Unabhängig am Rand
Predigt am 23. März 2014 zu Lukas 9,57-62
57 Als sie auf ihrem Weg weiterzogen, redete ein Mann Jesus an und sagte: Ich will dir folgen, wohin du auch gehst. 58 Jesus antwortete ihm: Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann.
59 Zu einem anderen sagte er: Folge mir nach! Der erwiderte: Lass mich zuerst heimgehen und meinen Vater begraben. 60 Jesus sagte zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh und verkünde das Reich Gottes!
61 Wieder ein anderer sagte: Ich will dir nachfolgen, Herr. Zuvor aber lass mich von meiner Familie Abschied nehmen. 62 Jesus erwiderte ihm: Keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat und nochmals zurückblickt, taugt für das Reich Gottes.
Es ist noch gar nicht lange her, dass Menschen normalerweise ein ganzes Leben lang in einem Ort wohnten. Und nicht nur, dass sie ein Leben lang im gleichen Ort wohnten und ein Leben lang mit ungefähr den gleichen Menschen zu tun hatten – sie reisten auch nicht. Es gab ein paar Ausnahmen – z.B. wenn die Männer in den Krieg zogen, dann kamen sie manchmal sehr weit herum, aber das war vielleicht einmal im Leben. Und von dieser einen großen Reise in die Welt haben sie dann ein Leben lang erzählt.
Eine kleine, eng begrenzte Welt
Oder im Mittelalter, wenn man auf Pilgerfahrt gegangen ist, vielleicht nach Santiago in Spanien, das war das große Abenteuer, das reichte für ein ganzes Leben – wenn man überhaupt lebend zurück kam. Aber das waren wenige. Normalerweise lebte man in seiner überschaubaren lokalen Nachbarschaft.
Können Sie sich vorstellen, wie das ist, wenn man kein Radio und kein Fernsehen hat, wenn man sein Dorf nie verlässt und immer mit denselben Menschen zusammen ist? Vielleicht kam ab und zu mal ein Händler ins Dorf, aber das war es auch schon. Das war ein sehr stabiles System, da änderte sich auch in vielen Generationen wenig. So haben die meisten Menschen bis vor noch gar nicht langer Zeit gelebt.
Und können Sie sich denken, wie schwer das da gewesen sein muss, sich etwas anderes als das, was man schon immer kannte, auch nur vorzustellen?
Ein Volk, das unterwegs zum Volk wurde
Es gab in der alten Welt nur wenige Ausnahmen von dieser Lebensweise. Eine davon waren die Juden, das Volk Israel. Einmal deswegen, weil sie, wenn es irgend ging, immer wieder zum Tempel nach Jerusalem reisten, manchmal ein paar Mal im Jahr. Das waren mehrere Tage zu Fuß. Und dort beim Tempel trafen sie bei den großen Festen Menschen aus aller Welt, Jerusalem war dann international. Das muss eine ziemliche Horizonterweiterung gewesen sein.
Und bei diesen Festen erinnerten sie sich an die großen Reisen, von denen die Geschichte ihres Volkes geprägt war: der Aufbruch Abrahams in ein unbekanntes Land. Josef, der als Sklave nach Ägypten verkauft wird. Schließlich der Auszug aus Ägypten, durch die Wüste ins verheißene Land Kanaan, die Geschichte, die im Mittelpunkt des Passafestes steht. Die Verschleppung nach Babylonien und die Rückkehr. Immer wieder ist das Volk Gottes unterwegs gewesen. Im Grunde waren es diese langen Wege, auf denen sie zu einem Volk wurden, und zwar zu Gottes Volk. Mir würde kein anderes Volk einfallen, das sozusagen auf der Reise zu einem Volk geworden ist.
Dass nun Jesus mit seinen Jüngern dauernd unterwegs war, von Dorf zu Dorf, und im zweiten Teil seines Wirkens mit dem ausdrücklichen Ziel Jerusalem, das knüpfte also an wichtige Überlieferungen seines Volkes an. Da war dieses Unterwegs-Sein schon vorbereitet. Und trotzdem muss es für seine Nachfolger ein gewaltiger Schritt gewesen sein, alles andere hinter sich zu lassen und sich mit Jesus auf den Weg zu machen.
Ein patriarchalischer Familienverband
Man lebte ja trotz der Pilgerfahrten nach Jerusalem nicht nur in seinem Dorf, sondern vor allem auch in seinem Familienverband. Das war eine patriarchalische Welt, in der das Familienoberhaupt die Entscheidungen traf, auch wenn in Israel das schon immer ein Stück in Frage gestellt war, weil Israels Gott sich ganz oft Menschen aussuchte, die in der Hierarchie unten standen. Man denke nur an den König David, der der jüngste Sohn seines Vaters war.
In vielen Teilen der Welt ist das Patriarchat aber bis heute das grundlegende Lebensmodell, und die Rebellionen in der arabischen Welt und anderswo, die wir zur Zeit erleben, die sind nicht nur ein Aufstand gegen patriarchalische Diktatoren, sondern auch eine Befreiungsversuch von der ganzen Kultur, in der man im Alltag lebt. Und dieser Kampf ist beileibe noch nicht entschieden, sondern geht immer noch hin und her.
In der Lesung aus dem Epheserbrief (5,1-8a) vorhin hatten wir ein Zeugnis von so einem Kampf um das Freiwerden von dieser alten gewalttätigen Kultur, die so viele Schattenseiten hervorbringt. Es ist ein Kampf darum, das ganze Koordinatensystem auszutauschen und die Welt mit einer neuen Brille zu sehen, neue Selbstverständlichkeiten einzuüben und auf Verhaltensmuster zu verzichten, die bis dahin selbstverständlicher Teil des Lebens waren.
Wenn also Jesus von seinen Jüngern erwartet, dass sie ihr Dorf verlassen und mit ihm auf Wanderschaft gehen, dann geht es dabei um einen Ausstieg aus den Bindungen, mit der sie an ihre Sippe und an ihre Heimat gebunden sind. Er bringt sich und seine Jünger bewusst in eine Randlage, außerhalb des normalen Regelwerks der Gesellschaft, und dort, im Abseits, formt er aus seinen Jüngern den Kern eines neuen Volkes. Immer wieder geht er mit ihnen in Gegenden, wo keine Menschen sind, oder ins Ausland, wo ihn keiner kennt, oder er fährt mit ihnen im Boot über den See Genezareth, wo sie unbelauscht sind, und da redet er dann Klartext mit ihnen. Heute würde er den Jüngern wahrscheinlich vorher noch sagen, dass sie den Akku aus den Smartphones nehmen sollen, damit sich der Geheimdienst nicht zuschalten kann.
Geteilte Loyalität?
Und deswegen kann er keine Jünger brauchen, die mit halbem Herzen noch in ihren Sippen gefangen sind. Wenn da einer sagt: ich will mich noch von meinen Leuten verabschieden, dann ist es ja gar nicht unwahrscheinlich, dass sich der Abschied ewig hinzieht, und sie ihm zu Hause 1000 Versprechungen abpressen, dass er bald wiederkommt und sie nicht vergisst und dass es ja nur für eine begrenzte Zeit ist, und dann ist der Mann in diesen Versprechungen gebunden, sein Herz ist nicht frei, und er wird immer hin und her schwanken zwischen der Loyalität zu seinen Leuten und der Nachfolge Jesu.
Oder wenn ein anderer sagt: ich will erst meinen Vater begraben, da gibt es zwei Möglichkeiten der Auslegung: entweder ist der Vater gerade gestorben, und es geht tatsächlich um die Ausrichtung der Trauerfeier; oder er meint damit: mein Vater ist schon alt, lass mich warten, bis er tot ist, und dann komme ich mit. In jedem Fall würde auch er versuchen, seine Loyalität irgendwie aufzuteilen: ich gebe dem Vater, dem Familienoberhaupt, das, was ich ihm nach Herkommen und Sitte schuldig bin, und dann folge ich dem Ruf Jesu aus Herkommen und Sitte heraus. Das passt nicht zusammen.
Wenn man mit Gott auf Reisen geht, dann muss man es mit ganzem Herzen tun. Schon als Israel aus der ägyptischen Sklaverei floh, gab es Leute, die nach ein paar Wochen am liebsten wieder zurück wollten, weil ihnen die Freiheit unheimlich war. Die hätten beinahe das ganze Unternehmen scheitern lassen. Das wollte Jesus nicht riskieren. Ich vermute, er hat die Geschichten vom Auszug gut studiert und daraus gelernt.
Einfluss vom Rand aus
Deshalb sagt Jesus dem dritten, der mit ihm mitkommen will, von vornherein: ich bin heimatlos, und wenn du mitkommen willst, musst du dieses Schicksal teilen. Ich habe keinen Ort, wo ich mein Haupt zur Ruhe betten kann. Damit ist natürlich nicht gemeint, dass Jesus nie schläft, sondern dass er keinen festen, geschützten Platz in der Gesellschaft hat, dass er überall nur zu Gast ist. Dass er nicht in der Mitte der Gesellschaft verankert ist, sondern irgendwo am Rand steht, im Abseits. Nur so kann er etwas anderes aufbauen.
Aber das hat einen Preis. Man hat am Rand nicht die Sicherheit, die eine Sippe ihren Mitgliedern gibt oder die die Gesellschaft ihren Gliedern gibt. Am Ende wird Jesu Platz am äußersten Rand der Gesellschaft sein, am Kreuz, da wo überhaupt keine Sicherheit und kein Schutz mehr ist. Wer etwas Neues schaffen will, der muss dieser Gefahr ins Auge sehen, dass er dann auf die Sicherheit des Alten verzichten muss, auch wenn das nicht immer gleich den Tod bedeutet. Aber grundlegend verändern kannst du nur vom Rand aus.
Die Stabilität von Organisationen
Warum ist das so? Weil alle Institutionen und ihre Denkmuster unglaublich zäh sind. Du kannst nicht einfach kommen und aus dem sprichwörtlichen Kaninchenzüchterverein – sagen wir mal – einen Computerclub machen. Jede Organisation hat Regeln und Motive, nach denen sie funktioniert, und die Menschen, die dort Mitglied sind, wollten genau dort Mitglied sein, weil ihnen diese Regeln gefielen. Sie lieben Kaninchen – warum sollten sie auf Computer umsatteln? Oder sie sind schon seit Geburt Mitglied und können sich gar nichts anderes vorstellen. Es mag sein, dass irgendwann niemand mehr Kaninchen züchtet, und dann wird der Verein sterben, aber ein Computerclub wird er nie werden. Wenn du den willst, musst du ihn selbst neu gründen.
Bei Vereinen klingt das ja noch lustig, aber wenn man an ganze Gesellschaften denkt, dann wird einem klar, wie schwierig es ist, die auf eine neue Geschäftsgrundlage zu stellen. Das geht, wenn überhaupt, nur im Krieg oder durch Revolution, und der Preis dafür ist immer hoch. Russland ist im Augenblick das traurige Beispiel dafür, wie ein Land von dem alten autoritären Regime-Stil der Zaren nicht loskommt, trotz aller Revolutionen und Umbrüche des 20. Jahrhunderts, die Millionen Opfer gekostet haben.
Jesus geht einen anderen Weg: er baut am Rand, im gesellschaftlichen Abseits, ein neues Volk auf, und dieses Volk wird für die ganze Welt zur göttlichen Alternative werden. Und diese Alternative hat in vielen Augenblicken auf die Gesellschaften eingewirkt und dafür gesorgt, dass sie sich weiterentwickelt und transformiert haben. Diese Art von Revolution kostet keine Opfer, außer bei den Leuten Jesu, die manchmal massiv unter Druck geraten, wenn die Gesellschaften die Alternative, die sie verunsichert, auslöschen wollen.
Auf neuem Grund bauen
Dafür müssen die Jünger Jesu bereit sein, alle ihre Bindungen hinter sich zu lassen, weil sie sonst in das Neue, was da entsteht, die ganzen alten Muster einschleppen würden. Jesus hatte schon so genug zu kämpfen mit den Machtspielchen unter den Jüngern. Da brauchte er nicht noch Familienclans, die an ihnen ziehen und zerren. Er hatte das ja selbst erlebt, wie Mutter Maria und seine Geschwister versuchten, ihn zurückzuholen. Anschließend ging er zum See Genezareth und stieg um ins Boot, um noch größere Unabhängigkeit zu haben.
Es geht also bei all den Verzichten, die Jesus von seinen Jüngern fordert, in erster Linie gar nicht ums Aufgeben. Es geht nicht darum, dass sie mit einem großen Opfer zeigen, wieviel er ihnen wert ist. In erster Linie geht es darum, dass sie unabhängig werden. Es ist ganz praktisch gedacht. Sie sollen Abstand bekommen, von der alten Ordnung, in der sie vorher dringesteckt haben. Nur so kann die neue Ordnung entstehen, die Jesus mit ihnen aufbaut. Er hat sich ja viel mehr vorgenommen, als nur aus einem Kaninchenzüchterverein einen Computerclub zu machen. Er will den Keim einer neuen Welt legen, die Grundlagen für einen neuen Himmel und eine neue Erde.
Dafür ist es ja wohl nicht zu viel verlangt, wenn er zu Menschen, die seine Jünger werden sollen, sagt: lasst alles andere hinter euch, vor allem eure Selbstverständlichkeiten und deren Vertreter, und konzentriert euch auf diese Mission. Ich bin euch nicht böse, wenn ihr es euch noch mal überlegt, aber versteht bitte: ohne dass ihr meinen Bruch mit der alten Welt nachvollzieht, könnt ihr nicht meine Jünger sein. Ich will euch ja nicht schikanieren, aber ohne geht es einfach nicht. Das liegt in der Natur der Sache. Und die größte Last verlange ich nicht von euch – die werde ich selber übernehmen.