Jesus ist der Schlüssel zum Durchblick — gebraucht ihn! (Kolosserbrief III)
Predigt am 28. Oktober 2001 zu Kolosser 2,1-12
1 Es liegt mir daran, dass ihr wisst, wie sehr es bei diesem meinem Kampf um euch in Kolossä geht und auch um die Gemeinde in Laodizea und überhaupt um alle, die mich persönlich nicht kennengelernt haben.
2 Ich möchte, dass sie alle Mut bekommen und in Liebe zusammenhalten und dass sie zur ganzen reichen Fülle des Verstehens gelangen und Gottes Geheimnis begreifen, nämlich Christus. 3 In ihm sind alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen. 4 Ich sage das, damit euch niemand durch Überredungskünste hinters Licht führt.
5 Obwohl ich fern von euch bin, bin ich im Geist bei euch und freue mich zu sehen, wie fest ihr zusammenhaltet und wie unerschütterlich euer Vertrauen auf Christus ist. 6 Ihr habt Jesus Christus als den Herrn angenommen; darum lebt nun auch in der Gemeinschaft mit ihm und nach seiner Art! 7 Seid in ihm verwurzelt und baut euer Leben ganz auf ihn. Bleibt im Glauben fest und lasst euch nicht von dem abbringen, was euch gelehrt worden ist. Hört nicht auf zu danken für das, was Gott euch geschenkt hat. 8 Seht zu, dass euch niemand einfange durch Philosophie und leeren Trug, gegründet auf die Lehre von Menschen und auf die Mächte der Welt und nicht auf Christus.
9 In Christus allein wohnt wirklich und wahrhaftig die Heilsmacht Gottes in ihrer ganzen Fülle, 10 und durch ihn allein wird euch die Fülle des Heils zuteil, nicht durch irgendwelche anderen Mächte. Denn Christus ist das Oberhaupt jeder Macht und Gewalt im ganzen Kosmos. 11 Durch Christus seid ihr auch beschnitten worden – nicht am Körper, sondern so, dass ihr den ganzen Körper, sofern er unter der Herrschaft der Sünde steht, abgelegt habt. Dies geschah in der Christus-Beschneidung, 12 der Taufe. Als ihr getauft wurdet, seid ihr mit Christus begraben worden, und durch die Taufe seid ihr auch mit ihm zusammen auferweckt worden. Denn als ihr euch taufen ließt, habt ihr euch ja im Glauben der Macht Gottes anvertraut, der Christus vom Tod auferweckt hat.
Paulus kämpft. Das sagt er selber: ich kämpfe darum, dass ihr ein volles Bild bekommt von der Stärke und dem Potential, das ihr als Gemeinde Jesu in euch tragt. »Christus mitten unter euch, die Hoffnung auf Gottes Herrlichkeit« – so hat Paulus das kurz vorher zusammengefasst. Es geht ihm darum, dass die Gemeinde sich das nicht ausreden lässt, dass sie sich nicht aufschwatzen lassen, sie hätten doch bestenfalls eine Erkenntnis zweiter Wahl, für den Anfang vielleicht ganz gut, aber wenn man fortschreiten will und zur wirklichen, vollen Erkenntnis gelangen möchte, dann braucht man noch ganz anderes.
Es gab anscheinend da im Umfeld der Gemeinden von Kolossae und Laodicea Leute, die versuchten, den Christen zu sagen: was ihr da habt, das ist die Regionalliga, und da seid ihr ja auch ganz nett, aber wir, wir spielen in der Bundesliga, und jetzt wollen wir euch mal erzählen, was man alles tun muss, um ein richtiger Christ zu sein. Am Ende des Kapitels werden wir noch lesen, was die alles im Arsenal hatten: Engel und heilige Zeiten, Fasten und angeblich besondere Demut, Warnungen vor gefährlichen Dingen, von denen man sich fernhalten sollte, und Visionen, die zeigen, dass jemand irgendwie viel tieferen Kontakt zu Gott hat als die anderen.
Und Paulus hält es nicht aus, da zuzusehen, wie eine Gemeinde, die einen guten und lebendigen Anfang in Christus gemacht hat, plötzlich ins Schleudern kommt, weil andere ihr einreden: das ist doch zweitklassig, und sie womöglich in Sackgassen locken, wo sie ihre Vollmacht und ihr Leben tatsächlich verlieren.
Sie kennen doch wahrscheinlich alle das Märchen vom hässlichen Entlein: da wächst unter den Entenküken ein Küken auf, das ganz anders aussieht, das von den andern ausgelacht wird, weil es so hässlich ist, und es findet sich selbst auch hässlich und fragt sich immer wieder, warum es denn so anders ist als die anderen und es mag sich selbst nicht und wenn es im Wasser sein Spiegelbild sieht, dann schämt es sich. Und die anderen lernen alle fliegen, aber dieses Küken kriegt es nicht hin. Es hält sich für einen Missgriff der Schöpfung und würde alles tun, um so zu werden wie die anderen.. Aber ganz am Ende stellt sich heraus, dass das hässliche Entlein in Wahrheit ein Schwan ist, ein majestätischer schöner Schwan, der überhaupt keinen Grund hat zu Minderwertigkeitskomplexen, sondern viel beeindruckender ist als seine Stiefgeschwister, nur er hat halt ein bisschen länger gebraucht als die anderen.
Der Gemeinde in Kolossä versuchten Leute einzureden, sie sei eigentlich nur ein hässliches Entlein. Und wir kennen das auch von anderen Briefen, wie Paulus da immer massiv gegengehalten hat, wenn Leute einer Gemeinde so eine hässliche Entlein-Mentalität einreden wollten, nach dem Motto: nett, was ihr da macht, aber zum echten, richtigen, vollmächtigen Christentum gehört natürlich noch ganz was anderes.
Und Paulus hält dagegen und sagt: lasst euch davon nicht beeindrucken! Ihr seid auf dem richtigen Weg. Lasst euch nicht von großen Worten beeindrucken, die die geistliche Substanzlosigkeit bemänteln. Ihr müsst einfach nur eurer Sache treu bleiben. Ihr habt Jesus angenommen, jetzt lebt das. Und in Kapitel 3 wird er dann auch noch schreiben, wie das praktisch aussieht. Er sagt: ihr habt Christus, und damit habt ihr den Schlüssel zu aller Erkenntnis. Deshalb hat Paulus gleich am Anfang des Briefes dieses Lied zitiert über Jesus, in dem die ganze Welt geschaffen worden ist, und der das einzige Muster ist, nach dem die Puzzleteile der Schöpfung zusammenpassen. Er will den Christen in Kolossä Selbstbewusstsein geben: ihr seid es, die den Schlüssel zu den Geheimnissen der Welt in den Händen haben. Lasst euch das nicht ausreden, aber gebraucht diesen Schlüssel! »In Jesus sind alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen.«
Liebe Freunde, das stimmt auffallend. Geistesgeschichtlich gesehen, ist es kein Zufall, dass die moderne Wissenschaft auf christlichem Boden entstanden ist. Erst als die Welt durch das Christentum entzaubert war, als die Menschen nicht mehr in einem Baum einen Geist und in einer Quelle eine Elfe vermuteten, erst da war der Weg frei, um die Welt nüchtern und wissenschaftlich zu erforschen. Dass die moderne Wissenschaft auch wieder Gefährliches und Schlimmes anrichtet, weil sie sich von der Bindung an Jesus gelöst hat, das steht auf einem anderen Blatt. Paulus hat damals etwas völlig Richtiges geschrieben, ohne schon absehen zu können, wo das einmal hinführen würde. Der Schlüssel zu den Schätzen von Weisheit und Erkenntnis liegt in Christus verborgen.
Das letzte Wort ist aber eine Einschränkung. Diese Schätze sind verborgen. Jesus hat ja auch mal von einem verborgenen Schatz im Acker erzählt, den ein Mann bei der Arbeit findet. Was musste er machen, um den Schatz zu haben? Er musste alles verkaufen, was er hatte, um damit den Acker zu erwerben. Er musste sich ganz investieren, nur so bekam er den verborgenen Schatz. Ganz ähnlich ist die universale Erkenntnis, die in Jesus verborgen ist, nur zu erlangen, wenn wir uns mit unserem ganzen Leben auf ihn einlassen. Erst wenn wir anfangen, in der Nachfolge zu leben, dann erschließt sich der Reichtum Jesu.
Mit dieser Stelle ist ja nicht gemeint, dass Jesus Christus für alles zuständig sei, was Menschen wissen oder wissen können. Sonst müssten wir am Ende die Bibel auch als unkritisierbares Lehrbuch der Naturkunde und der Geschichte benutzen. Und es ist auch nicht gemeint, dass man nur genügend nachdenken muss über Jesus, um die Welt zu verstehen. Es gibt so viele Bücher über Jesus, in denen viele Richtigkeiten stehen, gegen die man eigentlich gar nichts sagen kann, außer: da weht einem nichts Lebendiges entgegen, da bewegt sich nichts, da ist keine Inspiration.
Nein, es ist gemeint, dass wir Christus erst dann verstehen, wenn wir anfangen, mit ihm zu leben und zu leiden. Dass Jesus der Sieger ist, dass lernt man erst, wenn man anfängt, selbst in dem Kampf zu kämpfen, den er begonnen hat, und in dem ein Paulus und viele andere Christen vor uns mitgekämpft haben. Dass Jesus ein zuverlässiger Schutz und Schild ist, dass merken wir nur, wenn wir ihn brauchen, vorher ist das Wortgeklingel. Wie die Abgründe des menschlichen Herzens aussehen, das kann man ein bisschen aus Büchern lernen, aber richtig verstehen wird man das erst, wenn man sich selbst aufgemacht hat, um in menschliche Herzen das Licht des Evangeliums zu bringen und Menschen beigestanden hat, die Dämonen zu besiegen, die dort lauern. Wie Jesus auch Herr ist über die Verstrickungen der Politik, das wird man erst erfahren, wenn man mit Furcht und Hoffnung daran Anteil nimmt.
Erkenntnis ist in der Bibel immer praktische Erkenntnis, ausgerichtet auf die Gestaltung der Nachfolge Jesu. Alles andere nennt Paulus »Überredungskünste, leeren Trug, Philosophie«. Warum ist das alles so leer? Weil es nicht wirklich etwas in der Welt bewegt, sondern ein Ornament ist, eine intellektuelle Verzierung. Ein Philosoph hat mal über seine Kollegen gesagt: »Die Philosophen haben die Welt nur unterschiedlich interpretiert, es kömmt aber darauf an, sie zu verändern.« Genau darum geht es Paulus. Das Evangelium hat das Potential, die Welt und die Menschen tiefgreifend zu verändern, die Dinge nicht so zu lassen, wie sie sind. Da werden Menschen frei und gesund, da gehen ganze Gesellschaften neue Wege, da ändert sich die Logik, nach der Menschen miteinander verbunden sind. Und Paulus warnt und sagt: tauscht das nicht ein gegen eine Weltanschauung, die behauptet, sie hätte den Durchblick, aber in Wirklichkeit bewegt sie nichts, sondern zeigt den Menschen nur, wie sie sich in die bestehenden Verhältnisse einfügen sollen. Vor so was müsst ihr doch keinen Respekt haben!
Mir fällt dazu ein, wie viele Menschen einen Heidenrespekt vor den Zeugen Jehovas haben und sie möglichst nicht in die Wohnung lassen, weil sie Angst haben, die könnten ihnen was aufschwatzen, und sie würden im Gespräch nicht dagegen ankommen. Und sie sagen: die setzen sich ein, was die alles tun für ihren Glauben! Und sie bewundern das, obwohl sie selbst das nie tun würden.
Wenn man aber irgendwann mehr in Jesus verwurzelt ist, dann wandelt sich das Bild. Dann sagt man: diese armen schwachen Leute, die die da losgeschickt werden mit eintrainierten Argumentationen, die sich nicht trauen, ihre vorgeschriebenen Denkpfade zu verlassen, die gar kein eigenes Verhältnis zur Bibel haben, zu Jesus Christus auch nicht – wie kann man nur diese Blockaden aufbrechen, damit die den lebendigen Christus finden? Damit sie nicht kostbare Zeit ihres Lebens in den Dienst von so einer merkwürdigen Sache stellen!
Aber das merkt man erst, wenn man selbst Jesus besser kennenlernt. Wir sollen wachsen in unserer Erkenntnis, damit wir Menschen und Situationen besser beurteilen können, damit die Gemeinde nicht immer wieder in diese Hässliche-Entlein-Mentalität zurückfällt, damit wir nicht auf jeden Blender reinfallen.
Die Gemeinde ist das Arrangement Gottes, mit dem er uns dazu bringen will, immer besseren Durchblick zu bekommen, die Welt und die Menschen immer besser zu verstehen. Deshalb schreibt Paulus: »Ich möchte, dass sie alle Mut bekommen und in Liebe zusammenhalten und dass sie zur ganzen reichen Fülle des Verstehens gelangen und Gottes Geheimnis begreifen, nämlich Christus.« Mitten in der Erörterung über Erkenntnis schreibt er von Mut und Liebe. Mut – damit meint er das Selbstbewusstsein, dass man nicht vor andern einknicken muss, die angeblich alles so viel besser wissen. Und Liebe deutet darauf hin, dass man in der Gemeinde gemeinsam lernt.
Die Schätze der Weisheit und Erkenntnis muss man gemeinsam auspacken, mit anderen Menschen, die sich auch auf diesen Prozess der Nachfolge und der Erneuerung des Lebens einlassen. Da erlebt man die Kämpfe anderer mit, da erlebt man, wie Jesus Sieger bleibt, manchmal erst nach langer Zeit, da lernt man zu unterscheiden zwischen echt und Schein, da kommt man miteinander in die Offensive und wird mit jedem durchdachten Schritt stärker. Das ist kein Hobby für Leute, denen ein Sportverein zu anstrengend ist, sondern das ist für Menschen, die wissen, wo der Schlüssel zur Welt liegt, und die lernen wollen, ihn richtig zu benutzen.
Wenn wir da nur nicht eingeschüchtert stehenbleiben, wenn wir nur an dieser Aufgabe dranbleiben, dann wird aus dem hässlichen Entlein der majestätische Schwan werden.