Warum das Kreuz?
Besonderer Gottesdienst am 26. März 2017 mit Predigt zu Kolosser 2,12-15
»Warum das Kreuz?« ist ja eigentlich ein Karfreitags-Thema, aber die Passionszeit ist dafür da, dass wir diese Feiertage vorbereiten, damit wir nicht erst dann, wenn es soweit ist, anfangen, uns darüber klar zu werden, worum es da geht.
Das Kreuz ist das zentrale christliche Symbol, aber natürlich nicht als geometrisches Zeichen, sondern als Erinnerung an den grausamen Tod, den die Feinde Jesu ihm bereitet haben. Und die Christen haben immer gesagt, dass das kein dummer Zufall war, auch nicht der tragische Tod eines großen Mannes, sondern dass Jesus bewusst auf diesen Tod zugegangen ist. Jesus sah ihn als Schluss- und Höhepunkt seines ganzen Weges.
Warum ein entscheidender Moment?
Besonders krass sieht man das im Johannes-Evangelium, wo die Kreuzigung Jesu doppeldeutig als seine »Erhöhung« bezeichnet wird. In der Lesung werden wir einen Abschnitt hören, wo das vorkommt: wenn Jesus an das hoch aufragende Kreuz geschlagen wird, ist das gleichzeitig seine Erhöhung, also der Höhepunkt seines Weges, ja, sogar die entscheidende Aufrichtung seiner Macht.
Das muss jetzt für uns noch keinen Sinn ergeben – es reicht, wenn wir erstmal wahrnehmen, dass die frühen Christen jedenfalls überzeugt waren, dass in dem Moment, in dem Jesus seinen letzten mühsamen Atemzug tat, etwas Revolutionäres und Entscheidendes passierte. Die Welt war danach nicht mehr dieselbe wie zuvor.
Paulus zitiert z.B. im 1. Korintherbrief ein ganze frühes christliches Glaubensbekenntnis,
in dem gesagt wird: »Christus ist für unsere Sünden gestorben nach der Schrift«, also im Einklang mit den heiligen Überlieferungen Israels. Warum war das das entscheidende Ereignis? Und warum wird z.B. auch in der Abendmahlsüberlieferung als beinahe einzige Erklärung für den Tod Jesu gesagt, dass sein Blut »zur Vergebung der Sünden« vergossen wird? Woran dachten die Jünger Jesu und die ersten Christen, wenn sie diesen Begriff hörten? Warum werden durch Jesu Tod Sünden vergeben, und warum ist das so zentral?
Wurzeln in der Vergangenheit
Wenn wir das verstehen wollen, dann müssen wir die Schrift befragen, auf die hier ja ausdrücklich verwiesen wird. Und wir müssen tatsächlich ein ganzes Stück zurückgehen zu einer entscheidenden Datum in der Geschichte des Volkes Israel. Über 600 Jahre vor der Kreuzigung Jesu, im Jahre 587 vor Christus, eroberten die Babylonier Jerusalem und zerstörten es. Das war der entscheidende Bruch in der Geschichte Israels. Und die Einsicht setzte sich durch: das haben wir selbst verschuldet, weil wir uns vom lebendigen Gott abgewandt haben, weil wir nicht auf seine Propheten gehört haben, weil wir die Armen unterdrückt und eine arrogante, abenteuerliche Außenpolitik betrieben haben. Es ist die Folge unserer Sünden. Damals sind die Bücher der Propheten in die Bibel aufgenommen worden, weil ihre Warnungen sich als wahr erwiesen hatten.
Und es waren wieder die Propheten, die einen Neuanfang für das Volk verkündeten und den Menschen die Hoffnung gaben: Gott hat euch nicht vergessen. Allen voran der unbekannte Prophet, den wir im Jesajabuch ab Kapitel 40 hören. Er verkündete, dass die Strafe für die Sünden begrenzt war und nun zu Ende ging. Und tatsächlich, als der persische König Kyros 70 Jahre später Babylon eroberte, durften die Israeliten wieder zurück in ihr Land.
Ein ungelöstes Problem
Aber es war es war ein mühsames Leben dort zwischen Trümmern, und auf eine echte Erneuerung mussten sie immer noch warten, und zu Jesu Zeit, 500 Jahre später, warteten sie immer noch auf einen Neuanfang, obwohl inzwischen der Tempel glanzvoll wieder aufgebaut worden war. Aber sie lebten unter fremden Herren, erst die Griechen, dann die Römer, und die Verheißungen schienen in weite Ferne gerückt. Wieso waren die fremden Mächte so stark und das Volk Gottes so ohnmächtig? Warum schwieg Gott und sandte sein prophetisches Wort nicht mehr? Anscheinend standen ihre Sünden immer noch zwischen Gott und ihnen.
In dieser Situation behaupteten die Jünger Jesu, dass durch Jesus ein entscheidender Neuanfang geschehen war: er ist »für unsere Sünden gestorben«, so dass nun der Weg frei ist für eine neue Befreiung. Deswegen führte Jesus seinen Tod gerade am Passafest herbei, wo man die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei feierte. Da ist eine neue Befreiung von brutalen Tyrannen geschehen, und sie ist durch den Tod Jesu geschehen. Wie genau das funktioniert, dafür gab es unterschiedliche Vorstellungen, und auch wir werden nachher weiter darüber nachdenken. Aber die frühen Christen waren sich einig, dass durch das Kreuz das Entscheidende geschehen war. Denn die erste Konsequenz davon war die Auferstehung Jesu drei Tage später.
12 Mit Christus wurdet ihr in der Taufe begraben, mit ihm auch auferweckt, durch den Glauben an die Kraft Gottes, der ihn von den Toten auferweckt hat. 13 Ihr wart tot infolge eurer Sünden, und euer Leib war unbeschnitten; Gott aber hat euch mit Christus zusammen lebendig gemacht und uns alle Sünden vergeben.
14 Er hat den Schuldschein, der gegen uns sprach, durchgestrichen und seine Forderungen, die uns anklagten, aufgehoben. Er hat ihn dadurch getilgt, dass er ihn an das Kreuz geheftet hat. 15 Die Fürsten und Gewalten hat er entwaffnet und öffentlich zur Schau gestellt; durch Christus hat er über sie triumphiert.
In diesem Abschnitt aus dem Kolosserbrief stoßen wir wieder auf den Zusammenhang, den ich vorhin angesprochen habe: die Verbindung von Tod und Auferstehung Jesu und der Vergebung der Sünden. Wir stoßen aber auch auf neue Mitspieler: die »Fürsten und Gewalten«. Im Neuen Testament spielen die eine erhebliche Rolle: überpersönliche Machtzusammenballungen, die diese Welt beherrschen.
Eine Welt voller Mächte
Gerade das macht die Bibel so erstaunlich aktuell: wir heute erleben das ja sehr deutlich, dass unsere Gesellschaft von gewaltigen Machtzusammenballungen gesteuert wird, gegen die selbst mächtige Staaten kaum noch ankommen: an ihrer Spitze natürlich die gewaltige Masse an Kapital, das in Sekundenschnelle um den Erdball geschoben wird und und nach Orten sucht, wo es mit Gewinn investiert werden kann. Und nebenbei ruiniert es hier einen Staat und richtet dort eine Wirtschaftskrise an, stampft mal eben eine ganze neue Metropole wie Dubai aus dem Boden, wo vorher Wüste war, und bringt irgendwo anders Menschen um das Haus, in dem sie wohnen.
Das ist der Hintergrund, wenn unsere Bundeskanzlerin davon spricht, dass irgendetwas »alternativlos« wäre. Sie benutzt das Wort aber, glaube ich, inzwischen nicht mehr, weil sie damit zu viel über die innere Mechanik der Macht enthüllt hat, nämlich dass heute auch die Führer großer Staaten Getriebene sind, die oft nicht viel mehr tun, als sogenannte Sachzwänge auszuführen.
Der »Fürst dieser Welt« verliert
Die Mächte und Gewalten, die unsere Welt unter Kontrolle bringen möchten, haben heute eine Stärke, die zu Jesu Zeiten gar nicht vorstellbar war. Und in der Bibel wird gesagt, dass das nicht nur reine Sachzwänge sind, sondern diese Mächte haben eine Art Pseudo-Persönlichkeit, wir haben es mit Zombies zu tun, mit Untoten, die wir selbst zum Leben erweckt haben, mit Vampiren, die sich von unserer Lebenskraft nähren und davon immer stärker werden.
Der oberste dieser bösen Geister ist Satan, der Feind Gottes, der Versucher, der Fürst dieser Welt, und von dem haben wir vorhin in der Lesung (Johannes 12,20-33) gehört: Jesus sagt »jetzt wird der Fürst dieser Welt hinausgestoßen werden«. Jetzt, wenn ich gekreuzigt werde. Dann wird er die entscheidende Niederlage erleben.
Drei verknüpfte Themen
Das bedeutet: im Tod Jesu geht es um Vergebung der Sünden, und es geht um die Auseinandersetzung mit den Mächten und Gewalten, die unsere Welt scheinbar alternativlos unter Kontrolle haben. Und zu dieser Kombination gesellt sich hier im Kolosserbrief noch ein drittes Thema dazu: die Taufe, also das neue Leben, das in der Gemeinschaft mit Jesus beginnt. Das alles kommt im Kreuz Jesu zusammen, und wir müssen verstehen, wieso das so ist. Wie hängen die Vergebung der Sünden, die Entmachtung der bösen Mächte und das neue Leben zusammen? Und warum treffen sie sich ausgerechnet am Kreuz Jesu?
Was ist ein »Schuldschein«?
Versuchen wir, den Knoten aufzulösen! »Gott hat den Schuldschein, der gegen uns sprach, durchgestrichen und seine Forderungen, die uns anklagten, aufgehoben.« heißt es bei Paulus. Schuldscheine bringen dich in Abhängigkeit. Du bist nicht mehr Herr deiner Entscheidungen, weil du in der Vergangenheit eine Verpflichtung eingegangen bist, und die musst du erfüllen. Egal, wie das zu Stande gekommen ist, du hast es akzeptiert, und jetzt bist du nicht mehr frei.
Einem Haufen Ländern in der Welt ist das so gegangen und geht es bis heute so: irgend eine Regierung hat mal Kredite aufgenommen, die Verantwortlichen sind längst nicht mehr da und haben ihren Anteil an dem Deal in der Schweiz in Sicherheit gebracht, die Menschen haben von dem Kredit gar nichts gehabt, aber jetzt sollen sie die Schulden bezahlen. Ihnen wird die Gesundheitsversorgung gestrichen, ihnen werden Lebensmittel verteuert und die Renten gekürzt, die Häfen und die Schnellstraßen werden an Private verscherbelt. Sie bezahlen für Entscheidungen in der Vergangenheit. Es gibt einen Schuldschein gegen sie, und jetzt sind sie nicht mehr frei, über ihr Leben zu bestimmen.
Blockaden aus der Vergangenheit
Genau das war auch der Effekt in der Geschichte Israels, von der ich am Anfang erzählt habe: sie hatten sich von Gott abgewandt, und jetzt stand das zwischen Gott und ihnen. Sie konnten nicht einfach zurück in die Zeit davor. Sie waren nicht mehr frei, um ihren Auftrag auszuführen: nämlich als befreites Volk Gottes den anderen Völkern zu zeigen, wie man eigentlich leben soll. Sie hatten die Konsequenzen ihrer Abwendung von Gott tragen müssen, die babylonische Gefangenschaft. Die war zum Glück vorbei, aber immer noch waren sie blockiert von den alten Fehlentscheidungen von damals, den unvergebenen Sünden, die sie daran hinderten, ihre Berufung zu erfüllen.
Und an Israel wird ja nur deutlich, was der ganzen Welt passiert ist: Menschen füllen ihre Berufung nicht aus, weil sie sich vor langer Zeit von Gott abgewandt haben. Wir sollten eigentlich als Stellvertreter Gottes diese Welt in seinem Auftrag regieren. Wir sollten die königlichen Menschen sein, denen die Mächte der Welt gehorchen. Geld sollte eigentlich ein Mittel sein, mit dem wir die Welt gestalten, und keine Macht, die die Welt in immer neue Abgründe reißt.
Beschuldigungen machen schwach
Aber das ist verloren gegangen. Ohne Gott im Rücken fallen wir den Mächten zum Opfer, die uns eigentlich dienen sollen. Sie treiben uns vor sich her, weil wir ihnen die Tür aufgemacht haben, durch unsere Fehlentscheidungen. Fehlentscheidungen, Sünden, schwächen uns. Egal, ob es dabei um Geldforderungen oder moralische Forderungen geht: du bist etwas schuldig, und das macht dich unsicher und gibt dich in die Hand anderer.
Deswegen machen Menschen sich ja gegenseitig Vorwürfe: du bist schuld! Jeder Vorwurf ist sozusagen die Präsentation einer Rechnung, eines Schuldscheins: du hast dies und jenes getan, und deshalb bist du mir jetzt etwas schuldig. Ob der Vorwurf stimmt oder nicht, ist dabei ziemlich egal. Das lässt sich ja meistens auch gar nicht wirklich klären. Aber wer sich diesen Schuh anzieht oder anziehen lässt, der ist dran. Der muss Wiedergutmachung leisten. Vielleicht ist es mit einem Blumenstrauß und netten Worten getan, vielleicht muss er sich aber auch für den Rest des Lebens immer wieder daran erinnern lassen, wie unterirdisch sein Verhalten damals gewesen ist.
Das funktioniert aber nicht nur zwischen zwei Menschen, sondern diese Mechanismen funktionieren genauso gut in der öffentlichen Diskussion. Haben Sie mal darauf geachtet, wie es an ganz vielen Stellen um Vorwürfe geht, dass jemand oder eine Gruppe von Menschen irgendwie schuld sind und das anerkennen und wiedergutmachen sollen? Ganz viele versuchen, gegenüber anderen oder gegenüber der ganzen Gesellschaft einen Schuldschein in die Hand zu bekommen. Denn wer sich erfolgreich als Opfer darstellen kann, der hat einen Anspruch auf Ausgleich.
Mir geht es dabei nicht um die Frage, ob solche Ansprüche berechtigt sind. Manchmal sind sie es, manchmal nicht. Der ganze Mechanismus des Schuldaufrechnens ist das Problem. Das sorgt für jede Menge Verbitterung auf allen Seiten, es macht alle schwach, weil die einen wirklich schwach werden, wenn sie sich lange genug als Opfer darstellen, und die anderen werden unter den Anschuldigungen und Forderungen schwach und unsicher.
Mächte sind stark durch Schuld(en)
Die anonymen Mächte und Gewalten in unserer Welt leben davon, dass Menschen sich gegenseitig moralische Schuld und finanzielle Schulden zuschieben. Aber nun hat Gott den Schuldbrief durchgestrichen. Er hat die Forderungen für Null und nichtig erklärt, und damit den Mächten und Gewalten die Geschäftsgrundlage entzogen. Er hat den Weg dafür frei gemacht, dass Menschen wieder ihren Auftrag ausführen können, als Stellvertreter Gottes die Welt weise und gerecht zu regieren. Deswegen heißt es im Vaterunser: vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldnern: du vergibst uns, dass wir uns von dir abgewandt haben, wir erlassen den Griechen ihre Schulden. Das ist der Deal, und so können alle wieder auf neue Weise, frei und versöhnt, miteinander leben.
Aber was hat das mit dem Kreuz Jesu zu tun?
Das Ende der Schuld(en)
Jesus hat sein Leben lang darauf verzichtet, anderen Schuld anzurechnen und Forderungen zu stellen. Sogar als er gekreuzigt wurde, hat er daraus keinen Vorwurf gemacht, was ja leicht zu machen gewesen wäre. An ihm sind tatsächlich alle schuldig geworden. Und trotzdem hat er noch am Kreuz um Vergebung für seine Feinde gebeten. Ohne Gegenleistung und Vorbedingungen. Dadurch hat er bis zum Ende das neue Modell des Menschseins durchgehalten, das er gebracht hat. Sie haben es nicht geschafft, ihn in das System von Schuld und Vorwürfen hineinzubekommen. Sie haben ihm nicht ihre Geschäftsgrundlage aufzwingen können.Stattdessen hat er sichtbar gemacht, welche mörderischen Konsequenzen ihr System hat.
Im Kreuz bekommt das ganze Leid, das Menschen einander antun, einen Ort, an dem es sichtbar wird. Es wabert nicht mehr formlos als Unterströmung durch die Geschichte, sondern bekommt endlich einen angemessenen Ausdruck. Aber es wird so sichtbar, dass es nicht niederdrückt, sondern mit der Hoffnung auf eine neue Art des Menschseins verbunden wird, die Jesus auch am dunkelsten Ort der Welt nicht aufgegeben hat. Und in der Taufe werden wir mit dieser neuen Art des Menschseins in Verbindung gebracht. Wir werden da mit hinein gezogen.
Das Zeichen der Befreiung
Deswegen war für die ersten Christen das Kreuz keine dunkle Bedrohung, sondern das Zeichen des Sieges Gottes über die zerstörerischen Mächte; das Zeichen dafür, dass das Tor zu einem neuen Zeitalter aufgestoßen wurde, wo Menschen auf andere Weise leben können als zuvor.
Das Zeichen für diesen Neuanfang und gleichzeitig die erste Auswirkung des Kreuzes war die Auferstehung Jesu. Da verstanden sie: jetzt ist der Punkt gekommen, wo die Sünden vergeben sind und Gott mit seinem Volk einen neuen Anfang macht, großartiger und breiter, als sie es sich je erträumt hätten.