Die eigene Welt neu aufbauen
Predigt am 02. Januar 2011 zu Kolosser 2,24-29
24 Angesichts von all dem freue ich mich auch über die Nöte, die ich durchmachen muss, denn sie kommen euch zugute. Sie gehören zu den Bedrängnissen um Christi willen, die nach Gottes Plan noch ausstehen, und was ich davon an meinem eigenen Körper erleide, nehme ich damit dem Leib von Christus ab, der Gemeinde, 25 zu deren Diener Gott mich gemacht hat. Er hat mir nämlich in Übereinstimmung mit seinem Plan die Aufgabe anvertraut, euch seine Botschaft in ihrem ganzen Umfang bekannt zu machen. 26 In früheren Zeiten und für frühere Generationen war diese Botschaft ein Geheimnis, das Gott verborgen hielt; doch jetzt hat er es denen enthüllt, die zu seinem heiligen Volk gehören. 27 Ihnen wollte er zu erkennen geben, welch wunderbaren Reichtum für die nichtjüdischen Völker dieses Geheimnis umschließt. Und wie lautet dieses Geheimnis? »Christus in euch – die Hoffnung auf Gottes Herrlichkeit!«
28 Ihn, Christus, verkünden wir; wir zeigen jedem Menschen den richtigen Weg und unterrichten jeden Menschen ´in der Lehre Christi`; wir tun es mit der ganzen Weisheit, ´die Gott uns gegeben hat`. Denn wir möchten jeden dahin bringen, dass er durch die Zugehörigkeit zu Christus als geistlich reifer Mensch ´vor Gott` treten kann. 29 Das ist das Ziel meiner Arbeit; dafür mühe ich mich ab, und dafür kämpfe ich im Vertrauen auf Gottes Kraft, die in meinem Leben so mächtig am Werk ist.
Wenn du dich mit Christus auf den Weg machst, weißt du vorher nicht, wer du sein wirst, wenn du am Ende des Weges bist. Als Paulus Jesus begegnete und von ihm ziemlich ruppig gestoppt und auf einen neuen Weg gebracht wurde, da hat er sich sicher noch nicht vorstellen können, was alles auf ihn wartete: wie viele Gefängnisaufenthalte das bedeuten würde; wie oft er im Mittelpunkt von öffentlichen Konflikten stehen würde; wie viele schlaflose Nächte auf ihn warten, wie oft er nach dem passenden Argument suchen würde, das in einer verfahrenen Situation zur Klärung führt.
Jetzt, nach vielen Jahren und Jahrzehnten mit Christus, schaut Paulus zurück und sagt: ja, das war mein Weg, und das ist o.k. Das ist mein Job. Ich bin der Kundschafter der Christenheit, der überall da hin geht, wo noch keiner war und entdeckt, was Jesus dort tut. Und auch nach vielen Jahren ist das nicht leicht, aber ich habe jetzt verstanden, wozu das gut ist, und ich sträube mich nicht mehr dagegen. Einer muss es ja machen, und inzwischen weiß ich, dass das meine Aufgabe ist. Ja, das tut immer wieder weh, aber inzwischen kann ich mich sogar darüber freuen, dass ich mit all diesen Belastungen und Schmerzen dazu beitrage, dass die Umrisse des Evangeliums immer deutlicher und klarer zu erkennen sind.
Auch für einen wie Paulus ist das Evangelium ja nicht ein Lehrbuchsatz, den man einmal auswendig gelernt hat und dann immer wieder aufsagt. Das Evangelium ist eher wie ein Auftrag, bei dem man am Anfang noch gar nicht weiß, was auf einen wartet, und erst nach und nach herausfindet, was alles dazu gehört.
Vielleicht kennen einige von uns die Bourne-Filme mit Matt Damon. Im Advent sind die gerade alle noch mal im ZDF gelaufen. Die Grundgeschichte in diesen Filmen ist, dass ein Mann halbtot aus dem Mittelmeer gefischt wird und nicht weiß, wer er ist. Er hat sein Gedächtnis verloren. In seinem Körper stecken mehrere Kugeln, und außerdem ein kleines Lasergerät, das die Nummer eines Bankschließfachs in der Schweiz projiziert. Dieses Schließfach ist die einzige Verbindung zu seiner wahren Identität, sozusagen das Ende eines Seils, an dem er sich nun mühsam entlangtasten muss. Natürlich geht er in die Bank, und in dem Schließfach findet er eine Pistole, jede Menge Geld, und einen Haufen falscher Pässe, alle mit seinem Bild.
Und während er noch versucht, herauszufinden, in welchem von diesen Pässen denn nun sein echter Name steht, bekommt er es plötzlich mit einem Haufen sehr gefährlicher Killer zu tun, die alle nur eins möchten: ihn endgültig tot machen. Und das gibt dann unheimlich spannende Verfolgungsjagden, bei denen jede Menge Autos zu Schrott gefahren werden. Auf der anderen Seite werden ihm aber auch Menschen geschickt, die ihm helfen. Und im Lauf dieser Geschichte kommen nach und nach immer mehr Puzzleteile zusammen, und langsam entsteht ein Bild davon, wer er ist.
Er ist in Wirklichkeit ein Spezialagent des amerikanischen Geheimdienstes, der in der Ausbildung durch eine brutale Gehirnwäsche gegangen ist. Er hat schon viele Menschen getötet, aber irgendwann hat er das nicht mehr gekonnt. Und nun muss er sich Stück für Stück neu erfinden, er muss nicht nur herausfinden, wer er ist, sondern auch, wer er sein will. Am Anfang ging es für ihn nur ums Überleben, aber dann muss er sich Stück für Stück darüber klar werden, wie er die Welt sieht und wo er eigentlich hingehört. Er muss unter Lebensgefahr seine ganze Welt neu aufbauen, rekonstruieren. Irgendwann wird ihm klar, dass er davor nicht weglaufen kann, dass er nicht abwarten kann, was auf ihn zukommt, sondern dass er die Initiative ergreifen muss. Und ohne zu wissen, was er da lostritt, sorgt er mit dieser Suche nach seiner Identität dafür, dass lauter fiese Pläne von geheimdienstlichen Dunkelmännern scheitern.
Ich finde es faszinierend, wie in so einem gut gemachten Agentenfilm unter der Hand elementare Lebensfragen behandelt werden. Ich habe keine Ahnung, ob die Filmemacher wissen, wovon sie da wirklich erzählen. Aber das ist ein wunderbares Bild dafür, was mit Menschen geschieht, die von Christus berührt werden. Wer zu Jesus findet, der hat meistens auch erst nur so einen Punkt, an dem ihm das Ganze etwas sagt. Er hat erlebt, wie ein Gebet im entscheidenden Moment etwas bewirkt hat; oder aus einer bedrückenden Situation hat Gott ihm herausgeholfen; oder das Evangelium hat ihm geholfen, eine verwirrende Lage zu klären. Oder er hat an einem anderen etwas beobachtet, was ihn fasziniert hat und möchte wissen, was das ist. In Kolossä, in der Gemeinde, an die Paulus schreibt, haben sie ganz viel Gemeinschaft und Solidarität erlebt, die sie vorher nie gekannt haben. Ja, es gibt ganz viele Geschichten von Menschen, die an irgendeiner Stelle auf Gott gestoßen sind. Und dann ist die Frage: lassen sie es dabei bewenden, oder nehmen sie dieses Ende des Seils und tasten sich immer weiter voran?
Wenn wir das tun: dieses Tauende, das wir zu fassen bekommen haben, festhalten und uns vorarbeiten, dann passieren in der Regel mehrere Dinge: zum Einen handeln wir uns damit Probleme ein, auch wenn dann nicht unbedingt gleich Killer auf uns angesetzt werden; und zum anderen lernen wir durch diese Probleme, wer wir sind.
Nehmen Sie als Beispiel die drei Weisen aus dem Orient, von denen wir vorhin im Evangelium gehört haben. Die haben zuerst nur ein Tauende in der Hand, nämlich den Stern, den sie gesehen haben. Aber sie greifen zu, sie machen sich auf die Reise und tasten sich weiter vor. Ganz naiv gehen sie auf der Suche nach dem neuen König in den Herodespalast in Jerusalem. Und sofort werden sie in Intrigen verwickelt, die sie gar nicht überschauen. Von Haus aus wären sie ja eher königstreu – da, wo sie herkommen, ist es völlig selbstverständlich, dass der König immer Recht hat, dass er göttliche Eigenschaften hat und sein Wort immer richtig ist. Aber diese Reise mit dem Stern verändert sie allmählich, und am Ende widersetzen sie sich dem Auftrag des Königs, sie wechseln die Seiten und vermutlich ist es ihr Gold, mit dem die Flucht Jesu nach Ägypten finanziert wurde.
Paulus hat das selbst erlebt, wie in ihm nach und nach eine neue Identität gewachsen ist. Das war nicht alles gleich am Anfang fertig da, sondern das ist nach und nach gewachsen. Und es sind gerade die Stresssituationen gewesen, durch die er die größten Schritte voran machen musste. Es ist doch kein Zufall, dass so viele seiner Briefe im Gefängnis entstanden sind. Oder in einer Situation des Konflikts, als es so aussah, als ob ganze Gemeinden kippen könnten und irgendwelchen Rattenfängern in die Hände fallen. Aber jedesmal hat er dadurch Jesus wieder ein Stück besser kennen gelernt. Und wir, wenn wir seine Briefe lesen, nehmen teil an diesem Lernprozess.
Das ist so ähnlich wie mit Dietrich Bonhoeffer, der im Gefängnis, in seinem letzten Lebensjahr, noch einmal ganz umwälzende neue Dinge geahnt hat, und auf abenteuerlichen Wegen sind seine Notizen heraus geschmuggelt worden, und so können wir heute diese Gedanken teilen, ohne selbst erst im Gefängnis landen zu müssen. Es gibt diese Pioniere wie Paulus oder Bonhoeffer und viele andere, die unter Mühsal und Schmerzen durchgebrochen sind zu einer neuen Erkenntnis, die dann von der ganzen Christenheit geteilt werden kann. Einer hat es auf sich genommen, in diese ganze Dunkelheit hineinzugehen und da Christus zu finden, und das hat sein Weltbild entscheidend verändert, und jetzt lässt er uns daran Anteil haben. Und der alten Paulus, der wieder einmal im Gefängnis sitzt, der schaut zurück und sagt: ja, so ist es immer gewesen, es wundert mich gar nicht mehr, es ängstigt mich gar nicht mehr so stark, inzwischen freue ich mich stattdessen, weil ich weiß, dass ich hier im Gefängnis genau an der vordersten Front bin und Gott mich hier haben will, um einen Durchbruch zu schaffen, durch den dann viele andere nachkommen können. Und deshalb geht voran und versteht, dass Christus das innerste Geheimnis der Welt ist und dass ihr ihn überall finden könnt und so immer reicher werdet in eurer neuen Identität. Ihr werdet Stück für Stück eure Welt neu rekonstruieren.
Und nun sind wir weder Paulus noch Bonhoeffer, wir sind nicht Kaspar, Melchior und Balthasar und auch nicht Matt Damon, aber irgendwann und irgendwo werden wir auch gerufen, uns weiter voran zu tasten an diesem Tauende, das wir zu fassen bekommen haben. Wir sollen es nicht einfach festhalten und froh sein, dass wir es haben, sondern wir sollen voran gehen, auch wenn es dunkel ist und wir nicht wissen, wo es uns hinbringt. Keine Angst davor! Gott will es so, dass wir mit unseren ungeschickten Schritten in die Situationen kommen, wo er uns haben will. So wie Matt Damon mit viel Mut in unbekannte Situationen hineingeht und sich darauf verlässt, dass er sich irgendwie zu helfen weiß, oder dass jemand da ist, der ihm unerwartet hilft (und er wird nicht enttäuscht!), so sollen wir uns darauf verlassen, dass wir zur richtigen Zeit die richtige Eingebung bekommen und diese Situation bewältigen können, oder dass wir unerwartete Hilfe bekommen, und dass so Gottes Reich ausgebreitet wird, im Großen oder im Kleinen.
Und wir sollen verstehen, dass das die christliche Normalsituation ist. Es ist normal, unter Druck zu geraten und dann unter diesem Druck durchzubrechen zu etwas Neuem, das wir sonst nie entdeckt hätten. Es ist normal, unter Mühe und Schmerzen Jesus von einer neuen Seite zu entdecken oder ihm an einem unbekannten Ort neu zu begegnen. Es ist nichts, was wir uns spontan wünschen würden, aber es christliche Normalität. Wie gesagt, nicht jeder macht diese Spitzenerfahrungen, nicht jeder kann so viel Druck aushalten wie ein Paulus, da gibt es eine Arbeitsteilung im Leib Christi, aber in dieser Grundbewegung, uns aktiv immer weiter voranzutasten, unseren Teil der Welt von Jesus her neu zu entdecken, unsere Welt von Jesus her aktiv zu rekonstruieren, in dieser Grundbewegung sollen wir alle drin sein. Und als Grundvermutung sollten wir schon festhalten, dass wir mehr ertragen und meistern können, und dass es mehr Hilfe gibt, als wir meinen.
Wie oft haben wir das auch schon hier bei uns in der Gemeinde erlebt, dass wir etwas naiv angefangen haben, und wir haben nicht geahnt, wohin uns das führen würde. Als wir im letzten Jahr den Dr. Hagencord eingeladen haben, damit er uns etwas über die christliche Sicht für die Tiere erzählt, da haben wir nicht gewusst, was das alles nach sich zieht, dass wir in der Zeitung stehen und mit welchen Leuten wir zusammentreffen würden. Ich habe nicht geahnt, dass ich dann mal mitten in der Landwirtschaftszentrale in Peine sitzen würde und da etwas von Jesus erzähle und verstehe, wie es aussehen kann, wenn Menschen frei werden von den Mächten dieser Welt.
Mit Jesus entdeckt man neue Welten, wo man sonst nie hinkommen würde. Und es gibt auch in unserem Land genug weiße Flecken, die noch zu entdecken sind. Und jedes Mal, wenn wir uns darauf einlassen, werden wir andere Menschen.
Das sind alles nur ganz kleine Schritte, wenn wir uns mit den Menschen der Bibel vergleichen. Aber es ist diese Richtung, in die sie uns einladen. Es ist der Weg, auf dem sie uns vorangegangen sind, damit wir nachkommen. Und sie schicken uns von dem Ort aus, an den sie gekommen sind, eine wichtige Nachricht: macht euch auf den Weg, habt keine Angst, der Einsatz lohnt sich; wir jedenfalls sind froh, dass wir nicht zurückgeschreckt sind und diese Gelegenheit genutzt haben.