Von ganzem Herzen!
Predigt am 31. August 2003 zu Lukas 10,25-37
25 Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte Jesus und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? 26 Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du?
27 Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18). 28 Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.
29 Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster?
30 Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen. 31 Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. 32 Desgleichen auch ein Levit: als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber.
33 Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; 34 und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. 35 Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme. 36 Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?
37 Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!
Haben Sie gemerkt, wie Jesus am Ende der Geschichte die Frage nach dem Nächsten umgedreht hat? Man überhört das ganz schnell, weil es nicht in unser Bild von dieser Geschichte hineinpasst. Wir verstehen sie normalerweise so, wie der Schriftgelehrte gefragt hat: wir sagen, dass der Samariter Nächstenliebe übt, indem er seinem Nächsten hilft, der da verletzt am Straßenrand liegt. Und die Antwort auf die Frage: Wer ist mein Nächster? lautet dann: Der Nächste, das ist der Bedürftige und Hilflose, der uns in so einer Situation buchstäblich vor die Füße gelegt wird. Aber Jesus beendet die Geschichte eben nicht mit dem Worten: »siehst du, der Verletzte war sein Nächster.« Sondern er fragt: wer von den drei Leuten, die vorbeikommen, wer ist dem Verwundeten zum Nächsten geworden? Das heißt, nicht der Verwundete ist der Nächste, sondern es geht darum, wer von den möglichen Helfern ihm zum Nächsten wird.
Das heißt, Jesus korrigiert die Frage des Schriftgelehrten, er dreht sie um, weil etwas daran nicht stimmt. Lukas weist uns ja schon am Anfang darauf hin, dass der Schriftgelehrte nicht wirklich ehrlich fragt. Der stellt Jesus die typische religiöse Frage: Was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen? Er meint damit das Leben nach dem Tod, er fragt also in unseren heutigen Worten: was muss ich tun, um in den Himmel zu kommen?
Er hatte da aber selbst kein Problem mit, er wusste ja die Antwort, er war um sein Seelenheil nicht besorgt, aber er wollte anscheinend testen, ob Jesus da auf Linie lag und die richtigen Antworten gab. Und das ist vermintes Gelände, da kann man schnell mal das Falsche sagen, weil wir eben nicht Gott sind und das Jüngste Gericht nicht aus Gottes Perspektive sehen.
Na gut, aber Jesus lässt sich nicht so einfach einer Prüfung unterwerfen. Er fragt stattdessen zurück. Bin ich denn der Schriftgelehrte? Du musst doch wissen, was man tun muss, du weißt doch, was in der Bibel steht! Ja, und da zeigt sich: natürlich kennt der Mann die Antworten. Er muss sie selber zitieren, weil er sonst dumm da stände. Und er zitiert 5. Mose 6,5:
Und er fügt 3. Mose 19,18 hinzu:
Und Jesus sagt: Ja, prima, stimmt, also – wo ist das Problem? Tu es, und du wirst leben! Was hast du gegen deine eigene Antwort?
Mit drei kurzen Sätzen hat er den Mann entlarvt, dass der nämlich gar keine echte Frage gestellt hat, sondern ein bisschen testen wollte. Aber gleichzeitig peilt Jesus heimlich schon die Stelle an, die bei dem Mann und seiner Frage wirklich das Problem ist. Und tatsächlich, es geht ja weiter. Der Schriftgelehrte kann es nicht auf sich sitzen lassen, das er entlarvt dasteht, er will aus der ganzen Sache nun doch mit Gewalt ein Problem machen, und also diskutiert er weiter: ja, wer ist denn mein Nächster?
Darüber kann man natürlich lange Diskussionen führen: ob man zuerst der eigenen Familie helfen soll oder armen Nachbarn, ob man einem Bettler Geld geben oder lieber mit Brot für die Welt den fernen Nächsten unterstützen soll. Oder, wenn man an die Geschichte vom Samariter denkt, ob der Mann am Straßenrand der Nächste ist oder nicht doch die ganzen Leute in Jerusalem, die auf den Priester warten, damit der Gottesdienst pünktlich anfangen kann. Und damals bei den Juden war es ja auch die Frage, ob die Samaritaner zu den Nächsten gehören oder nicht. Die Samaritaner waren halbe Juden, sie hatten eine stark gekürzte Bibel und erkannten den Tempel in Jerusalem nicht an, waren also Leute mit einem fragwürdigen Glauben. Sind das auch meine Nächsten, muss ich die auch lieben? Oder nicht? Da kann man lange diskutieren. Und irgendwann wird sich Jesus schon im Gestrüpp theologischer Lehrmeinungen verheddern … Aber Jesus, wie immer, dreht den Spieß um. Er macht den Fragesteller zum Thema.
Denn, liebe Freunde, was verrät der Schriftgelehrte in Wirklichkeit mit seiner Frage »Wer ist denn mein Nächster?«, auch wenn er sie vielleicht nur gestellt hat, »um nicht dumm dazustehen? Was verrät er damit über sich selbst?
Er zeigt, dass er in Wirklichkeit gar nicht weiß, was Liebe ist, er zeigt, dass sein Herz kalt ist. Denn er fragt ja in Wirklichkeit, wenn man es ein bisschen überzeichnen will: wen alles muss ich lieben, und bei wem kann ich mir das sparen? Man kann doch nicht alle Menschen lieben, also: wen muss ich mindestens lieben? Ich möchte eigentlich möglichst sparsam mit meiner Liebe umgehen, aber bei wem kann ich es leider nicht vermeiden, ihn lieben zu müssen? Er fragt nach dem Unvermeidlichen, nach dem Minimalaufwand, mit dem er seine Verpflichtungen erfüllt hat. So wie ein Schüler vielleicht fragt: reicht es, wenn ich die Lektion 5 lerne, oder muss ich auch noch die Lektion 4 wiederholen?
Aber im Ernst: so redet Liebe doch nicht! Stellen Sie sich vor, ein Ehepartner würde zum andern sagen: Ich habe jede Woche zwei Abende mit dir verbracht, ich habe mir eine Stunde lang die Klagen über deinen Chef angehört, ich habe dir zum Geburtstag den DVD-Player geschenkt, den du immer haben wolltest, ich habe mich nie gesträubt, meine ehelichen Pflichten zu erfüllen, ich habe dir jeden Freitag gesagt, dass ich dich liebe, das reicht doch wohl, was soll ich denn noch alles machen?
Was sagt einer damit über sich selbst? Er sagt: In Wirklichkeit bist du mir eine Last! Ok, ich bin bereit, diese Last ein Stück weit zu tragen, aber es bleibt dabei: du bist eine Last für mich.
Und genauso sagt der Schriftgelehrte: ja, die Nächsten sind schon eine Last, man muss sie leider tragen, aber irgendwo muss doch auch mal Schluss sein. Verstehen Sie, nicht dass jeder Mensch seine Grenzen hat, ist das Problem, sondern dass der so sparsam wie möglich mit seiner Liebe umgehen will, weil lieben für ihn eigentlich nichts ist, was er gerne tut, sondern es ist eine Last, um die er leider nicht herumkommt.
Diese Sicht ist das Schicksal vieler Menschen, die im christlichen oder jüdischen Umfeld groß geworden sind. Sie haben verstanden, dass man etwas für seine Mitmenschen tun soll, weil Gott das so will, aber sie empfinden es als Last, als unangenehme Pflicht, und dann ist es klar, dass man wissen will, wann man diese Pflicht endlich erfüllt hat. Aber ist das Liebe? Nächstenliebe?
Gegen diese freudlose Sicht der Liebe stellt Jesus die Geschichte vom Samariter. Als der da lang kommt und den Verletzten liegen sieht, was ist das erste, was passiert? Guckt er nach den Wunden, schaut er, ob die Räuber weg sind? Guckt er auf die Uhr, wieviel Zeit er noch hat? Nein, als erstes heißt es: er hatte Mitleid. Das ist der Punkt. Es geht um die Motivation. Der konnte einfach nicht vorbeigehen und den Mann liegenlassen. Die anderen konnten es. Die überlegten, ob sie verpflichtet wären, dem Mann zu helfen, sie kamen zu dem Schluss, dass die Gefahr so groß und der Gottesdienst so wichtig sei, dass niemand das von ihnen verlangen könne, und sie gingen weiter. Der Samariter konnte nicht weitergehen, weil er Erbarmen mit dem Mann hatte. Er konnte ihn einfach nicht da liegenlassen, dem tat das einfach weh, zu sehen, was mit dem Mann passiert war. Und deshalb griff er zu und tat, was nötig war.
Verstehen Sie jetzt, warum Jesus die Frage »Wer ist denn mein Nächster?« umgedreht hat? Er sagt: die Frage ist nicht, wem du leider helfen musst, weil er dir nahe ist, eben Nächster. Die Frage ist: willst du denn nicht so nahe an einen anderen herankommen, dass du den Ruf hörst, der von ihm ausgeht? Willst du denn nicht einem anderen zum Nächsten werden? Es geht nicht darum, bestimmte Standards abzuhaken, damit man weiß, dass man Gottes Gebot erfüllt hat, sondern es geht darum, dass unser Herz Erbarmen fühlen kann, und dann danach handelt, aus sich selbst heraus. Jesus schaut auf die Motivation eines Menschen. Nächstenliebe besteht nicht darin, dass wir Vorschriften befolgen, um keinen Ärger mit Gott zu haben. Es geht darum, dass wir einem Menschen helfen wollen, weil wir Erbarmen haben und nicht anders können und nicht anders wollen. Dann werden wir leben.
Und nun fällt von dieser Samaritergeschichte aus noch einmal Licht auf den Anfang der ganzen Episode. Wenn der Schriftgelehrte am Anfang fragt: was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen? dann behandelt er ja Gott im Grunde genauso: er fragt nach den unvermeidlichen Bedingungen, die er erfüllen muss, um in den Himmel zu kommen. Der Himmel ist das Ziel, und Gott ist das Mittel zu diesem Zweck. Und der Schriftgelehrte merkt gar nicht, dass die Antwort, die er selbst gibt, diese Frage sprengt: Kann man Gott lieben, von ganzem Herzen, mit ganzer Seele, mit aller Kraft, wenn man ihn als Mittel zu einem anderen Zweck benutzt?
Es ist unsere Bestimmung, Gott selbst von ganzem Herzen zu lieben. Wir sollen erfüllt sein von der tiefen Freude, dass Gott so ist, wie er ist. Wenn man dran denkt, was für schreckliche und bescheuerte Götter Menschen sich schon ausgedacht haben, Götter, die hinter menschlichen Frauen her sind, Götter, die zur Herrschaft jedes Tyrannen Ja und Amen sagen, Götter, die ihre Anhänger in Furcht und Schrecken halten, Götter, denen Menschen geopfert werden, und auch die modernen Götter wie der Markt und der Mammon, die ihre Menschenopfer fordern und die Erde verwüsten: was für ein Glück ist es, dass unser Gott anders ist! Es wäre nicht auszudenken, wenn auch nur einer von diesen ganzen ausgedachten Göttern real wäre! So viele Menschen haben sich schon als Gott ausgegeben, wahnsinnige Kaiser und andere Figuren, aber was für ein Glück haben wir, dass ausgerechnet Jesus der wahre Gott ist! Stellen Sie sich doch mal einen Moment vor, es wäre anders! Das wäre entsetzlich. Aber ausgerechnet dieser Gott voll Erbarmen und Mitgefühl und Engagement für die Armen, genau dieser Gott ist der wahre und einzige Gott.
Und wir können nur sagen: danke, dass du es wirklich bist, dass du genau so bist, wie du bist, kein bisschen anders. Und ich liebe dich, und jeder Fetzen meiner Seele soll das wiederspiegeln, jede Handlung von mir soll etwas davon ausdrücken, ich will etwas davon mitbringen, wenn ich ein Zimmer betrete, und kein Gedanke von mir soll davon unberührt bleiben. Und wenn ich unter Menschen war, die das alles nicht so sehen, dann schlage ich meine Bibel auf und spüre wieder den Geist, der da herausweht und sage: wie schön, dass du so anders bist. Ich kann nicht genug von dir bekommen.
Ja, ich würde es gerne noch besser ausdrücken können, aber ich hoffe, ihr versteht: in diese Richtung jedenfalls muss es gehen. Freude über diesen Gott, den es wirklich gibt, eine tiefe Liebe zu seiner ganzen Art, weil sie einfach so überzeugend und wohltuend ist. Wenn dieser Gott all seine Macht verlieren würde und das Böse in der Welt am Ruder wäre, würden wir ihn dann immer noch lieben, einfach für das, was er ist? Das ist die Frage.
Aber dann kommt dieser Schriftgelehrte, zitiert auch noch diese herrliche Bibelstelle von der Hingabe unseres ganzen Seins, und dann diskutiert er weiter, als ob nichts gewesen wäre: was muss ich denn nun mindestens tun, um in den Himmel zu kommen? Reicht es, wenn ich beim Fasten nichts esse, oder muss ich auch aufs Trinken verzichten? Reicht es, wenn ich Weihnachten zur Kirche gehe, oder muss ich auch zwischendurch noch hin?
Er hat keine Ahnung. Er hat wirklich keine Ahnung von dieser tiefen Begeisterung über Gott. Und er wird es am schwersten haben, das ewige Leben zu erben, gerade weil er so scharf darauf ist.
Man muss zugeben: Wir kommen fast alle nicht so zu Gott, wie wir sollten. Normalerweise wollen wir ihn zuerst für unsere Zwecke einspannen. Der eine braucht Hilfe in der Not, der andere braucht Trost, der Dritte hat Angst vor dem, was nach dem Tod auf ihn wartet, noch ein anderer sucht eine Bestätigung für die politische Meinung, die er sowieso schon immer hatte. Wir alle versuchen zuerst, Gott für unsere Zwecke einzuspannen. Aber dann kommen wir irgendwann an den Punkt, wo es kippen muss, wo wir nicht mehr Gott als Mittel für unsere Zwecke einsetzen, sondern wo wir von ihm überwältigt sind, und wo er uns wichtiger wird als die Ziele, für die wir ihn mal einspannen wollten. Wo wir anfangen, ihn selbst zu lieben und nicht die Vorteile, die wir durch ihn haben. Manchmal sorgt er sogar dafür, dass uns diese Vorteile und Segnungen wieder genommen werden, damit wir uns darüber klar werden können, ob wir ihn selbst lieben oder nur seine Geschenke. So war das bei Hiob.
Wir sind zur Hingabe geschaffen, zur Hingabe an etwas, das größer ist als wir selbst. Und Gott ist der Einzige, der unserer Hingabe würdig ist. Dass wir Ihn lieben mit allem, was wir sind, und ebenso unseren Nächsten, das ist sein Ziel mit uns. Es geht nicht um das Minimum, das wir pflichtschuldigst erfüllen müssen. Es geht um das Maximum unserer Verbindung mit ihm.