich zu den Füßen Jesu und hörte zu, dann klingt das für uns sehr demütig. In Wirklichkeit tat sie damit etwas, was sonst nur für Männer in Frage kam: sie machte sich zur Schülerin eines Rabbi. Sie wollte lernen. Und wer bei einem Rabbi lernte, der würde eines Tages ausgelernt haben und dann selbst ein Lehrer sein. Und für alle in der Umgebung Jesu ist das ok. Es gibt von den Jüngern später noch die Geschichte, dass sie möglichst die Kinder von Jesus fernhalten wollten, und da korrigiert er sie. Aber Frauen, die auch lernen wollten, das war ok. So weit waren sie immerhin schon.

Die Einzige, die damit nicht zurecht kommt, ist Marta. Ausgerechnet die, die eigentlich das meiste Verständnis dafür haben müsste, dass ihre Schwester sich nicht den gesellschaftlichen Konventionen beugt, ausgerechnet die kann das nicht ertragen. Sie hat einerseits selbst dem Patriarchat ein Schnippchen geschlagen, aber es sitzt andererseits noch so in ihr drin, dass sie es als unmöglich empfindet, was ihre Schwester da macht. Im Patriarchat gibt es ja auch immer eine Rangordnung unter den Frauen. Die älteste Frau hatte da in der Regel das Kommando, und die jüngeren hatten zu springen. Und alle hoffen darauf, irgendwann selbst mal die Oberfrau zu werden. Wenn Maria da ausbricht und ihren eigenen Weg geht, dann wird auch eine emanzipierte Frau wie Marta plötzlich sehr herrisch.

Interessant ist auch, wie sie das macht: sie spricht nicht Maria direkt an und sagt: hilf mir doch bitte! Nein, sie versucht, Jesus vor ihren Karren zu spannen. Der Mann im Haus soll die kleine Schwester zur Ordnung rufen. Frauen gehören schließlich in die Küche. Aber Jesus sagt: Nö, mach ich nicht.

Jesus soll Ordnung herstellen

Das ist eine Konstellation, die bei Jesus dauernd vorkommt: er verbreitet um sich herum Freiheit, Menschen atmen auf, und dann kommt irgendwer und sagt zu Jesus: ruf die zurück in die alte Ordnung! Sag deinen Jüngern, dass man am Sabbat keine Ähren vom Feld lesen darf! Sag ihnen, dass sie fasten müssen! Sag den Leuten, wie man sich im Tempel benimmt! Oder hier eben: sag meiner Schwester, dass sie in die Küche gehört! Und wahrscheinlich haben das auch die meisten Pastorinnen und Pastoren schon mal erlebt, dass jemand von ihnen verlangt hat: Sagen sie meinem pubertierenden Kind, dass es seine Eltern zu ehren hat! Sagen Sie Herrn Meier, dass er das Grab seiner Eltern besser pflegen muss!

Kirche als Hüterin der Ordnung, die die Menschen in ihre Schranken weist. Kirche als moralische Instanz, die mit göttlicher Autorität sagen soll: füg dich ein in die Ordnung der Gesellschaft! Viel zu oft hat sich die Kirche in diese Rolle drängen lassen, aber auf Jesus kann sie sich dabei nicht berufen. Der hat in solchen Situationen immer gesagt: Nö, mach ich nicht.

Jesus steht für Freiheit. Nicht die Freiheit des Stärkeren, von der die FDP immer geträumt hat und die Trump gerade in Amerika aufrichtet. Nicht die Freiheit, ohne Anstand und Rücksicht die Ellbogen auszufahren. Aber die Freiheit, unter den freundlichen Augen Gottes der Mensch zu sein, zu dem man berufen ist. Sich nicht von den Vorstellungen prägen zu lassen, wie man zu sein hat als Mann oder Frau, als alter oder junger Mensch, als Niedersachse oder als Bayer, als Studierte oder Hauptschulschüler, als Biodeutscher oder Migrantin. All diese Einteilungen werden bei Jesus bedeutungslos, bedeutungslos gegenüber der Frage, ob man sich vom Evangelium bewegen lässt, ob man immer mehr eintauchen möchte in das neue Leben von Freiheit und Liebe, das sich da ausbreitet, wo Jesus das Zentrum ist. Wo Gottes Reich herrscht, bringt es alle anderen Einteilungen durcheinander.

Was biblische Freiheit ist

Freiheit als abstraktes Ideal wird ganz schnell zur Willkür der Starken. Aber die Freiheit, zu der Jesus die Menschen ermutigt hat, erfüllt die Welt mit Freude und Zuversicht. Maria darf lernen! Sie darf denken! Sie darf teilnehmen an den Gesprächen dieser tollen Gemeinschaft. Wie schön ist das! Und wenn Marta viel lieber in der Küche werkelt, dann ist das auch ok. Aber vielleicht möchte sie ja eigentlich auch gern dabei sein und traut sich nur nicht, aus ihrer aufgezwungenen Rolle rauszukommen. Vielleicht erträgt sie die Freiheit von Maria nicht, weil sie die selbst gern hätte.

Aber warum muss sie sich selbst in die Küche verbannen? Niemand zwingt sie, das Gefängnis existiert nur in ihrem Kopf. Die ehemaligen Fischer Petrus und Andreas könnten doch bestimmt auch die Heringe ausnehmen und braten. Und hinterher waschen alle gemeinsam ab. Warum nicht? Organisier deinen Kopf neu, im Reich Gottes gibt es so viele Möglichkeiten, selbst in einer durch und durch patriarchalischen Gesellschaft wie es die Antike war. Und heute erst recht. Aber du musst dich trauen, auszuscheren, auch wenn alle anderen das doof finden.

Jesus bringt die gute Freiheit, für das ganze versklavte Land ebenso wie für diese kleine Hausgemeinschaft. Freiheit auf jedem Niveau. Aber die wirklichen Gefängnisse sitzen in den Köpfen, natürlich auch bei uns. Deswegen sind die Rebellinnen und Rebellen von gestern oft so schnell die Herren und Herrinnen von morgen. Jesus hat verstanden, dass die Freiheit sich in den Köpfen entscheidet. Da soll sie nicht enden, klar, aber ohne die Befreiung der Köpfe ändert sich nicht so viel.

Die bessere Wahl

Das Christentum ist eigentlich eine Befreiungsbewegung für die Köpfe. Es ist eine Lerngemeinschaft, wo man sich miteinander auf den Weg macht, um sich von den Selbstverständlichkeiten zu befreien, die wir alle mit der Muttermilch geschluckt haben. Und dadurch werden wir auch von den Menschen frei, die uns immer wieder sagen: geh an deinen Platz, wo du hingehörst!

Zur Freiheit wird niemand gezwungen, Marta darf auch in der Küche bleiben, wenn sie will, aber Maria hat den besseren Teil erwählt. So viel Klarheit muss sein. Wir sind Menschen, die wählen können. Wenn wir Gott unseren Verbündeten sein lassen, dann werden wir frei und keiner kann uns einschüchtern. Glücklich alle, die wie Maria den Ruf Jesu in die gute Freiheit hören und ihm folgen, selbst auf die Gefahr hin, dass sie Ärger mit Marta bekommen.