Widerstand gegen den Tod
Predigt am 30. September 2012 mit Lukas 7,11-16
1 Einige Zeit später ging Jesus in eine Stadt namens Naïn; seine Jünger und eine große Menschenmenge folgten ihm. 12 Als er in die Nähe des Stadttors kam, trug man gerade einen Toten heraus. Es war der einzige Sohn seiner Mutter, einer Witwe. Und viele Leute aus der Stadt begleiteten sie.
13 Als der Herr die Frau sah, hatte er Mitleid mit ihr und sagte zu ihr: Weine nicht! 14 Dann ging er zu der Bahre hin und fasste sie an. Die Träger blieben stehen und er sagte: Ich befehle dir, junger Mann: Steh auf! 15 Da richtete sich der Tote auf und begann zu sprechen und Jesus gab ihn seiner Mutter zurück.
16 Alle wurden von Furcht ergriffen; sie priesen Gott und sagten: Ein großer Prophet ist unter uns aufgetreten: Gott hat sich seines Volkes angenommen.
Als Jesus dem Trauerzug am Tor des Städtchens Nain in Galiläa begegnete, da muss ihm sofort klar gewesen sein, dass das kein gewöhnlicher Todesfall war. Jeder Tod ist schlimm und lässt Menschen in Trauer innehalten, aber hier trugen sie den einzigen Sohn einer Frau zum Friedhof. Und die Frau hatte schon ihren Mann verloren, vielleicht als junge Ehefrau. Sie war Witwe, und jetzt stand sie ganz allein da. Damals waren Frauen normalerweise darauf angewiesen, dass ein männliches Familienmitglied sie vertrat, für sie eintrat: erst der Vater, dann der Ehemann, und irgendwann einmal der älteste Sohn.
Aber diese Frau hatte jetzt niemanden mehr. Und dass wohl fast alle Einwohner des Ortes im Leichenzug mitgingen, das lag nicht nur daran, dass da beinahe jeder jeden kannte. Es war einer von den Todesfällen, die uns ganz besonders erschüttern und mit denen wir uns noch lange beschäftigen. Warum wird dieser armen Frau erst der Mann genommen, der Ernährer der Familie, vielleicht schon kurz nach der Hochzeit, und dann zieht sie mit viel Mühe und Arbeit den kleinen Sohn groß und hofft darauf, dass der ihr im Alter beisteht, und dann kommt der nächste Schlag, und auch der Sohn wird ihr geraubt? Eins davon wäre allein schon schrecklich genug. Wenn wir so eine Geschichte hören, dann sagen wir: das kann ich nicht verstehen. So sollte das Leben nicht sein!
Und deswegen sind sie alle gekommen und gehen im Leichenzug mit, weil solch ein Todesfall einen ganzen Ort bewegt. Das betrifft nicht nur eine einzelne Familie, sondern über einem ganzen Ort liegt der Schatten des Todes, da breitet sich ungebremste Depression aus und lähmt sie alle. Viele weinende, klagende Menschen, und gleichzeitig ist dies ein Triumphzug des Todes, eine Demonstation der überwältigenden Macht des Todes, der Menschen nichts entgegenzusetzen haben. Er kommt und geht, wie er will, er zerstört und zerreißt, er entmutigt und verwirrt, er hinterlässt Leid und Not, und niemand kann ihn hindern. Den Zurückbleibenden untergräbt er ihr Vertrauen ins Leben, manchmal für immer.
Und deshalb stellt sich Jesus diesem Todeszug in den Weg und stoppt ihn. Das ist von Lukas sehr eindrücklich beschrieben, wie da von der einen Seite der Leichenzug kommt, und von der anderen Seite Jesus mit seinen Jüngern und vielen anderen Menschen. Der Zug des Lebens trifft auf den Zug des Todes. Und Jesus stoppt diese Demonstration des Todes. Keiner sonst hätte sich getraut, einfach die Trage mit dem Toten anzufassen. Noch nicht einmal die Leichenträger hätte man sich getraut zu berühren. Aber Jesus hat keine Angst vor dem Tod. Er stellt sich ihm mit seinen Jüngern einfach in den Weg.
Vorher hat er die Frau angesprochen: »Weine nicht«. Vielleicht kannte er sie sogar; Nain war von Jesu Heimatstadt auch nur 5 km entfernt. Er macht ihr deutlich: keine Angst, ich will dir nichts Böses tun, ich will dir nichts durcheinanderbringen, im Gegenteil! Menschen in so einer Situation sind so ungeschützt, so verletzlich, dass man ihnen das erklären muss, wenn die normalen Abläufe unterbrochen werden.
Und ganz zuerst steht da, dass er Mitleid hatte. Wörtlich: es ging ihm durch und durch, als er sie sah. Jesus ist von Mitleid erfüllt, wenn er sieht, wie schwer manchmal unser Leben ist unter der dunklen Drohung des Todes. Er kann nicht zur Seite treten und diesen Trauerzug einfach vorbeiziehen lassen. Er kann diese Mutter nicht einfach ihrem Schicksal überlassen.
Und deshalb wendet er sich an den jungen Mann und fordert ihn mit klaren Worten auf, zurückzukommen ins Leben, aufzustehen, wieder ein Lebender zu werden. Und das Leben kehrt zurück und der Tod wird zurückgewiesen und muss weichen. Und für die Mutter und alle anderen ist es, als ob sie aus einem bösen Traum erwachen. Und sie empfängt ihren Sohn ein zweites Mal als Geschenk aus den Händen Jesu.
Es ist ja so: wenn ein Mensch stirbt, dann ist er nicht einfach weg. Er löst sich nur langsam von seinem Körper, er bleibt noch eine Zeit in der Nähe, bis er endgültig hinübergeht in die andere Welt. Deswegen ist es nicht nur Pietät, wenn wir einen verstorbenen Menschen ehrenvoll behandeln, sondern es ist tatsächlich der letzte Dienst, den wir ihm tun können. Das macht ihn nicht wieder lebendig, aber es erleichtert ihm den Abschied und ist ein Zeichen gegen die Macht des Todes. Es ist nicht viel, was wir tun können, doch das, was wir können, das tun wir.
Aber Jesus kann mehr. Er hat die Macht, Menschen zurückzurufen, wenn sie schon ihren Körper verlassen haben. Er erreicht sie noch und sie hören auf ihn. Er hat die Macht, den Körper zu heilen, so dass der wieder ein Haus für diesen Menschen sein kann. Auch Jesus hat das nicht dauernd getan, aber ein paar Mal schon. Und auch von seinen Nachfolgern wird das gelegentlich berichtet, übrigens auch schon von den großen Propheten Elia und Elisa über 1000 Jahre vorher.
Natürlich hat auch der junge Mann von Nain irgendwann diese Welt endgültig verlassen müssen. Irgendwann später. Aber die Zeit bis dahin waren wichtige Jahre. Wichtig für seine Mutter, wichtig dafür, dass diese Familie weiterleben konnte und nicht ausgelöscht war.
Und es war wichtig für einen ganzen Ort und weit darüber hinaus. Die Menschen fingen an zu ahnen: Anscheinend ist der Tod doch nicht so allmächtig, wie es sonst immer aussieht. Sogar seine Macht ist nicht grenzenlos. Denn wir sind nicht allein, wir sind ihm nicht schutzlos ausgeliefert, wir müssen uns nicht hineinziehen lassen in den depressiven Sog, den jedes schlimme Unheil entwickelt. In diese Welt ist jemand hineingekommen, der dem Tod seine unbegrenzte Macht streitig macht. Noch nicht endgültig und in jedem Fall. Aber es wird nicht mehr lange dauern, dann werden sie auch Jesus wie den jungen Mann von Nain tot auf den Friedhof tragen, aber er wird nicht tot bleiben, er wird auch nicht nur für ein paar verlängerte Lebensjahre wieder zurückkommen, sondern er wird auferstehen. Damit wird die Macht des Todes endgültig gebrochen. Er hat nicht mehr das letzte Wort, nirgendwo.
Und auch dieser sensationelle Vorfall am Tor von Nain ist nur ein Zeichen für das, was da herankommt, ein Hinweis darauf, dass etwas noch viel Größeres bevorsteht als die Wiederbelebung eines Verstorbenen für einige Jahre. Jesus hat den Tod entmachtet und Leben gebracht, das nicht mehr vom Tod begrenzt wird.
Tod, das ist ja nicht nur der Moment, wenn wir unseren letzten Atemzug tun und unseren Körper verlassen. Der Tod hat eine Ausstrahlung weit darüber hinaus. Er kann sich wie ein lähmender Schatten über einen ganzen Ort oder ein ganzes Land legen. Er kann den Überlebenden das Zutrauen ins Leben nehmen, so dass ihnen alles, was sie tun, sinnlos vorkommt. Er kann uns verleiten, das Leben als wertlos anzusehen, weil es ja doch irgendwann endet. Er kann uns gierig werden lassen, wenn wir versuchen, das kurze Leben und die Welt auszupressen wie eine Zitrone, um nur nichts zu versäumen, und genau das zerstört dann wirklich den Segen und vergiftet die Welt. Der Tod stärkt die Gewaltherrscher, weil sie damit drohen können, uns den Tod zu bringen. So strahlt der Tod durch viele Kanäle auf das ganze Leben aus, auch dann, wenn wir ihm nicht direkt begegnen oder an ihn denken. Deswegen nennt ihn Paulus im 1. Korintherbrief den letzten, den entscheidenden Feind. Für alle, die sich mit Videospielen auskennen: den Endgegner.
Genau dieser dunklen Macht hat sich Jesus mit seinen Jüngern entgegengestellt. Christen, so hat es viel später einer formuliert, Christen sind Protestleute gegen den Tod. Wir sollen uns der Ausstrahlung des Todes überall entgegenzustellen. Es geht darum, zu erinnern: diese Macht ist bereits gebrochen. Wir stehen ihr nicht schutzlos gegenüber. Unter uns lebt Jesus, und in ihm ist das Leben konzentriert, das stärker ist als der Tod. Wir sind nicht allein, was immer auch kommt. Niemand steht dem Endgegner und seinen Kumpanen ohne Hilfe und Schutz gegenüber.
Das heißt noch nicht, dass niemand mehr sterben muss. So wird es erst sein, wenn die neue Welt anbricht und die Welt, wie wir sie kennen, mit all ihrer Zerrissenheit zurückweicht. Aber bis dahin sollen wir tun, was wir können, um deutlich zu machen: wir beugen uns nicht dem Tod in jeder Gestalt. Wir lassen ihm nicht mehr das letzte Wort. Wir holen Jesus dazu, und dann sieht es anders aus.
Wenn es dir also so vorkommt, als seist du in einen bösen Traum geraten, und niemand weckt dich auf, oder als gingest du mitten in so einem traurigen Zug, der sich scheinbar unaufhaltsam auf einen Moment zu bewegt, den du fürchtest, irgendetwas, was dir schon immer Angst gemacht hat, ein Schmerz, der unvermeidlich zu sein scheint, ein Konflikt, der nur zerstörerisch ist: wir haben immer die Möglichkeit, Jesus dazu zu holen, Jesus zu bitten, dass er in die Situation hineinkommt. Wir haben immer die Möglichkeit, Jesus zu anderen zu holen, die wir in solch einer bedrückenden Lage erleben.
Gott ist zu seinem Volk gekommen, sagen die Leute von Nain. Gott ist in der Welt, er ist nicht fern und uninteressiert. Dein Gebet wird ihn bewegen, und wenn du ihn mitten in so einem Todessog anrufst, dann ändert sich etwas. Vielleicht etwas anderes, als du erwartest und wünschst. Vielleicht etwas, an das du vorher gar nicht gedacht hättest. Aber dass er mitten hineinkommt, das ist das Wichtigste. Stell ihn dir vor, wie er dem Sog der Zerstörung entgegen tritt und sagt: Halt, so nicht! Dafür ist diese Welt nicht gemacht! Diese Menschen gehören mir und ich überlasse sie nicht dem Tod und seinen Mächten. Ich kämpfe für sie. Ich kämpfe für dich. Und er weckt dich aus dem bösen Traum. Er vertreibt die Lähmung.
Wir brauchen gegen den Tod diesen Bundesgenossen. Wenn er dabei ist, dann wirst du durchkommen. Und wenn du Jesus mitbringst, dann werden Menschen auch im dunkelsten Augenblick nicht ohne Licht sein.