Gefährlich – aber gut
Predigt am 12. Juli 2009 zu Lukas 5,1-11
1 Eines Tages stand Jesus am See Gennesaret; eine große Menschenmenge drängte sich um ihn und wollte das Wort Gottes hören. 2 Da sah er zwei Boote am Ufer liegen. Die Fischer waren ausgestiegen und reinigten ihre Netze. 3 Jesus stieg in das Boot, das Simon gehörte, und bat ihn, ein Stück weit auf den See hinauszufahren. So konnte er im Boot sitzen und von dort aus zu den Menschen sprechen. 4 Als er aufgehört hatte zu reden, wandte er sich an Simon und sagte: »Fahr jetzt weiter hinaus auf den See; werft dort eure Netze zum Fang aus!« 5 Simon antwortete: »Meister, wir haben uns die ganze Nacht abgemüht und haben nichts gefangen. Aber weil du es sagst, will ich die Netze auswerfen.« 6 Das taten sie dann auch, und sie fingen eine solche Menge Fische, dass ihre Netze zu reißen begannen. 7 Deshalb winkten sie den Fischern im anderen Boot, sie sollten kommen und mit anpacken. Zusammen füllten sie die beiden Boote, bis diese schließlich so voll waren, dass sie zu sinken drohten. 8 Als Simon Petrus das sah, warf er sich vor Jesus auf die Knie und sagte: »Herr, geh fort von mir! Ich bin ein sündiger Mensch.« 9 Denn ihm und allen, die bei ihm ´im Boot` waren, war der Schreck in die Glieder gefahren, weil sie solch einen Fang gemacht hatten, 10 und genauso ging es Jakobus und Johannes, den Söhnen des Zebedäus, die zusammen mit Simon Fischfang betrieben. Doch Jesus sagte zu Simon: »Du brauchst dich nicht zu fürchten. Von jetzt an wirst du ein Menschenfischer sein.« 11 Da zogen sie die Boote an Land, ließen alles zurück und schlossen sich ihm an.
Wenn man Gott im Boot hat, kann man in Seenot kommen. Jesus ist der, der alle Sicherheitsvorschriften ignoriert. Petrus und seine Kollegen rudern normalerweise eher irgendwo am Ufer rum, aber da haben sie in der Nacht nichts gefangen. Jesus gibt ihnen eine andere Anweisung: fahrt dahin, wo es tief ist! Und man weiß nicht so ganz genau, wie Petrus das meint, wenn er sagt: »Weil du es sagst, will ich die Netze auswerfen«. Das kann heißen: dir vertraue ich! Es kann aber auch heißen: na gut, auf deine Verantwortung!
Und dann kommt der Augenblick, in dem Petrus merkt, dass er die Kontrolle verliert: als die Boote so voller zappelnder, glitschiger Fische sind, dass sie ganz tief liegen und schon die ersten Wellen über den Bootsrand schwappen, da versteht er, dass das nicht irgendein Fang ist, und dass der Mann in seinem Boot nicht irgendeiner ist. Petrus merkt, dass er jetzt mit Gott zu tun hat, und er bekommt einen riesigen Schrecken. Und wenn er sagt: »Herr, geh fort von mir, ich bin ein sündiger Mensch«, das ist keine fromme Formel, wie wir sie manchmal benutzen, damit alle merken, wie demütig wir sind, sondern das ist ein sehr lebendiger Schreck.
Stellen Sie sich vor, sie sitzen nett mit jemandem zusammen und unterhalten sich, alles fühlt sich harmlos an, Sie kommen sich auch räumlich näher, und zwischendrin sagt er so nebenbei: ach übrigens, ich habe die Schweinegrippe! Und Sie springen samt Stuhl gleich drei Meter nach hinten. So ungefähr muss man sich den Schrecken von Petrus und den anderen vorstellen.
Wenn Gott in unser Leben tritt, dann ist das nicht nett und pädagogisch wertvoll, sondern dann erschrecken die Menschen. Immer wieder in der Bibel: Mose, als er dem brennenden Dornbusch begegnet. Das Volk Israel am Sinai, als es donnert und rumst. Die Propheten, wenn sie berufen werden. Maria, als der Engel kommt und ihr ankündigt, dass sie Jesus zur Welt bringen soll. Und immer wieder und auch hier sagt Gott oder der Engel oder Jesus: fürchte dich nicht! Auch das ist keine liturgische Formel, sondern dringend nötig, so als ob der mit der Schweinegrippe sagt: keine Angst, war doch nur ein Spaß!
In unseren aufgeklärten Zeiten haben wir Gott so vernünftig gemacht, dass wir kaum noch einen Zugang haben zu dem Unheimlichen und Erschreckenden, das einer Begegnung mit ihm tatsächlich anhaftet. Wer die Narnia-Bücher oder -Filme kennt, der weiß, dass Jesus dort der Löwe Aslan ist. Und vielleicht erinnert sich einer auch an das, was Frau Biber über Aslan sagt: er ist kein zahmer Löwe. Er ist nicht ungefährlich. »Aber er ist gut.« Wir haben verlernt, das zusammenzudenken. Wir meinen, nur etwas Harmloses und Ungefährliches könnte gut sein. Was für eine merkwürdige Vorstellung! Gott ist kein zahmer Gott. Aber er ist gut.
Wenn wir das auf die Geschichte hier übertragen, dann heißt das: Jesus ist nicht dieser nette Günther-Jauch-Typ, den man gerne als Schwiegersohn hätte, er ist kein gezähmter Mann, der immer alle versteht und unglaublich sanft ist, wohlerzogen und die Garantie dafür, dass man ruhig schlafen kann. Sondern Jesus mischt das Leben von ein paar Menschen so richtig auf. Sie werden sich im Rückblick nie wünschen, dass er es anders gemacht hätte, aber direkt in dem Augenblick haben sie schon das Gefühl von einem mittleren Erdbeben. Jesus ist nicht zahm. Aber er ist gut.
Was würde uns denn auch ein netter, harmloser Gott nützen, selbst wenn er gut ist? Wie könnte uns ein gezähmter Gott helfen, in einer Welt, in der dauernd schreckliche Dinge geschehen, wo den Menschen die Luft abgedrückt wird und Stahlungetüme ungebremst aufeinander knallen? Ein netter und harmloser Gott wäre gegenüber all dieser Zerstörung eine Witzfigur.
Jesus sagt: fahrt dahin, wo es tief ist! Die Welt ist nicht harmlos und übersichtlich, sondern da gibt es verborgene Tiefen, von denen wir lange nichts merken. Menschen bleiben lieber da, wo es flach ist, unterhalten sich über die besten Angelruten und die Fischpreise und Kuchenrezepte, aber sie vermeiden die Tiefe. Aber der wirkliche Segen liegt in der Tiefe. Und als Petrus diesen Überfluss an Segen sieht, den er mit seinem Netz aus der Tiefe geholt hat, da bekommt er Angst. Wir ängstigen uns nicht nur vor den schlimmen Dingen, sondern auch vor den unglaublich guten, weil sie unser Leben durchschütteln und durcheinanderbringen.
Und das hat Jesus ja gerade vor bei Petrus und seinen Freunden. Er will sie rausholen aus ihrem normalen und geordneten Leben. Petrus ist ja keine kaputte Existenz, die nichts mehr zu verlieren hat und sich von Jesus aus dem Sumpf ziehen lässt. Er ist auch nicht von Schuldgefühlen oder Minderwertigkeitskomplexen geplagt. Petrus ist Erbe eines handwerklichen Familienbetriebes, der wahrscheinlich einige Angestellte beschäftigt. Die Fischer am See Genezareth waren keine armen Leute. Ihr Fisch war eine Delikatesse, und sie exportierten ihn bis nach Rom. Petrus war einer, der was konnte.
Das zu wissen ist so wichtig, weil wir ja auch all die anderen Geschichten im Kopf haben, wo Jesus sich den Armen und Unterdrückten und den Sündern und Ausgestoßenen zuwendet, und wenn wir das hören, dann liegt es nahe, dass bei uns ankommt: ich bin aber keine verkrachte Existenz, kein Drogenabhängiger, kein Penner, kein Außenseiter, und meine sexuellen und sonstigen Eskapaden halten sich auch in Grenzen. Was ist dann mit mir?
Und darauf ist hier die Antwort: Jesus will deine Welt erschüttern, damit du rauskommst aus dem stahlharten Gehäuse, aus den Gleisen, auf denen du Jahr für Jahr fährst. Jesus will dich erschüttern, damit du deine echte Größe findest.
Jesus lässt Petrus den Segen schauen, der in der Tiefe liegt, und als ihn das völlig aus der Spur bringt, da gibt er ihm eine neue Richtung und sagt: von jetzt ab wirst du Menschen fischen. Petrus, du warst gut im Fischgeschäft, aber das ist nicht deine wahre Bestimmung. Du kannst viel mehr. Gott sieht in dir den Menschenfischer, der Menschen einsammelt für die neue Welt. Bisher hast du deine Fische nach Rom exportiert. Eines Tages wirst du persönlich das Evangelium dort hinbringen. Über Leute wie dich werden Menschen zehn oder zwanzig Jahre später sagen: das sind die, die überall Unruhe stiften (Apg. 17,6).
Menschen haben vor wenigem so viel Angst wie vor ihrer wahren Größe. Wir haben uns meistens in einem überschaubaren Leben eingerichtet, wo es natürlich Ärger gibt und Stress, wo wir Urlaub brauchen, damit wir es durchhalten, aber es bleibt im Rahmen. Nur das ist ein Leben, das uns nicht wirklich aus der Bequemlichkeitszone rausholt. Das ist ein Leben, wo wir nicht wirklich unsere Grenzen überschreiten. Es ist ein Leben, wo wir uns nicht wirklich ohne Netz in die Hand Gottes geben müssen.
Als Jesus mit Petrus redete, da war er selbst 40 Tage in der Wüste gewesen: 40 Tage ohne Essen, ohne Fernsehen, ohne Gesellschaft. 40 Tage, in denen er herausgefunden hatte, wer er wirklich war. 40 Tage, in denen er die Situation nicht unter Kontrolle hatte. Und als er zurückkam, da wusste er, dass er den Bösen besiegt hatte, da war er bereit für seine Mission. Er wusste, wer er war.
Nicht jeder muss das so machen, aber niemand kann herausfinden, wer er wirklich ist, wenn er immer innerhalb seiner Bequemlichkeitszone bleibt. Jesus wird seine Jünger immer wieder über ihre Grenzen hinausstoßen, sie immer wieder in Situationen bringen, die sie nicht mehr unter Kontrolle haben, in denen sie alles noch einmal neu zu sehen lernen. So bringt er sie Schritt für Schritt zu dem Format und zu der Größe, für die Gott sie geschaffen hat. Jesus ist nicht harmlos.
Überlegen Sie mal, wie viele Menschen im Rückblick sagen, dass Schicksalsschläge sie stärker gemacht haben. Schon mit ein bisschen Lebenserfahrung und offenen Augen können wir sehen, dass Menschen nicht selten erst durch Verletzungen und Unglücke auf die Spur zu einem volleren Leben gebracht wurden und dann manchmal sagen: der Unfall oder die Krankheit war das Beste was mir passieren konnte! Jetzt lebe ich viel bewusster, intensiver und glücklicher! Aber auch das sagen Menschen erst im Rückblick. Wenn sie mitten drin sind, hört man eher: warum muss ausgerechnet mir das passieren!
Es ist gut, dass Menschen auch durch solche ganz normalen Erschütterungen wachsen können, aber das ist noch nicht die ganze Größe, die Gott uns zugedacht hat. Wir sind auf Jesus hin geschaffen, wir alle. Deswegen tut es uns immer gut, wenn wir ihm ähnlicher werden, wenn wir uns auf ihn zu bewegen, egal ob wir es wissen oder nicht. Dann werden Menschen ruhiger oder selbstbewusster oder mutiger und freier. Aber ohne das Wissen um den Urheber dieser Größe werden wir irgendwann stecken bleiben und uns wieder irgendwo einrichten. Wir sollen wirklich Jesus kennen und mit ihm zusammen sein, damit wir sein Leben in vollem Maß teilen können. Es geht bei Jesus nicht einfach um bewussteres oder entspannteres Leben, obwohl man das nebenbei auch bekommt. Zentral ist: er will uns auf seine Seite ziehen. Wir sollen Anteil haben an seiner Praxis unter den Menschen.
Menschen stellen sich Gott normalerweise als Gegenüber vor: er kann mich bestrafen, er kann mir helfen, ich muss ihn beschwichtigen oder seine Gnade erreichen. Und als er mitten im Berufsalltag des Petrus auftaucht, da bekommt der den Schock seines Lebens. Aber dann macht Jesus ihm klar, dass es ganz anders ist: Gott will Menschen auf seine Seite ziehen, so dass sie ihm nicht mehr gegenüberstehen, sondern mit ihm zusammenarbeiten. Gott und Menschen nicht mehr in misstrauischem Gegenüber, sondern mit gemeinsamen Interessen und Zielen. Das ist die Revolution, die Jesus bringt.
Jesus will gemeinsam mit uns die Erschütterung in die Welt bringen, die die Welt so dringend braucht. So wie Gott in der Welt Unruhe stiftet, wenn er kommt, so sollen Petrus und wir die Welt durcheinanderbringen, damit sie gerettet wird. Keine Erschütterung durch Zerstörung, sondern durch Segen. So viele Fische, so viel Segen, dass die Menschen es spontan mit der Angst zu tun bekommen und sagen: o nein, hätten es 13 Heringe nicht auch getan? Jesus beruft Petrus zu einem gemeinsamen Abenteuer. Abenteuer bedeutet: wir wissen nicht genau, wo es endet.
Die alten Landkartenmaler zeichneten an die Ränder ihrer Karten, da wo das Unbekannte anfing, Drachen und Seeungeheuer. Und alle Entdecker sind genau dort hingegangen: wo vielleicht die Ungeheuer lauerten, wo es keine verlässlichen Karten mehr gab, wo die Situation nicht mehr unter Kontrolle war. Und Jesus bringt Petrus gleich am Anfang schon mal in eine Situation, die er nicht mehr unter Kontrolle hat, damit er schon mal kennen lernt, was in Zukunft immer wieder auf ihn warten wird. Ein Entdecker und Abenteurer soll er werden.
Die meisten Menschen erwarten von Gott, dass er sie nicht unzumutbar beansprucht. Und sie setzen selbst fest, was für sie noch zumutbar ist. Für die einen ist es unzumutbar, jeden Sonntag zum Gottesdienst zu gehen, für andere ist schon Weihnachten zu viel. Und wieder andere sind bereit, sehr viel an Kraft und Zeit und Geld zu investieren. Was zumutbar ist, definiert jeder anders. Aber wenn jemand Jüngerin oder Jünger Jesu wird, dann gibt er es auf, zu entscheiden, was zumutbar ist, und überlässt das Jesus. Man erlebt dann, dass Jesus manchmal viel rücksichtsvoller ist, als man es selbst wäre, und manchmal wird er einem gemein und grausam vorkommen. Einer wie Petrus hat gelernt, dass man bei Jesus durchaus mal die Kontrolle über die Situation verliert. Und das ist gut so.
Jesus ist nicht harmlos. Aber er ist gut. Nur so passt es zusammen.