Lass dich nicht vom Bösen besiegen
Predigt am 16. September 2001 (dem Sonntag nach der Zerstörung des World Trade Centers) zu Römer 12,12-21
Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, daß ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst. 2 Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene. …
12 Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet. 13 Nehmt euch der Nöte der Heiligen an. Übt Gastfreundschaft. 14 Segnet, die euch verfolgen; segnet, und flucht nicht. 15 Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden. 16 Seid eines Sinnes untereinander. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch herunter zu den geringen. Haltet euch nicht selbst für klug. 17 Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. 18 Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. 19 Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5. Mose 32,35): »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.« 20 Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen; dürstet ihn, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25,21-22). 21 Laß dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.
»Lass dich nicht vom Bösen besiegen«. Das erste, was von dem Anschlag in New York zu lernen ist, das ist die Wirklichkeit des Bösen. Der Feind Gottes ist eben nicht so eine komische Figur mit Hörnern und Pferdefuß im enganliegenden roten Trikot, sondern es ist eine schreckliche Macht, die zerstört und mordet und alle möglichen Menschen in ihre Dienste nehmen kann. Und wenn wir dieser Wirklichkeit begegnen, dann lässt sie uns entsetzt und geschockt zurück.
Eine Bestätigung dieser Bosheit ist es, dass diese dunkle Macht hervorragend mit allen Seiten kooperieren kann. Sie hat ihre Verbündeten in allen politischen Lagern. Das Böse kann die Terroristen benutzen und die Antiterroristen, Angehörige aller Religionen genauso wie Atheisten, korrupte Materialisten genauso wie unbestechliche Idealisten, es hat seine Verbündeten in Moskau wie in Washington oder Peking, in Berlin natürlich auch, es findet Werkzeuge bei den Unterdrückern wie bei den Unterdrückten, in allen Rassen und Nationen sowieso. Es ist haarsträubend, dass es immer noch Menschen gibt, die glauben, sie könnten irgendetwas für das Gute tun, wenn sie »die« Muslime, »die« Araber, »die« Katholiken oder Protestanten, »die« Schwarzen oder »die« Weißen für irgendetwas kollektiv verantwortlich machen. Es ist erschreckend, dass tatsächlich Muslime jetzt in Deutschland anscheinend beschimpft, bedroht und angegriffen werden, als ob sie irgendwie schuld seien an diesen Anschlägen. Das ist genau die Art von Reaktion, bei der sich der Feind die Hände reibt. Denn so bekommt er immer mehr Anhänger.
Das Böse will Herzen kontrollieren oder mindestens in die Irre führen, so dass sie seinen Zielen dienen. Darum geht es eigentlich in all diesen bösen Ereignissen: was passiert in den Herzen? Haben sich die Herzen derer, die jetzt sterben mussten, ganz am Ende noch verbittert oder für Gott geöffnet? Werden die Herzen von Menschen, die das alles miterleben, angesichts all dieses Leides liebevoller und menschenfreundlicher, oder resignierter und zynischer? Wird dies alles in der internationalen Politik mehr Zuflucht zu Gewalt und Härte bedeuten oder vielleicht doch ein neues Ernstnehmen derer, die an den Rand gedrängt und dem Elend überlassen werden? Was in den Herzen passiert, ist das Entscheidende.
Deswegen schützt uns nicht irgendein Parteiabzeichen oder eine Kirchenzugehörigkeit davor, dass wir mit dem Feind Gottes und der Menschen zusammenarbeiten. Es ist nicht egal, was wir politisch und religiös denken, aber das schützt uns noch nicht. Wenn der Kampf zuerst und zuletzt um die Herzen geht, dann ist der einzige Schutz ein Herz, das stark und lebendig im Guten verankert ist, in Gott, in der Liebe zum Leben. Religiöse Traditionen und andere Denktraditionen können eine gute Hilfe sein, aber sie können uns alle auf falsche Wege führen, wenn in uns keine Liebe zum Leben ist. Wenn wir an unseren Denkgewohnheiten und Traditionen hängen, werden sie uns irgendwann in die Irre führen, aber wenn wir zuerst und zuletzt an Gott selbst hängen, dann können wir Denkwege hinter uns lassen, wenn sie lebensfeindlich werden.
Ich las neulich davon, wie jemand von einer Begegnung mit einem hochrangigen schwarzen südafrikanischen Politiker erzählte, der ihn zutiefst beeindruckte. Ein Mann, der souverän die Geschichte seines Volkes in die Weltgeschichte einordnen konnte und genau beschrieb, was sich ändern muss, damit ein versöhntes Zusammenleben von Schwarz und Weiß möglich wird. Und er schreibt: »Als dieser Mann von seinem Glauben an Jesus Christus sprach, spürte ich sein tiefes Vertrauen, Güte und Barmherzigkeit, Mitgefühl und Vergebung.« Später fragte er ihn: Wo haben Sie eigentlich studiert? Und die Antwort war: »ich habe das Leben studiert auf Robben Island«.
Robben Island war eine südafrikanische Gefängnisinsel, wo während der Apartheid schwarze Führungskräfte gefangen saßen, der berühmteste von ihnen war Nelson Mandela. Und dann erzählte dieser schwarze Politiker: »Als wir nach Robben Island kamen, waren wir voller Wut und Hass, bereit jeden Weißen zu töten, der uns über den Weg lief. Im Gefängnis verloren wir unsere Namen, unsere Identität. Für die Aufseher mit ihren Gewehren im Anschlag waren wir nichts als Nummern. Jeden Morgen wurden wir durch das Tor zum Steinbruch hinausgetrieben. Tagsüber waren wir fremdbestimmt. Aber die Abende und Nächte gehörten uns. Dann setzten wir uns zu den alten Männern und hörten ihnen zu. Sie erzählten aus ihrem Leben, von ihren Träumen für die Zukunft Südafrikas. Sie brachten uns ihre Stammessprachen bei. Nelson Mandela lehrte uns und das war das Wichtigste dass wir zum Scheitern verurteilt wären, solange wir unseren Feind hassten. Hasst seine Politik, sagte er, hasst das Böse, das ihr zugrunde liegt, hasst die Gesetze, die euch ins Gefängnis gebracht haben. Aber hasst nie den Menschen. Denn dieser Hass wird euch kraftlos machen.« »Und sie haben aufgehört zu hassen?« fragte der Gesprächspartner den Mann. Die Antwort war: »Nicht sofort. Es dauerte etwa fünf Jahre, bis ich vergeben konnte … fünf Jahre der Unterweisung durch jene alten Männer. Aber als ich endlich so weit war, wurde ich ein anderer Mensch. Ich wusste, dass ich vergeben hatte, als ich zum Abendmahl gehen und den Aufseher bitten konnte, seine Waffe niederzulegen und mit mir zum Altar zu kommen, um Brot und Wein in Empfang zu nehmen. Das ist die Antwort auf Ihre Frage das war meine Lebensschule.«
Liebe Freunde, so etwas bekommt man nicht umsonst. Dieser Mann hat dafür bezahlen müssen mit fünf Jahren seines Lebens, mit harter Zwangsarbeit, mit einem Leben als Nummer, all seiner Rechte beraubt und abgeschnitten von der Außenwelt. Aber mitten in diesem Elend wurde seine Seele stark und besann sich auf ihre ursprüngliche Bestimmung: ein Ort zu sein, wo Gott wohnen kann. Und dann kann so ein Mensch für viele zum Segen werden, vielleicht sogar für ein ganzes Volk.
Wir müssen jetzt nicht darüber nachdenken, ob wir wohl bereit wären, diesen Preis dafür zu bezahlen. Für uns steht so etwas wie Robben Island im Moment nicht an. Aber das ist doch wohl deutlich, dass so eine Verankerung in Gott nicht einfach so mal kommt, durch einen kurzen Entschluss oder ein schnelles Gefühl. So etwas wächst, und es geht nur, wenn einem das wirklich wichtig ist und wenn man in Verbindung mit anderen steht, von denen man lernt oder mit denen man gemeinsam lernt. Und es braucht seine Zeit.
Wenn wir also darüber nachdenken, wie wir unser Herz davor schützen können, ein Opfer des Bösen zu werden, dann müssen wir sagen: indem wir Zeit und Energie und Aufmerksamkeit dafür einsetzen, das Gute immer mehr kennenzulernen, es zu tun, wo es eine Gelegenheit gibt, Gott kennenzulernen, dort immer fester verankert zu sein. Dann werden wir im Laufe der Zeit so etwas wie einen Instinkt bekommen, der uns spüren lässt, wo es in die dunkle Richtung geht. Dieser Satz »lass dich nicht vom Bösen besiegen«, der geht ja noch weiter. »Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege Böses mit Gutem«. Das Evangelium konzentriert sich nicht auf das Böse, nicht auf den Kampf gegen etwas, sondern es konzentriert sich auf unsere Verankerung im Guten. Deshalb lässt es uns nicht ohnmächtig zurück nach so einer Manifestation des Todes wie in New York. Das ist ja eine der schlimmsten Wirkungen von solchen Ereignissen, dass wir uns ohnmächtig fühlen, dass wir nicht wissen, wie wir dem begegnen sollen, und dann hören die Menschen auf die, die Vergeltung und rasche Militärschläge fordern, weil das das einzige zu sein scheint, was man machen kann.
Aber wenn wir wissen, dass es zuerst und zuletzt um unsere Herzen geht, dann sind wir nicht ohnmächtig. Das Böse ist zwar immer und überall, aber der Schritt zum Guten eben auch. Wenn wir Gottesdienst feiern, wenn wir uns zum Beten und Wachsen in der Wahrheit versammeln, wenn wir unser Herz für die Wahrheit Gottes öffnen und natürlich auch handeln, wo es nötig ist, dann ist der Böse zutiefst getroffen. Das schmerzt ihn am Allermeisten.
Der Pastor einer großen amerikanischen Gemeinde hat seinen Gemeindegliedern und Mitbürgern deshalb in der vergangenen Woche geschrieben: »Betet für die Opfer und die Hinterbliebenen, spendet Blut, aber denkt nicht darüber nach, das Blut anderer zu vergießen.«
Es ist möglich, dass wir in der Weltpolitik jetzt blutigen Zeiten entgegengehen, dass noch mehr Eltern um ihre Kinder weinen werden, Ehepartner um einander, Freunde um Freunde. Es kann sein, dass die Spirale der Gewalt sich weiterdrehen wird, und dass auch unser Land in Gefahr steht, da hineingezogen zu werden. Das ist alles noch keine beschlossene Sache, aber möglich ist es. Aber den Kampf gegen das Böse kann man militärisch nicht gewinnen. Die entscheidende Antwort wäre weltweit mehr Gerechtigkeit, weniger Hunger, mehr Freiheit. Und auch eine Lebensperspektive für das palästinensische Volk, einen Platz, wo sie leben können wie andere Völker auch. Der Konflikt um Israel ist letztlich die Quelle, an der das alles seine Wurzeln hat. Aber wer eine Lebensperspektive vor sich hat, wird nicht so schnell zum Selbstmordattentäter. Erst wenn man auf der Erde nichts zu verlieren hat, wird das Versprechen attraktiv, nach einem Mord in den Himmel zu kommen.
Liebe Freunde, es kann sein, dass die Entscheidung zwischen Gut und Böse wieder viel stärker zu einer Entscheidung wird. Das ist doch bis jetzt so gewesen, dass man nicht allzu viel falsch machen konnte, wenn man es ungefähr so machte, wie alle anderen es auch machen. Halte dich ungefähr in der Mitte, treib es nicht allzu toll, im Guten nicht und im Bösen nicht, dann wirst du schon durchkommen.
Ich denke, diese Anschläge von New York sind ein Zeichen dafür, dass das langsam zu Ende geht. Wir werden immer öfter gezwungen sein, wirkliche Entscheidungen zwischen Gut und Böse zu treffen. Dass das Böse solche Dimensionen annimmt, das zwingt uns dazu. Dagegen kommt man nicht an mit ein bisschen Ehrlichkeit und Anständigkeit. Ehrlichkeit und Anständigkeit sind nicht schlecht, und man ist froh über jeden, der danach lebt, aber gegen dieses Kaliber von Bedrohung und Zerstörung, gegen diese kalte, menschenverachtende Energie ist das zu wenig. Der kann man nur standhalten, wenn man mindestens genauso tief in der Liebe Gottes verankert ist.
Es kann ja sein, dass sich alles wieder einigermaßen beruhigt. Der Golfkrieg war auch schrecklich, aber der ist schon wieder lange her. Vielleicht haben wir ja auch noch viele ruhige Jahre vor uns. Aber es kommt darauf an, diese Zeit zu nutzen. Der südafrikanische Politiker hat fünf Jahre auf Robben Island gelernt, und jetzt zahlt sich diese Schule hoffentlich aus für sein Land. Veränderung von Menschen braucht Zeit. Das ist nicht als Schnellimbiss zu haben. Gerade deshalb müssen wir anfangen. Wir müssen die Zeit nutzen, die uns gegeben ist. Um zu lernen, wie wir
- in Gott verankert sein können;
- die falschen Wege erkennen und verlassen;
- ein Ort werden, wo Gott wohnen kann;
- das neue Leben einüben, das Jesus gebracht hat — und darauf vertrauen, dass die Zeit kommt, wo das deutlich sichtbare Früchte trägt.
Das kann man immer tun, und das ist die entscheidende – und vernichtendste Antwort, die wir dem Bösen geben können.