Ohne Furcht vor der Berührung
Besonderer Gottesdienst (Segnungsgottesdienst) am 10. Mai 2015 mit Predigt zu Lukas 7,36-50
In diesem Gottesdienst konnte man sich an Stationen in der Kirche segnen lassen; es gab auch Karten mit Segensworten und die Gelegenheit, Gebete aufzuschreiben und eine Kerze anzuzünden.
36 Jesus ging in das Haus eines Pharisäers, der ihn zum Essen eingeladen hatte, und legte sich zu Tisch. 37 Als nun eine Sünderin, die in der Stadt lebte, erfuhr, dass er im Haus des Pharisäers bei Tisch war, kam sie mit einem Alabastergefäß voll wohlriechendem Öl 38 und trat von hinten an ihn heran. Dabei weinte sie und ihre Tränen fielen auf seine Füße. Sie trocknete seine Füße mit ihrem Haar, küsste sie und salbte sie mit dem Öl.
39 Als der Pharisäer, der ihn eingeladen hatte, das sah, dachte er: Wenn er wirklich ein Prophet wäre, müsste er wissen, was das für eine Frau ist, von der er sich berühren lässt; er wüsste, dass sie eine Sünderin ist. 40 Da wandte sich Jesus an ihn und sagte: Simon, ich möchte dir etwas sagen. Er erwiderte: Sprich, Meister! 41 (Jesus sagte:) Ein Geldverleiher hatte zwei Schuldner; der eine war ihm fünfhundert Denare schuldig, der andere fünfzig. 42 Als sie ihre Schulden nicht bezahlen konnten, erließ er sie beiden. Wer von ihnen wird ihn nun mehr lieben? 43 Simon antwortete: Ich nehme an, der, dem er mehr erlassen hat. Jesus sagte zu ihm: Du hast recht.
44 Dann wandte er sich der Frau zu und sagte zu Simon: Siehst du diese Frau? Als ich in dein Haus kam, hast du mir kein Wasser zum Waschen der Füße gegeben; sie aber hat ihre Tränen über meinen Füßen vergossen und sie mit ihrem Haar abgetrocknet. 45 Du hast mir (zur Begrüßung) keinen Kuss gegeben; sie aber hat mir, seit ich hier bin, unaufhörlich die Füße geküsst. 46 Du hast mir nicht das Haar mit Öl gesalbt; sie aber hat mir mit ihrem wohlriechenden Öl die Füße gesalbt.
47 Deshalb sage ich dir: Ihr sind ihre vielen Sünden vergeben, weil sie (mir) so viel Liebe gezeigt hat. Wem aber nur wenig vergeben wird, der zeigt auch nur wenig Liebe. 48 Dann sagte er zu ihr: Deine Sünden sind dir vergeben. 49 Da dachten die anderen Gäste: Wer ist das, dass er sogar Sünden vergibt? 50 Er aber sagte zu der Frau: Dein Glaube hat dir geholfen. Geh in Frieden!
Dies ist eine Geschichte, in der Berührung eine zentrale Rolle spielt: eine Frau, die zu Jesus kommt und seine Füße mit ihren Tränen benetzt, ihm die Füße salbt und sie küsst. Wer Freunde mit einem eher orientalischen Kulturhintergrund hat, der weiß, wie sehr da alles als schmutzig gilt, was mit der Erde in Berührung kommt: man zieht die Schuhe aus, bevor man in die Wohnung geht; und jemanden mit einem Schuh zu schlagen, ist ein Zeichen größter Verachtung. Indem die Frau so intensiv die Füße Jesu berührt, macht sie sich freiwillig ganz, ganz klein. Sie stellt sich ganz nach unten.
Es wird nicht gesagt, ob sie vorher schon Jesus begegnet ist und ob er etwas für sie getan hat. Es gibt anscheinend ganz viele Jesusgeschichten, die nie aufgeschrieben worden sind, und nur ab und zu merkt man, dass da noch viel mehr gewesen sein muss. Vielleicht ist Jesus auch nur einfach in ihrer Welt aufgetaucht als ein Zeichen, das ihr Hoffnung gegeben hat, als jemand, der ihr geholfen hat, sich mit neuen Augen zu sehen. Und jetzt kommt sie in diese Männerwelt hinein, in der sie eigentlich keinen Platz hat, und bringt die gehörig durcheinander.
Eine sehr fremde Welt
Mit ihrer Geste macht sie eigentlich nur sichtbar, was sowieso für alle feststeht: dass sie ganz unten in der Rangordnung steht. Erstmal sowieso als Frau in einer patriarchalischen Umwelt, und dann noch als Frau, die anscheinend außerhalb der normalen Positionen steht, die diese Gesellschaft Frauen immerhin anzubieten hat. Aber sie ist tatsächlich in dieser Gesellschaft nur ein Stück Dreck.
Wir in unserer aufgeklärten Gesellschaft heute können uns wahrscheinlich da überhaupt nicht hineindenken, wie es sich anfühlt, in einer Welt zu leben, in der es ganz selbstverständlich oben und unten gibt, wo es ziemlich viele Menschen gibt, von denen jeder weiß, dass sie keine Würde haben, dass sie Dreck sind, oder dass sie – wie Sklaven – den Status einer Sache haben.
Aber diese Frau hat auf irgendeine Weise erlebt, dass sie bei Jesus kein Dreck ist. Das muss für sie eine überwältigende Erfahrung gewesen sein – auch das ist für uns heute in einer demokratischen Gesellschaft kaum auch nur annäherungsweise nachvollziehbar. Und sie zeigt ihre Dankbarkeit, indem sie sich nun freiwillig ganz tief nach unten stellt. Zum ersten Mal in ihrem Leben wird ihr das nicht ungefragt zugeschrieben, sondern sie hat eine Wahl, sie tut es freiwillig. Es ist ihre eigene Sache. Das ist die einzige Art, wie sie ausdrücken kann, was ihr geschehen ist, und Jesus versteht sie. Über alle gesellschaftlichen Rangstufen hinweg schafft sie so zwischen sich und Jesus eine Verbindung, ein Einverständnis, und das ist viel tiefer als die Verbindung zwischen Jesus und seinem Gastgeber, die gesellschaftlich auf der gleichen Stufe stehen.
Eine ungeahnte Art von Beziehung
Mitten in dieser förmlichen Welt der guten Bürger, wo man einigermaßen höflich miteinander umgeht, auch wenn man sich nicht leiden kann, da wird durch diese Frau sichtbar, welche Tiefe menschliche Beziehungen haben können. Jenseits von Rangordnung, Ansehen, Position und Geld gibt es eine persönliche Verbundenheit, die etwas widerspiegelt von der Art, in der Gott mit seinen Menschen verbunden ist. Jesus und sie, die gesellschaftlich ganz weit auseinander liegen, sind im Wissen um diese Art von Beziehung aufs engste verbunden. Sie kann nicht einfach beschließen, dass für sie die Begrenzungen ihrer Kultur nicht mehr gelten – das kann niemand. Aber sie findet im Rahmen ihrer Kultur einen Weg, um mit Jesus auf diese ganz andere Art zu kommunizieren. Und er zeigt ihr, dass er sie verstanden hat und bestätigt sie.
Und die anständigen Bürger im Raum spüren, dass da etwas Tiefes passiert, wozu sie keinen Zugang haben, und können damit nicht umgehen. Die Frau tut ja nichts Verbotenes, sie verhält sich so demütig, wie es ihrem gesellschaftlichen Status angemessen ist. Deswegen richtet sich das Augenmerk auf Jesus: der müsste das stoppen. Der müsste sie am besten zurückweisen, ihr sagen: hör auf damit! – und sie damit grausam enttäuschen.
Angst vor Berührung
Wir sehen hier, wie alle möglichen gesellschaftlichen Konventionen, all diese »man tut das nicht«-Regeln auch immer die Funktion haben, uns abzuschirmen vor dieser tiefen Berührung, wenn wir auf die Wirklichkeit Gottes stoßen. Denn wir sind so verletzlich, wenn unser Herz offen liegt. Wir sind so auf die Gnade anderer angewiesen, wenn wir erkennbar werden in unserer Schutzlosigkeit und Bedürftigkeit. Und wenn ein Mensch wie diese Frau sich freiwillig so verletzlich macht – das ist einfach peinlich. Das erinnert an die eigene Schutzlosigkeit, die wir aus guten Gründen mit Status und Outfit übermalen. Jugendliche kichern in solchen Momenten, Erwachsene verdrehen die Augen oder sagen: das tut man nicht. Aber wenn wir mit Gottes Sphäre in Berührung kommen wollen, dann müssen wir diesen Schutz weglassen. Der wahre Gott lässt sich anders nicht finden.
Nicht ohne den Körper
Und es ist erstaunlich, wie oft so eine Berührung mit der verborgenen Segenswelt Gottes tatsächlich mit körperlicher Berührung verbunden ist. Natürlich die Segensgeste, das Handauflegen. Aber genauso das Abendmahl – Essen ist ja etwas sehr körperliches. Oder die Taufe, die eigentlich den ganzen Körper eines Menschen unter Wasser drückt. Und in dieser Geschichte die Frau, die mit ihren Tränen, ihren Händen und ihren Haaren die Füße Jesu berührt.
Immer wieder kommen wir mit Leib und Seele vor. Und immer geht es darum, dass wir durch alle neutralen, sachlichen Schutzschichten hindurch mit der Tiefe Gottes verbunden werden, die im Hintergrund der Schöpfung verborgen ist. Hinter allem stoßen wir auf keine stumme Materie und auf keine ungerührten Naturgesetze, sondern auf den Vater des Lebens, der alles bewässert mit dem lebendigen Strom seiner Liebe.
Die geheime Bruder- und Schwesternschaft
Du kannst dich dagegen abschotten: mit Denksystemen und Statussystemen, mit einem Titel und mit Geld, mit Ironie und mit Arroganz, mit Arbeit und Betriebsamkeit, mit einem Sack voll kleiner Alltagsweisheiten. Aber wenn du das tust, dann schneidest du dich vom wahren Leben ab. Du verdorrst und vertrocknest und am Ende guckst du verbissen vom vielen Zähnezusammenbeißen. Wenn du dich aber öffnest für diesen Strom des Segens, dann trittst du der geheimen Bruder- und Schwesterschaft bei, die das Geheimnis dieser Welt entdeckt hat und damit lebt. Überall hat Gott seine Segensspuren verstreut. Er kennt mehr Wege in diese Welt, als Menschen versperren können. Und wir entdecken unser echtes Menschsein, unsere Berufung und unsere Begnadung, wenn wir verwurzelt sind am Wasser seines Lebens.