Echt peinlich!
Predigt im Besonderen Gottesdienst am 18. März 2001 zu Johannes 21,7.15-17
In diesem Besonderen Gottesdienst waren zwei Theaterszenen zu sehen: Die eine zeigte eine Szene, in denen die Personen Peinlichkeiten jeder Art anscheinend überhaupt nicht wahrnahmen; die andere war eine moderne Version der Geschichte vom Versagen des Petrus vor der Kreuzigung Jesu.
7 Als Simon Petrus das hörte, warf er sich das Obergewand über, band es hoch und sprang ins Wasser. Er hatte es nämlich zum Arbeiten abgelegt. … 15 Nachdem sie gegessen hatten, sagte Jesus zu Simon Petrus: »Simon, Sohn von Johannes, liebst du mich mehr, als die hier mich lieben?« Petrus antwortete: »Ja, Herr, du weißt, dass ich dich liebe.« Jesus sagte zu ihm: »Sorge für meine Lämmer!« 16 Ein zweites Mal sagte Jesus zu ihm: »Simon, Sohn von Johannes, liebst du mich?« »Ja, Herr, du weißt, dass ich dich liebe«, antwortete er. Jesus sagte zu ihm: »Leite meine Schafe!« 17 Ein drittes Mal fragte Jesus: »Simon, Sohn von Johannes, liebst du mich?« Petrus wurde traurig, weil er ihn ein drittes Mal fragte: »Liebst du mich?« Er sagte zu ihm: »Herr, du weißt alles, du weißt auch, dass ich dich liebe.« Jesus sagte zu ihm: »Sorge für meine Schafe!
Das Beeindruckendste an all den Peinlichkeiten ist für mich, dass wir uns meistens für die falschen Sachen schämen. Die Peinlichkeiten, die uns am meisten beeindrucken, sind normalerweise nicht die entscheidenden Punkte. Sie sind ein Hinweis darauf, dass etwas nicht in Ordnung ist, aber nicht mehr.
Jeder von uns hat ja seine speziellen Dinge, für die er sich schämt. Aber das sind meistens nicht unbedingt die Punkte, die auch den anderen ein Problem sind. Man kann andere schamlos ausnutzen, kann sich Dinge leihen, sie nie zurückgeben und deswegen nie ein schlechtes Gewissen haben, und gleichzeitig kann man sich wegen einigen Pickeln, die anderen überhaupt kein Problem sind, kaum noch unter Leute trauen. Wegen drittrangiger Sachen grämen wir uns zutiefst, und die wirklich problematischen Dinge an uns übersehen wir.
Unser Gefühl für Peinlichkeit ist nicht sehr realitätstüchtig, aber in diesem Gefühl drückt sich die Ahnung aus, dass etwas nicht stimmt. Das Gefühl der Peinlichkeit, oder etwas grundsätzlicher ausgedrückt: unsere Bereitschaft, uns für alles Mögliche zu schämen, sind einer von vielen Hinweisen darauf, dass wir unsere Bestimmung verfehlen. Aus der engen Beziehung zu Gott, für die wir mal geschaffen wurden, sind wir herausgefallen, und das schlägt sich eben auch in unserem Gefühlsleben nieder, u.a. in diesem Gefühl des Peinlichen. So wie Adam sich vor Gott versteckte, nachdem er vom verbotenen Baum gegessen hatte, so befällt uns auch immer mal wieder der Wunsch, fünf Meter tief in der Erde zu versinken. Aber auch das Gefühl für Peinlichkeit ist nach dem Sündenfall aus dem Gleichgewicht gekommen – wen wollte das wundern?
Uns ist geblieben so eine Art allgemeine Verunsicherung, die an allen möglichen Punkten abrufbar ist. Wir schämen uns leicht, wenn es um unseren Körper geht, um unseren Erfolg oder Misserfolg, um unser vorhandenes oder nicht vorhandenes Geld, um unsere Fähigkeiten allgemein, und wenn wir etwas falsch gemacht haben, wirklich oder angeblich, und wenn wir irgendwo sind und nicht wissen, wie wir uns benehmen sollen. Besonders peinlich sind immer alle Dinge, wo wir uns von den anderen unterscheiden. anscheinend ist es beruhigend, wenn man so ist wie viele andere – ganz falsch kann man dann ja wohl nicht liegen.
Das bedeutet: weil wir kein so gutes Gespür mehr für Gott und seinen Willen haben, deshalb orientieren wir uns stark an dem, was alle tun. So ein bisschen werden damit die anderen zu Gottesvertretern. Und wenn wir vor vielen anderen etwas tun sollen, öffentlich etwas vorführen sollen, dann sind wir eben entsprechend aufgeregt vorher. Und vor allem fällt es uns besonders schwer, unter Beobachtung anders zu sein, abzuweichen von dem, wie es angeblich alle machen.
Das hat seine Berechtigung, weil meistens das, was alle machen, nicht ganz falsch ist – es ist selten, dass eine ganze Gesellschaft sich gemeinsam auf einen ganz falschen Weg macht. Aber das, was alle machen, ist doch auch wiederum meistens nicht ganz richtig, an vielen Punkten doch ziemlich daneben und oft auch ziemlich grausam, und manchmal gehen tatsächlich ganze Völker schreckliche Wege, wo man eigentlich nur noch laut »Nein« sagen kann.
Es gehört zu den Zeichen einer fortschreitenden Verankerung in Gott, wenn wir unabhängiger werden von der Orientierung an den anderen und stattdessen sicherer darin werden, uns stattdessen an Gott zu orientieren. Dann brauchen wir keine Ersatzgötter mehr, sondern orientieren uns am Original. Und das hat auch den weiteren Vorteil, dass dadurch das Gefühl der Peinlichkeit an Macht und Einfluss verliert im Kräftespiel unserer Seele. Dies Gefühl ist ja eine unklare Spiegelung der Tatsache, dass wir aus der engen Verbundenheit mit Gottes Willen herausgefallen sind. Wenn sich das ändert, dann wird auch diese unklare Spiegelung ihre Kraft verlieren.
In dieser Geschichte zwischen Petrus und Jesus, da wird dem Petrus ja seine Befangenheit auf sehr angemessene Weise genommen. Es wird nicht ignoriert, dass Petrus versagt hat – deshalb die dreifache Frage: hast du mich lieb? Es gibt ja Anlass, das zu fragen. Aber gleichzeitig gibt es auch eine dreifache Neubeauftragung für Petrus, das bedeutet einen dreifachen Vertrauensbeweis. Und außerdem ist das Ganze eingebettet in ein persönliches Gespräch, und das Thema dieses Gesprächs ist eben die Liebe, die Gemeinschaft zwischen den beiden. Indem nach der Liebe des Petrus zu Jesus gefragt wird, wird ja vorausgesetzt, dass die Liebe Jesu zu Petrus sich nicht geändert hat.
D.h., Jesus bewältigt auf sehr angemessene Weise die Störung im Verhältnis zwischen Petrus und ihm. Und das geht, weil auch Petrus immerhin seinen Teil dazu beiträgt. Er kommt von selbst und mit großer Entschlossenheit zu Jesus. Er ist offensichtlich davon überzeugt, dass Jesus dieses Problem in der Beziehung zwischen ihnen lösen wird. Darin unterscheidet sich Petrus fundamental von Adam. Adam hat sich vor Gott versteckt. Petrus läuft hin zum Sohn Gottes. Der Unterschied liegt daran, dass Petrus durch Jesus Gott besser kennt:
- Adam rechnet damit, dass Gott ihn für seine Tat verurteilen wird, wie es ja auch angemessen wäre.
- Petrus rechnet damit, dass Jesus ihm helfen wird, das alles wieder in Ordnung zu bringen, wie er es ja von Jesus kennt.
Das bedeutet, wer Jesus kennt, lebt nicht mit der Befürchtung, dass er bestimmt noch zur Verantwortung gezogen wird, sondern mit dem Grundgefühl, dass da jemand ist, der ihm beistehen wird. Und zwar einer, vor dem er sich nicht verstecken muss, weil der ihn sowieso durch und durch kennt. Und dieses Grundgefühl wirkt sich dann eben auch in der Seele aus, die Gewichte verschieben sich, und der Einfluss der Peinlichkeit nimmt ab.
Man kann sich das vielleicht klarmachen an der Funktion, die bei uns etwa ein Arzt hat. Der ist zuständig für diesen sensiblen Bereich unseres Körpers, wir können mit ihm über intime Dinge sprechen, obwohl er eigentlich ein Fremder ist, er sieht uns nackt, und das ist uns – sagen wir mal: wesentlich weniger peinlich – als bei anderen. Und wir haben das Zutrauen, dass er uns nicht für unsere falsche Lebensweise verurteilen wird, sondern uns helfen wird, die Gesundheitsprobleme zu lösen (am liebsten natürlich so, dass wir auch weiterhin ganz problemlos ungesund leben leben können).
Wir wissen, dass nicht jeder seinem speziellen Arzt so vertrauen mag und dafür auch sicher seine Gründe hat, aber in dieser Rolle des Arztes spiegelt sich etwas von der Art Gottes wieder. Und ein guter Arzt, der auch menschlich gut ist, der wird uns tatsächlich etwas weitergeben von Gottes Gnade und Freundlichkeit, und auch das wird, ganz unabhängig von Pillen und Salben, entscheidend zu unserem Wohlbefinden beitragen. Übrigens: Gott erlebt es wie ein Arzt auch immer wieder, dass wir seine Hilfe suchen, aber unsere schädlichen Gewohnheiten am liebsten beibehalten würden.
Wenn das Bewusstsein von der Barmherzigkeit und Hilfe Gottes zu unserem Lebensgefühl wird, dann vermindert sich die Kraft der Peinlichkeit in unserem Leben. Vor allem wird dieses unangenehme Gefühl dann zielgenauer. Peinlichkeit ist ja ganz diffus, peinlich kann uns sogar etwas an sich Gutes sein, wenn andere es sehen und es nicht gut finden. Da ist wahrscheinlich ein gewisser Unterschied zwischen Scham und Peinlichkeit: Wer sich schämt, weiß meistens etwas genauer, wofür er sich schämt. Obwohl man sich natürlich auch für Dinge schämen kann, für die man gar nichts kann, z.B. seine Herkunft.
Aber wenn dieses Gefühl durch Jesus geheilt wird, dann ist es ein wertvolles Instrument zur Orientierung, dann wird ein Frühwarnsystem daraus, das rechtzeitig Alarm schlägt, wenn wir in eine dumme Sache hineingeraten. Sich zu schämen und unsicher zu sein, ist keine christliche Tugend, aber die Geister rechtzeitig unterscheiden zu können, auch in der eigenen Seele, das ist wichtig.
Dann merken wir rechtzeitig, dass wir uns von Jesus entfernen. Bei Petrus war die Spanne zwischen seinem Versagen und der Reaktion (»was habe ich getan«) schon ziemlich kurz. Ich bin mir sicher dass Petrus später so weit war, dass ihn sein Gefühl schon vorher gewarnt hat, bevor er in Gefahr war, zu versagen.
Zu den vielen guten Dingen, die Jesus in unser Leben bringt, gehört auch die Freiheit von Scham und Unsicherheit. Gott ist nicht so, dass es ihm darauf ankäme, uns zu verurteilen. Es geht ihm darum, uns aus Sackgassen herauszuholen und uns neue Wege zu ermöglichen. Er will in uns eine natürliche Selbstsicherheit wachsen lassen.
Die wird z.B. deutlich daran, dass jemand sich nicht schämt, zu Jesus zu gehören. Schon Jesus kannte die Menschen, die sich seiner schämen: »38 Wer sich aber meiner und meiner Worte schämt unter diesem abtrünnigen und sündigen Geschlecht, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er kommen wird in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln. (Mk 8,38)« Das ist die Beschreibung von Menschen, die sich schämen, wenn sie anders sind als die anderen. Und es gibt bis heute so viele verschämte Christen, die irgendwie im Tiefsten glauben, sie seien das Problem, und nicht die anderen, die dem Ruf Jesu nicht gefolgt sind.
Aber es ist gerade ein Zeichen der Zugehörigkeit zu Jesus, wenn diese Verunsicherung weicht. Man kann sich allerdings nicht vornehmen, sich nicht mehr zu schämen, es ist ja gerade das Kennzeichen des Sich-Schämens, dass es nicht steuerbar ist, das Rotwerden kann man sich nicht abgewöhnen. Aber je stärker man mit dem Weg Jesu verbunden ist, um so weniger empfindet man das als peinlich. Im Gegenteil, diese Sicherheit, die man dort gewinnt, wird sich dann auch in anderen Lebensbereichen bewähren.
Und wir werden frei sein von der Angst vor dem Versagen und sich-Blamieren, frei von dem Schauen auf das Urteil anderer. Wir werden dann nur noch darum besorgt sein, wie wir vor dem Einen dastehen, vor Gott, auf den es wirklich ankommt.