Gott will freie Menschen (Das einfache Evangelium I)
Predigt am 29. Januar 2006 mit Lukas 4,16-21
16 Jesus kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war, und ging
nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge und stand auf und
wollte lesen. 17 Da wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht.
Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht
(Jesaja 61,1-2):
18 „Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er
mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat
mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen,
und den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass
sie frei und ledig sein sollen, 19 zu verkündigen das Gnadenjahr
des Herrn.“
20 Und als er das Buch zutat, gab er’s dem Diener
und setzte sich. Und aller Augen in der Synagoge sahen auf ihn.
21 Und er fing an, zu ihnen zu reden: Heute ist dieses Wort der
Schrift erfüllt vor euren Ohren.
Als Jesus ganz am Anfang seines Wirkens in Nazareth sozusagen
sein Programm verkündete, da griff er zurück auf Worte des Propheten
Jesaja. Die Befreiung für die Armen und die Gefangenen, für die
Blinden und Zerschlagenen, all das, was Jesaja angekündigt hatte
und worauf die Menschen schon lange gewartet hatten, von all dem
sagte Jesus: das kommt jetzt, und zwar mit mir. Obwohl seine Zuhörer
noch nichts davon sehen konnten, waren sie doch tief beeindruckt
von seiner Vollmacht.
Und ganz am Ende seines Wirkens, als er mit seinen Jüngern zum
letzten Mal vor seiner Kreuzigung zusammen war, da feierten sie
das Passafest, die Erinnerung an die Befreiung aus der ägyptischen
Sklaverei, und Jesus nahm dieses Befreiungsfest auf und ergänzte
es so, dass Brot und Wein für seinen Leib und sein Blut stehen.
Am Anfang und am Ende seines Wirkens also zwei deutliche Zeichen,
dass Jesu sich in die Befreiungstradition seines Volkes stellt,
aber jedesmal verwandelt er diese Tradition, er erfüllt sie auf
seine Weise.
Gott hatte das Volk Israel ins Leben gerufen als ein Volk der
Freiheit: Abraham, der Stammvater, war die Antwort auf den Turm
von Babel; endgültig zu einem Volk wurde Israel durch seine Erfahrung
der Sklaverei in Ägypten und der Befreiung durch Gott. Und die ganze
weitere Geschichte Israels ist ein Kampf darum, dass dieses Volk
seinem befreienden Gott treu bleibt und nicht genauso unterdrückerisch
und gewaltsam wird wie die andern Völker ringsum. Bei den anderen
Völkern herrschten die Könige im Namen der Götter über ihre Völker
und unterdrückten sie; in Israel stellte Gott sich gegen unterdrückerische
Könige und schickte seine Propheten, damit sie an die Gerechtigkeit
erinnerten.
Gott hatte Israel ins Leben gerufen, damit es in einer Welt voll
Gewalt und Ausbeutung eine Alternative gibt. Er wollte ein Volk
freier Menschen, die alle genug zum Leben haben. Das schlug sich
auch in den Gesetzen nieder, nach denen alle sieben Jahre die Schulden
erlassen werden und Land an seinen ursprünglichen Besitzer zurückgegeben
werden muss. Darauf bezieht sich Jesus, wenn er „ein Gnadenjahr
des Herrn“ ankündigt.
So wie die Propheten harte Worte gefunden haben gegen Unterdrückung
und Ausbeutung, so legt sich auch Jesus mit den herrschenden Gruppen
in seinem Volk an, die die Menschen finanziell ausbeuten und religiös
dominieren. Das hat ihn schließlich das Leben gekostet.
Jesus steht ganz eindeutig in der prophetischen Freiheitslinie.
Aber er ist nicht einfach ein neuer Prophet. An vielen Stellen merkt
man, dass er diese Überlieferung auf charakteristische Weise neu
füllt. So wie er das Passamahl zum Abendmahl weiterentwickelt hat.
Jedes Mal geht es darum, dass die Befreiung nicht irgendwann in
der Zukunft kommen wird, sondern dass sie jetzt schon passiert.
Und zwar umfassend. Bei Jesus werden Menschen frei von Krankheiten
ebenso wie von bösen Geistern, die sich in ihnen eingenistet haben.
Menschen werden in geschwisterlichen Gemeinschaften verbunden, in
denen sie auch materiell nicht mehr vom Raub leben, sondern vom
Schenken. Menschen werden jetzt schon frei von dem Drang, auf Kosten
anderer zu leben.
Das ist der entscheidende Unterschied zwischen Jesus und den
gängigen Erwartungen seines Volkes: bis dahin hatten sie im jüdischen
Volk erwartet, dass Gott eines Tages ein neues Zeitalter der Gerechtigkeit
bringen würde. Sie hatten es glühend erhofft, erfleht, erbeten;
einige hatten auch versucht, dieses neue Zeitalter mit Gewalt zu
erzwingen. Jesus hatte ein anderes Denkmodell: das neue Zeitalter
kommt nicht eines Tages mit einem großen Knall, sondern es beginnt
jetzt, und zwar mit ihm. Das Neue löst das Alte nicht irgendwann
komplett ab, sondern es schleicht sich ein in die alte Welt. Es
entwickelt sich behutsam mitten zwischen Ungerechtigkeit und Gewalt.
Und wir alle sind eingeladen, mit ganzem Herzen dabei zu sein.
Das ist die entscheidende Konsequenz für uns: wir müssen nicht
mehr warten, bis Gott eines Tages dieser bösen Welt ein Ende macht,
und bis dahin haben wir nicht viel mehr Möglichkeiten, als uns persönlich
– so gut es geht – von der Sünde fernzuhalten. Nein, die Botschaft
Jesu lautete: ihr könnt jetzt schon Bürger des kommenden Reiches
sein. „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen
– kehrt um und glaubt diese gute Botschaft!“ Das ist die zentrale
Verkündigung Jesu, wie Markus (1,15) sie zusammenfasst.
Und wenn Jesus so redet, dann meint er nicht, dass irgendwo in
der Welt das Reich Gottes zu finden ist, sondern er redet von sich
selbst und von dem, was in seiner Umgebung passiert. Jesus selbst
verkörpert diese neue Art zu leben, er ist der Beginn der neuen
Welt, wo Gottes Wille endlich geschieht. Er kann das, weil er vom
Heiligen Geist erfüllt ist. Und an dieser Vollmacht lässt er seine
Jünger Anteil haben. Als sie zum ersten Mal zurückkommen und berichten,
wie sie die bösen Geister vertrieben haben, da bricht Jesus in lauten
Jubel aus und dankt Gott auf ganz einmalige Weise. Denn jetzt hat
er gesehen, dass er seine Kraft mit andern teilen kann. Sie ist
nicht nur für ihn allein zugänglich. Und so kommt der Heilige Geist
nach seinem Tod und seiner Auferstehung zu den Jüngern und Jüngerinnen
Jesu und setzt einen großen Aufbruch des neuen Lebens in Bewegung,
der bis heute anhält. Die zentrale Erfahrung dabei ist: du kannst
jetzt schon auf Gottes Art leben, du musst nicht warten, bis die
Verhältnisse irgendwann einmal besser werden oder bis du in den
Himmel kommst. Jetzt ist die Zeit des Heils, jetzt will Gott mit
dir das neue Leben beginnen.
Diese Botschaft ruft natürlich sofort einen entscheidenden Widerspruch
hervor: die Frage, wie das denn möglich sein soll in einer Welt,
in der Zerstörung, Gewalt und Ungerechtigkeit an der Tagesordnung
sind. Wir kriegen das alles ja gar nicht so deutlich mit, weil wir
hier im reichen und einigermaßen sozialen Teil der Welt leben. Wir
müssen im kalten Winter keine Angst haben, dass bei uns Menschen
zu Hunderten erfrieren. Aber wir wissen, dass es längst nicht überall
so ist. Und die Ungerechtigkeit beginnt ja schon damit, dass sie
in der ehemaligen Sowjetunion viel schlechter dran sind, obwohl
sie dort direkt auf dem Gas sitzen, das uns die Stube wärmt.
Dieser Gottesdienst würde stundenlang dauern, wenn ich all die
Gewalt und Ungerechtigkeit aufzählen würde, all die Kriege, vor
denen Menschen heute flüchten, die unbeschreibliche Armut in vielen
Teilen der Welt, die Brutalität, mit der die Würde der Menschen
in den Schmutz getreten wird, die Ausbeutung von Kindern, denen
ihre Kindheit geraubt wird, der Hunger, der so ein Skandal ist,
weil ja genug für alle da ist. Wer das wissen will, der weiß es
natürlich. Alles, was wir hier tun und sagen, das tun wir angesichts
des himmelschreienden Unrechts in der Welt, und dass wir so gut
leben, wie wir es tun, das ist überhaupt nur zu rechtfertigen, wenn
wir das, was wir haben, einsetzen, damit es anders wird in der Welt.
Aber Jesus war ja kein Bürger des reichen Westens, sondern er
war Angehöriger eines unterdrückten Volkes, er lebte in einer Welt,
in der Massaker und Grausamkeit normal waren, und er selbst wurde
schließlich zu Tode gefoltert. Wenn so einer sagt, dass trotzdem
ein Leben nach Gottes Art möglich ist, dann hat das Gewicht. Dann
ist es keine billige Ideologie. Und es ist bestätigt worden von
den vielen Menschen, die unter großer äußerer Bedrängnis Jesus nachgefolgt
sind und gerade so ihre Würde, ihre Integrität und ihre Hoffnung
gefunden haben. Man muss nur denken an die Schwarzen in Amerika,
die das Christentum ihrer weißen Herren besser verstanden haben
als die Weißen selbst. Oder eben an die drei ersten Jahrhunderte,
in denen das Christentum die Zuflucht der Armen und Unterdrückten
im römischen Imperium war, trotz aller Verfolgung. Wie sie mitten
in diesem Gewaltstaat das neue Leben Gottes praktizierten und ihn
damit sogar ein wenig humanisierten. Und auch hier würde es den
Rahmen dieses Gottesdienstes sprengen, wenn ich erzählen würde von
all den vielen, die im Namen Jesu sich nicht den falschen Götzen
gebeugt haben.
Leider ist nun Jesu Botschaft immer wieder religiös missverstanden
worden, und das hat eben begonnen, als das römische Imperium das
Christentum zur Staatsreligion machte. Das religiöse Missverständnis
lautet im Kern, dass es beim Glauben nur um eine Veränderung der
Herzen gehen würde und um eine Art himmlische Seniorenresidenz nach
dem Tode. Richtig ist, dass Gottes Werk tatsächlich in den Herzen
der Menschen beginnt, und dass dort die entscheidende Veränderung
stattfinden soll. Der eigentliche Feind ist nicht der Mensch auf
dem römischen Thron oder in der Vorstandsetage der Banken, sondern
es sind die unversöhnten Gedanken und Gefühle in den Herzen der
Menschheit, es sind die Gedanken und Vorstellungen, die dazu führen,
dass wir all dem Unrecht und Elend nichts entgegensetzen, sondern
sogar noch seine Werkzeuge werden. Jesus hat eben nicht gegen die
römischen Besatzer gepredigt, sondern die Menschen angeleitet, frei
zu werden von den Römern im eigenen Herzen. Die wirkliche Gefangenschaft
ist es, wenn man selbst das Denken der Unterdrücker annimmt, ihre
Gier und Gewalt, ihre Ahnungslosigkeit vom Leben Gottes.
Deswegen würde ein Frontalangriff auf die Bastionen der Macht
nur dazu führen, dass ein Unrechtssystem durch das andere ersetzt
wird. Der Weg der Christen war es deshalb, sich fest im neuen Leben
Gottes zu verankern, ihr Denken zu verändern, Selbstmitleid und
Arroganz zu verlieren und viele andere Blockaden, das neue Leben
dort zu praktizieren, wo sie lebten, und dann die Gesellschaft zu
durchdringen. Aber eine reine Innerlichkeit war nie gemeint, und
die Hoffnung verbindet sich mit einer erneuerten Erde, nicht mit
einem wolkigen Himmel. Deshalb bitten wir im Vaterunser nicht darum,
dass wir in den Himmel kommen, sondern darum, dass Gottes Reich
zu uns komme und dass hier auf der Erde sein Wille so geschehe,
wie er jetzt schon im Himmel geschieht.
Wir werden im vierten Teil dieser Reihe noch darüber sprechen,
dass das nicht zum Nulltarif zu haben ist. Wer in Freiheit von den
Mächten leben will, der kommt überall unter Druck. Überall, wo Altes
und Neues aufeinander stoßen, führt das zu mächtigen Spannungen.
Die alte Weltordnung wehrt sich mit aller Macht.
Aber Jesus ist auferstanden, den kann keiner mehr aus der Welt
schaffen. Das Neue, die Alternative ist unwiderruflich da, und die
Welt sehnt sich nach Befreiung, sie leidet unter der Zerrissenheit,
in die wir Menschen sie gestürzt haben. Die Fülle ihrer Schönheit
und ihrer Möglichkeiten wird uns in Gottes neuer Weltordnung endlich
zugänglich sein. Bis dahin lässt uns Gott nur gelegentlich einen
Blick in die vollendete Schöpfung tun. Er schenkt uns Bilder und
Erlebnisse, die unsere Sehnsucht am Leben halten. Er will uns ermutigen,
aber er will verhindern, dass wir uns in der Welt, wie sie jetzt
ist, zu Hause fühlen. Wir sollen uns auf eine längere und harte
Auseinandersetzung einstellen.
Die Herzen, die jetzt noch gefangen sind in einem Klima des Misstrauens
und des Unglaubens, in Selbstsucht und Gier, in der Gefangenschaft
gesellschaftlicher Mächte – sie werden sich nicht durch Zwang ändern,
sondern durch die Begegnung mit der Liebe Gottes.
Wir sind Agenten Gottes in einem besetzten Territorium, und wir
sollen die Untertanen der Gewaltmächte zur Fahnenflucht bewegen.
Das wird nur gelingen, wenn sie an uns ablesen können, dass Gott
ein besserer Herrscher ist als die Mächte dieser Welt. Das konnte
man bei Jesus sehen, und sein Ruf der Freiheit wird gehört, bis
diese Schöpfung erlöst ist aus allen gottlosen Bindungen zur herrlichen
Freiheit der Söhne und Töchter Gottes.